"Alles spricht für Perez, nicht nur sein Vertrag", betonte Red Bulls Motorsportchef Dr. Helmut Marko vor dem letzten Saisonrennen. Der zweite Rang in der Fahrer-WM soll kein K.O.-Kriterium des Mexikaners gewesen sein. Trotzdem: Nach 18 Jahren Teamgeschichte und elf gewonnenen Weltmeisterschaften gelang dem austro-britischen Rennstall zum ersten Mal der Doppelsieg. Selbst mit Sebastian Vettel und Mark Webber war ihnen das Kunststück nie gelungen. Dieser Schandfleck ist nun endlich weg.
Perez muss 2024 wieder zu sich finden
Also alles eitle Wonne bei Red Bull? Nein. Trotz allen Beteuerungen gibt es Ärger im Paradies - Perez gilt als angezählt. "Wir brauchen Checo wirklich. Er muss wieder zu sich finden", mahnt Christian Horner. "Nicht dieses Jahr, aber im nächsten muss er hervorragend abliefern!"
Mit einem so dominanten RB19 konnte sich Sergio Perez Fehltritte erlauben, ohne Red Bull die Konstrukteurs-WM zu kosten. Nichts garantiert, dass es 2024 so weitergeht und die Konkurrenz ein weiteres Jahr verschläft. 2024 wird das Schicksalsjahr für Perez. Und seine vielleicht letzte Chance in der Formel 1.
Ja, Red Bull ist 2023 scheinbar spielend Fahrer- und Konstrukteurs-Weltmeister geworden. Ein kurzer Blick auf die Punktestände verrät aber, dass Vize Sergio Perez damit nur bedingt zu tun hat. Von den 860 Zählern hat Max Verstappen mit 575 mehr als doppelt so viele beigesteuert.
Genug, um als einzelner Mann die Konstrukteurs-WM zu gewinnen. Und mit einem so dominanten (vielleicht dem dominantesten, wenn Lewis Hamiltons Aussagen Glauben geschenkt werden darf) Auto fast noch den zweiten Platz an eben diesen zu verlieren - gibt trotz aller Zugeständnisse der Red-Bull-Chefetage Raum für Bedenken.
"Er braucht zwei Desaster", analysierte Lewis Hamilton vor Las Vegas seine Chancen auf den Vizeweltmeistertitel. Genau da liegt das Problem: Das ist bei Sergio Perez nicht so abwegig. 2023 häuften sich diese Desaster. Beinahe jedes Qualifying ein Kreuzweg mit drei statt vierzehn Stationen, und was in Kurve eins ausgerechnet bei seinem Heimrennen passierte, ist vermutlich die Mutter aller Desaster.
Vor 400.639 hoffnungsvollen mexikanischen Fans im Foro Sol nach wenigen Sekunden ausgeschieden. Die Prügelei zwischen einem Checo-Anhänger und einem Tifosi dabei nur die Kirsche auf der Horror-Torte. Gruseliger als Halloween. "Ich hatte schon einige traurige Momente in meiner Karriere, aber dieses Rennen ist das traurigste. Vor allem, was das Endresultat betrifft", haderte der 33-Jährige, Minuten nach der Kollision mit Charles Leclerc.
Wenn schon nicht der WM-Titel, dann sollte ihm wenigstens einmal der Sieg beim Heimrennen vergönnt sein. Rubens Barrichello würde sogar lieber in Sao Paulo gewinnen als Weltmeister werden. Aber nach zwei Podestplätzen 2021 und 2022 sah Perez 2023 nicht einmal die Zielflagge.
Am Ende gab es doch zumindest so etwas Ähnliches wie ein Happy End, nur mit mehr Glitzer und 99 Prozent Show. In Las Vegas hieß es für Sergio Perez All in. Ein Happy End, nicht in der Heiratskapelle durch einen Elvis-Pfarrer, aber im roten Elvis-Anzug fixierte er mit P3 auf dem Strip den Vizeweltmeistertitel für sein Team.
In (fast) letzter Sekunde, zum erneuten Showdown in Abu Dhabi zwischen Red Bull und Mercedes als Reminiszenz an 2021 kam es nicht. Rechtzeitig zu Saisonende erlebte der 33-Jährige also eine Mini-Auferstehung. Fast P3 in Brasilien, fast P2 in Las Vegas, fast P3 in Abu Dhabi.
Duelle mit Ferrari und Mercedes, statt Haas und Alpine
Die verlorenen Plätze auf den letzten Metern wirkten allesamt unglücklich, aber zumindest kämpfte er wieder vorne im Feld, und nicht hinten mit Esteban Ocon und Nico Hülkenberg. "An den letzten vier, fünf Wochenenden haben wir große Schritte nach vorn gemacht", erklärt Perez. Seine Form erinnerte mehr an den verheißungsvollen Beginn der Saison, als er Max Verstappen die Stirn bieten konnte. 22 Rennen später hat er die Kurve gerade noch so gekratzt und 2023 halbwegs versöhnlich beendet.
