Das Formel-1-Rennen in Australien ist nicht nur rekordverdächtig, sondern stellte auch einen Rekord auf. Noch nie gab es in der Königsklasse so viele Rotphasen in einem einzigen Grand Prix - drei waren es an der Zahl. Vor allem auf den letzten Runden eskalierte die Situation nach einem Unfall von Kevin Magnussen bei dem darauffolgenden Restart. Die Wogen gingen nach dem Rennen hoch. Fans und Experten diskutieren, ob die Rennleitung richtig entschieden hat. Motorsport-Magazin.com debattiert ebenfalls: Braucht die Formel 1 so viele rote Flaggen?

Pro: Motorsport ist nicht immer fair

von Christian Menath

Meritocracy - das englische Wort für Leistungsgesellschaft ist aus dem Wortschatz von Toto Wolff nicht wegzudenken. Die Formel 1 ist für ihn das Sinnbild dafür. Und damit soll es nun vorbei sein, um mit ein paar Roten Flaggen eine Show daraus zu machen?

Nein, das darf nicht passieren, dieser Meinung bin auch. Aber die aktuelle Debatte ist völlig übertrieben. Die Rote Flagge für den Albon-Unfall war die richtige Entscheidung. Über den zweiten Abbruch kann man sicherlich diskutieren. Aber dann müssen wir uns zuvor darauf einigen, dass es okay ist, hinter dem Safety Car ins Ziel zu fahren. Denn das wäre die Alternative und der Unmut darüber wäre auch groß gewesen.

Außerdem dürfen wir eine Sache nicht vergessen: Max Verstappen hat den GP vor Lewis Hamilton und Fernando Alonso gewonnen. Das ist kein willkürliches Podium. Es war ein leistungsgerechter Ausgang des Rennens. Es war keine Wettbewerbsverzerrung. Sicherlich gibt es bei einem stehenden Start Risiken. Aber am Ende ist auch dabei im Normalfall jeder seines Glückes Schmied. Vielleicht sollten die Stewards aber andere Maßstäbe anlegen als bei einem normalen Rennstart. Harte Strafen beim Restart schrecken vor Kamikaze-Aktionen ab.

Das Problem ist doch: 100-prozentige Gerechtigkeit wird es nie geben. Kostenlose Reifenwechsel bei Rot würden alle benachteiligen, die zuvor in der Box waren? Dem halte ich entgegen: Keine Reifenwechsel bei Rot würden alle benachteiligen, die zuvor nicht in der Box und deshalb auf der Rennstrecke deutlich vorne waren. Auch eine Safety-Car-Phase ist - zumindest strategisch - eine Lotterie. Bei Safety-Car-Phasen spät im Rennen wird es immer Diskussionen darüber geben, ob das Rennen noch einmal freigegeben wird.

Kurzum: Solange man nicht absichtlich und inflationär die Rennen unterbricht, habe ich kein Problem damit. Glück und Pech wird es im Sport, speziell in diesem, immer geben. Irgendwie muss man den Spagat zwischen Sicherheit und Show hinbekommen. Viel Action mit etwas mehr Variablen sind mir im Zweifel lieber als 15 Runden am Stück hinter dem Safety Car.

Harte Kritik an der FIA! Chaotischstes Rennen der Geschichte?: (22:48 Min.)

Contra: Safety-Car-Finish gehört dazu

von Florian Niedermair

"Are you not entertained?" Ein Filmizitat aus Gladiator. Es passt aber perfekt zu dem, was wir beim Formel-1-Rennen in Australien erlebt haben. Eigentlich hätte man hoffen können, dass die F1-Rennleitung von den Fehlern ihrer Vorgänger 2021 gelernt hat. Spätestens die rote Flagge in Runde 55 bewies aber leider das Gegenteil.

Nur um das festzuhalten: Die Entscheidung gestern befand sich vollkommen innerhalb des Ermessenspielraums der Rennleitung, war also vollkommen regelkonform. Dennoch wirft sie Fragen auf: Laut dem sportlichen Reglement kommt ein Abbruch dann in Frage, wenn unmittelbare Gefahr besteht und "die Strecke nicht sicher befahren werden kann, selbst hinter dem Safety Car".

Beim Australien-GP ist in Anbetracht dieser Formulierung schon die erste Rotphase diskussionswürdig, die zweite wirkt hingegen beinahe absurd. Ein Safety Car oder eine VSC-Phase hätten das Problem genauso gelöst. Ja, das hätte bedeutet, dass das Rennen unter dem Safety Car zu Ende geht. Ein vollkommen normaler Vorgang im Motorsport.

Natürlich nicht das spannendste Szenario, aber eine Alternative, die ich gegenüber dem, was wir in Melbourne erlebt haben, gerne in Kauf nehme. Da hieß es eine Stunde lang warten, nur damit wir am Ende einen sportlich wertlosen Restart und eine Runde hinter dem Safety Car erleben durften. Der einzige "Mehrwert" waren einige zerstörte Autos und viel Drama am grünen Tisch. Ist das die Art von Unterhaltung, die wir sehen wollen, wenn wir die Formel 1 einschalten?

Wenn Zieleinläufe unter Safety Car wirklich der Vergangenheit angehören sollen, dann müssen wir in Zukunft mit weiteren ähnlichen Chaos-Rennen rechnen. Wer denkt, dass das wirklich eine gute Idee ist, dem lege ich nahe, die letzten Runden des diesjährigen NASCAR-Rennens in Austin zu "genießen".

In Australien hatten wir Glück, dass sofort wieder abgebrochen wurde und das Ergebnis damit weitestgehend unverändert blieb. Ohne die Rote Flagge wäre das Feld ab Platz 3 vollkommen auf den Kopf gestellt worden und die ersten 56 Runden wären belanglos gewesen - alles nur für die Show. Das ist nicht mehr Rennglück, das wäre nur noch ein Würfelspiel.