Mercedes erlebte beim Großen Preis der Emilia Romagna ein sportliches Debakel. Einzig George Russell rettete mit einem vierten Platz dank einer starken Startphase im Rennen am Sonntag, was Teamchef Toto Wolff nach dem Sprint tags zuvor bereits als neuen Tiefpunkt der bisherigen Formel-1-Saison 2022 bezeichnet hatte.

Gerade waren da Lewis Hamilton und Russell nach dem schlechtesten Mercedes-Qualifying am Freitag (erstes Doppel-Aus in Q2 seit 2012) - trotz großer Hoffnungen auf eine erneut zumindest bessere Rennpace im Sprint - nur stagniert oder im Fall des siebenmaligen Weltmeisters sogar noch weiter zurückgefallen.

Formel 1 inszeniert Hamilton-Überrundung durch Verstappen

Hätte es Russell in der Startphase des Rennens nicht sofort weit nach vorne gespült, wäre es am Sonntag wohl auch für den zweiten Mercedes kaum anders gekommen als für Hamilton. Der Brite hing bis zur Zielflagge im DRS-Zug hinter Alexander Albon und Pierre Gasly, nie fähig eine Attacke zu lancieren. So ging der Mercedes-Superstar mit P13 leer aus - und musste sich sogar von seinem Vorjahresrivalen Max Verstappen überrunden lassen.

Während das Netz Hamiltons verzweifeltes Verfolgen des Franzosen mit diversen Memes veralberte und die internationale Regie die Überrundung durch Verstappen - mit schnellen Schnitten auf die Kommandostände und einer Einblendung des gewaltigen Rückstands - für Mercedes unangenehm in Szene setzte, Mercedes-Teamchef Toto Wolff sogar von einer Netflix-Inszenierung sprach, hält sich der einst große Rivale mit Häme zurück.

Max Verstappen & Red Bull empfinden keine Genugtuung

"Sie waren schon das ganze Jahr langsam, also ist es nicht wirklich eine Überraschung. Oder irgendwie so, dass ich mich mehr freuen würde, Lewis zu überrunden als jeden anderen", sagt Max Verstappen. Nein, eine besondere Befriedigung habe ihm die Szene nicht gegeben, sagt auch Christian Horner. "Lewis hatte kein tolles Wochenende, aber wir waren ziemlich auf unser eigenes Rennen konzentriert und darauf, die Punkte zu maximieren. Das war einfach eines dieser Dinge", kommentiert Red Bulls Teamchef.

"Er hatte ein furchtbares Wochenende, aber er ist noch immer achtmaliger Weltmeister", ergänzt Horner sogar. "Nein, siebenmaliger Weltmeister", korrigiert sich der Brite. "Sie [Mercedes] sind achtmaliger, ich habe Nico Rosberg vergessen!" Ohnehin rechnet Horner früher oder später mit einem Comeback der Silberpfeile. "An einem gewissen Punkt werden sie ihre Probleme aussortieren und er [Hamilton] wieder ein Faktor werden, kein Zweifel."

Helmut Marko: WM-Titel für Mercedes bei so vielen Problemen unmöglich

Doch wird der WM-Zug für Mercedes dann längst abgefahren sein, meint Helmut Marko. "Ich glaube die haben so viele Probleme, dass man da schon sagen kann, dass das nicht mehr möglich ist", sagt der Motorsportchef der Bullen im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com.

WM-Kampf: Hamilton schreibt Formel 1 Titel 2022 ab! (09:36 Min.)

Damit liegt der Grazer auf einer Linie mit Hamilton. "Ich bin sicherlich raus aus der Meisterschaft", sagt Hamilton in Imola. "Das steht außer Frage. Aber ich werden weiter so hart arbeiten, wie ich nur kann, um zu versuchen, es irgendwie wieder zusammen zu bekommen."

Wolff widerspricht Hamilton und Marko

Anderer Meinung ist Toto Wolff. "Nein, ich möchte mich von dem Gedanken nicht verabschieden, weil, was ich an dem Sport liebe, ist, dass nicht immer alles der Mathematik folgt", sagt der Mercedes-Leiter. "Die Rennen können ganz andere sein, man sieht ja, wie schnell es geht zwischen Erster und Zweiter auf der Bahn und beim nächsten Rennen Erster und Zweiter ausgeschieden. Auch bei den Ferraris", erinnert Wolff an das jüngst große Auf und Ab an der Spitze.

"Insofern ist der Rückstand, den wir jetzt aufreißen, mit Sicherheit schwer zu holen, aber wenn wir es schaffen, dieses Auto einigermaßen gerade auf die Bahn zu stellen, dann fahren wir mit dem Auto auch vorne mit. So grimmig das auch heute ausschaut", ergänzt der Österreicher. Tatsächlich liegen die Silberpfeile derzeit noch gar nicht allzu weit hinter der Spitze. Red Bull (113 Punkte) zog nach zuvor großen technischen Problemen sogar erst mit der nahezu idealen Ausbeute in Imola vorbei an Mercedes (77). Ferrari führt mit 124 Zählern.