Wie sein Negativ-Strudel seit Miami bewies, spielt die Psyche für den Mexikaner eine große Rolle bei seiner Performance. 90 Prozent, laut Christian Horner. Nach einer Serie an schlechten Ergebnissen litt Perez immer mehr an Selbstzweifeln, die Checo unnötige Risiken eingehen, Setup-Experimente wagen, sowie an Track Limits und Formel-1-unwürdigen Stewards verzweifeln ließen.
Der in 12 Saisonen gewachsene Fahrstil ließ sich doch nicht so einfach an Verstappens "Ich-kann-mit-allem-leben-und-bin-immer-schnell" anpassen. Im internen Qualifying- und Rennduell musste er sich 20:2 gegen den nun dreifachen Weltmeister und sieben Jahre jüngeren Teamkollegen geschlagen geben. Seine seit Juniorentagen bekannte Schwäche auf eine Runde wurde 2023 zur Guillotine. Neun Mal schaffte er es nicht in Q3, in Australien, Monaco und Katar startete Perez gar vom letzten Startplatz aus.
In Spa hat er das letzte Rennen aus der ersten Startreihe in Angriff genommen, während Max Verstappen rekordverdächtige zwölf Pole Positions holte. Perez holte seine zwei Poles im zweiten und vierten Saisonrennen, dazu kommen eine Sprint-Pole (und Sprint-Sieg) in Baku
Perez fängt sich mit neuem Red-Bull-Setup
Nichts schien mehr übrig vom heimlichen Helden der Formel 1, der mit 17 Jahren der jüngste Champion der britischen Formel 3 wurde. Der mit 18 Jahren als erster Mexikaner und jüngster Fahrer ein GP2-Rennen gewann. Der 2012 in Malaysia in seiner zweiten Formel-1-Saison sein erstes Podium einfuhr und sich mit Altmeister Fernando Alonso sogar um den Sieg duellierte.
Nach dem erneuten Tiefpunkt in Katar (im Sprint verunfallt, Start aus der Boxengasse, drei Track-Limit-Strafen und mit Ach und Krach als Zehnter einen einzigen Punkt geholt) verschanzte sich Perez in der Fabrik in Milton Keynes. Die für ihn zu niedrige Sitzposition im RB19 soll nicht allein daran schuld gewesen sein. "Wir wollten unbedingt herausfinden, warum ich es nicht schaffe, das Potenzial des Autos so auszuschöpfen wie Max", erklärt er.
Die gründliche Analyse ergab: Der falsche Ansatz im Setup-Dschungel gilt als Wurzel allen Übels. "Wir fanden heraus, dass wir in Sachen Abstimmung den falschen Ansatz gewählt haben!" Das britische Bootcamp zeigte seine Wirkung. "Ich habe meinen Fahrstil angepasst und beim Setup ist uns auch ein Durchbruch gelungen", freute sich Perez. Die Formkurve stieg nach dem Tief in Katar (P20 im Qualifying, P10 im Rennen) etwas an.
Aber nicht genug - weder für Red Bull noch für Sergio Perez. "Ein wirklich schwieriges Jahr", zieht der Vizeweltmeister Bilanz. Vermutlich sogar das Schwierigste seit seinem Formel-1-Debüt 2011. "Es hat gut angefangen, wir kämpften um die Meisterschaft. In Barcelona hatten wir dann ein so dominantes Auto, aber ich konnte es einfach nicht richtig abstimmen." Vor allem im Qualifying lief ab dann gar nichts mehr. Perez muss zugeben: "Es ist mir aus den Händen geglitten."
"Mein Selbstvertrauen war am Boden", hadert er. Kritik von allen Seiten hagelte auf den vierfachen Familienvater aus Guadalajara ein. "Aber ich habe es geschafft, zurückzukommen. Und später im Jahr konnte ich konstant an der Spitze mitkämpfen. Das war mein Highlight des Jahres." Der mexikanische Weg: Niemals aufgeben. Wie auf der Hinterseite seines Helmes eingraviert.
Perez gibt nicht auf
Den Traum der Formel 1 aufgeben liegt nicht in der Natur von Checo. Nicht, nachdem er mit 14 Jahren von Mexiko nach Deutschland gezogen ist, in einem Autobahnhotel wohnte und sich mit niemandem ordentlich verständigen konnte, weil er weder Deutsch noch gut genug Englisch sprach. Nicht, als er bei seinem Formel-1-Debüt 2011 zuerst das Rennen auf P7 beendete, und nachträglich aufgrund eines regelwidrigen Sauber-Heckflügels disqualifiziert wurde. Nicht, als er Lewis Hamiltons Platz bei McLaren einnahm, aber nach nur einer Saison wieder gefeuert und durch Kevin Magnussen ersetzt wurde.
Nicht, als er 2020 als erster Formel-1-Pilot dem Corona-Virus zum Opfer fiel und zwei Rennen aussetzen musste, im gleichen Jahr seinen Sitz (trotz gültigen Vertrags bis Ende 2022) nach sieben Jahren bei Force India/Racing Point an Sebastian Vettel abgeben musste. Nicht, als er ohne Stammplatz in der Königsklasse in Sakhir beim Start des Rennens verunfallte, ans Ende des Feldes zurückfiel und wider allen Umständen dort seinen ersten Sieg (und sein Cockpit bei Red Bull) einfuhr. Auch nicht in Abu Dhabi 2021, als er in einer fast aussichtslosen Lage Max Verstappen Schützenhilfe gab und zu seinem ersten WM-Titel verhalf. Und so auch nicht 2024. Bei seiner vielleicht letzten Chance in der Königsklasse. Zumindest bei Red Bull.
Perez muss diese letzte Chance nützen. Hart dementierte er die Gerüchte eines vorzeitigen Karriereendes. Priorität Nummer eins bleibt ein Cockpit beim österreichischen Energydrink-Hersteller. Im Notfall würde Checo aber auch zu einem anderen Team wechseln. Problem dabei: Es gibt keinen einzigen Präzedenzfall, bei dem sich ein Wechsel weg von einem Topteam mit einem übermächtigen Superstar-Teamkollegen ausgezahlt hat.
Ja, Gerhard Berger gewann nach seiner McLaren-Zeit mit Ayrton Senna jeweils noch ein Rennen mit Ferrari und Benetton. Ja, Rubens Barrichello kämpfte nach seiner Tortur mit Michael Schumacher bei Ferrari mit Brawn 2009 (teilweise) um den WM-Titel - aber das ist die Spitze der Fahnenstange. Mehr war nicht drin. Im Zweifel bei Valtteri Bottas nachfragen. Mit 33 Jahren hätte Sergio Perez theoretisch noch einige gute Jahre vor sich. Dort im Zweifelsfall bei Valtteri Bottas Ex-Teamkollegen Lewis Hamilton nachfragen. Der war bei drei seinem siebten Titel älter.
Ricciardo und Co: Die Gefahren für Perez
Gefahr droht vor allem in der eigenen Familie: Von hinten drängt vielleicht kein Teenager-Supertalent wie einst Max Verstappen auf seinen Red-Bull-Sitz, aber Daniel Ricciardo. Der Australier stellte von Anfang an klar, dass er bei AlphaTauri nicht gekommen ist, um zu bleiben und träumt noch immer vom Märchen-Karriereende beim A-Team. Nächstes Jahr bekommt der Honey Badger eine ganze Saison, um sein Talent zu zeigen, mit dem er zum achtmaligen Grand-Prix-Sieger wurde.
Nicht zu vergessen sein neuseeländischer Freund Liam Lawson. Oder ein Fahrer der Konkurrenz. Nicht Lewis Hamilton, aber an Lando Norris bekannte Red Bull mehrmals öffentlich Interesse. "Es wäre ein großer Verlust für die Formel 1 gewesen, wenn er damals ausgestiegen wäre", meint Christian Horner zum Beinahe-Karriereende seines Schützlings 2020. Ein Verlust wäre es auch 2024.
Auch abseits der Strecke, Stichwort Merchandise-Artikel: Ein Drittel der verkauften Red-Bull-Souvenirs geht nach Lateinamerika. Der mexikanische Nationalheld ist sehr beliebt - nicht nur bei Fans, auch im eigenen Rennstall. "Red Bull und Checo haben einem Land Flügel verliehen", meint sein Vater Antonio 'Papa' Perez, ganz d'accord mit dem Team-Motto. Nach 30 Jahren ohne Lokalheld in der Königsklasse hat Mexiko endlich seinen Nationalhelden.
'Checomania' vereint die Nation. In der nächsten Saison dann mit besserem Ausgang? "Wir müssen von diesem Jahr viel lernen. Aus den guten und schlechten Rennen", meint Perez. Mit der Sonntags-Performance kann er gut leben, samstags müsse er aber definitiv einen Schritt nach vorn machen. "Aber in Sachen Abstimmung haben wir große Fortschritte gemacht, nächstes Jahr sollten wir viel stärker sein."
2024 wird das entscheidende Jahr für Sergio Perez. 24 Chancen zu beweisen, dass er das Red-Bull-Cockpit neben Max Verstappen verdient hat. 24 Chancen, vielleicht doch der erste mexikanische Formel-1-Weltmeister zu werden. 24 Chancen, damit er zu seinen 260 Grands Prix noch viele weitere hinzufügen kann. Außer, Red Bull zieht vorher die Reißleine. Auch nichts Außergewöhnliches beim Team aus Milton Keynes. Aber Perez hat bereits 2020 bewiesen, dass er unter Druck und ohne Cockpit abliefern (P2 in der Türkei, P1 in Sakhir) kann. Sergio Perez Motto für 2024: All in. Nicht nur in Las Vegas. Oder wie er vermutlich sagen würde: Vamos!
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