WM-Rückstand (noch) das kleinere Problem für Mercedes

Der aktuelle Rückstand ist allerdings ohnehin fast weniger das Problem. Vielmehr geht es um die auch kurzfristig längst nicht gute Perspektive. Schnelle Lösungen gab es seit den Testfahrten nicht. Warum sollte sich daran beim nächsten oder übernächsten Rennen plötzlich etwas ändern? Noch immer kämpft Mercedes vor allem mit einem besonders extrem ausgeprägten Porpoising am F1 W13. Dieses zumindest im Ansatz zu zügeln, kostet Mercedes Performance, die eigentlich durchaus vorhanden wäre, glaubt das Team.

"Wegen des Bouncings sind wir nicht in der Lage, das Auto da zu fahren, wo es gefahren werden sollte und das hat große Auswirkungen auf das Setup, den Grip der Reifen und so weiter. Da ist alles miteinander verbunden", sagt Wolff. Noch dazu fehlt den Fahrern das Vertrauen in ihren Boliden, weil der Mercedes das Hüpfen teilweise selbst in der Bremszone nicht einstellt. George Russell klagte nach dem Rennen in Imola deshalb sogar über Schmerzen.

Bouncing-Horror bei Mercedes: Rosberg zweifelt an schneller Lösung

"Da kriegt man ja Kopfweh nur vom Zuschauen, so wie das Auto da am Springen ist - und die haben dafür keine Lösung momentan", analysiert Sky-Experte Nico Rosberg. Der Ex-Mercedes-Fahrer ergänzt: "Das Problem ist: Im Windtunnel gibt es keine großen Hubbel. Da ist alles konstant und stabil und deswegen kann man im Windtunnel nur schwierig Lösungen finden und herausarbeiten." Deshalb fürchtet Rosberg noch längere Probleme bei seinem ehemaligen Team. "Das ist eine große Herausforderung. Ich weiß nicht, wann sie da eine Lösung haben werden", sagt Rosberg.

Wie für Hamilton und Marko steht auch für den Deutschen fest: Mit dem WM-Titel kann Mercedes 2022 nicht mehr rechnen. Rosberg sieht sogar noch schwärzer und fürchtet bereits Folgen für 2023. "Es ist natürlich eine unglaublich schwierige Situation, weil das Auto gerade wirklich sehr, sehr schlecht ist", sagt Rosberg. Im Vergleich zu Ferrari oder Red Bull würden Welten fehlen, so der TV-Experte. "Da ist es extrem schwierig, gelassen zu bleiben und konstruktiv als Team."

Nico Rosberg: Probleme können Mercedes auch 2023 kosten

Rosberg weiter: "Weil die sehen mittlerweile, dass die WM dieses Jahr wahrscheinlich gelaufen ist. Das sagen die auch selbst. Und es entsteht sogar das Risiko, dass nächstes Jahr auch schon schwierig wird, weil die Entwicklung von diesem Auto jetzt schon anfängt. Und wenn die auf dem falschen Weg sind, dann ist nächstes Jahr auch dahin. Das Risiko steigt gerade immens und die sind so unter Druck, den Weg und das Problem schnell zu finden."

Toto Wolff ist das durchaus bewusst. "Am Ende des Tages muss ich als Verantwortlicher für dieses Team auch die Watschn dafür bekommen, dass wir im Moment nicht performen. Und das gehört dazu am Ende des Tages. Wir haben acht WM-Titel in Folge gewonnen, wir sind extrem schlecht aus den Blöcken gekommen jetzt in diesem Jahr und dazu gehört, jetzt einfach zu sagen: Fakt."

Wolff glaubt weiter an Konzept: Ohne Bouncing viel schneller

Doch gibt sich der Österreicher noch immer überzeugt von dem radikalen Fahrzeugkonzept seiner Ingenieure. Sobald eine Lösung für das Bouncing gefunden sei, könne Mercedes sofort sehr viel mehr Pace entfesseln. "Wir glauben sehr stark daran, dass die Zeichen, die wir gerade sehen, uns helfen werden, das Auto tiefer fahren zu können, wo wir glauben all die aerodynamische Güte zu haben, die wir wegen des Aufsetzens des Autos noch nicht abrufen konnten", sagt Wolff. "Wenn wir in der Lage sind, das endlich hinzubekommen, dann können wir jede Menge Rundenzeit finden." Doch was, wenn das nicht funktioniert? Wolff: "Dann brauchen wir eine andere Idee ..."

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