Michael Schumachers Formel-1-Debüt für Jordan beim Grand Prix von Belgien 1991 zählt zu den ganz großen denkwürdigen Momenten in der Geschichte der Königsklasse. Nach seinem phänomenalen Qualifying kam der Rekordweltmeister am 25. August 1991 in Spa-Francorchamps keinen Kilometer weit, und doch setzte sein Auftritt ein ungeahntes Chaos in Gang. Flavio Briatore und Bernie Ecclestone wollten das Supertalent um jeden Preis, zum großen Unmut von Eddie Jordan. Das Tauziehen mündete in einem filmreifen Transferstreit mit Alex Zanardi und Roberto Moreno in den Hauptrollen.
Als Michael Schumacher von Jordan für das elfte Saisonrennen verpflichtet wurde, war es für Fahrer und Team eine Hauruckaktion. Der belgische Stammfahrer Bertrand Gachot war nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einem Taxifahrer in London verhaftet worden und das Newcomer-Team von Eddie Jordan brauchte schnell einen Ersatz. Motorsport-Manager Willi Weber stand daraufhin mit seinem 22-jährigen Talent aus Kerpen beim Iren auf der Matte.
Durch den Meistertitel in der deutschen Formel 3 1990 sowie dem Sieg beim Grand Prix in Macau im selben Jahr hatte sich Schumacher als Nachwuchstalent längst einen Namen gemacht. Parallel dazu zeigte er als Mercedes-Junior hinter dem Steuer der Gruppe-C-Prototypen, dass er auch mit hochentwickelten Boliden auf Weltmeisterschaftsniveau ein ernstzunehmendes Kaliber ist.
Nach einem erfolgreichen Test in Silverstone akzeptierte Jordan das deutsche Talent sowie die damit auf sein Konto fließenden 150.000 britischen Pfund, die Mercedes für den Einsatz Schumachers zahlte. Eine nicht unerhebliche Rolle bei der Verpflichtung spielte eine Behauptung Webers. Er hatte Jordan nach bestem Wissen und Gewissen versichert, dass Schumacher die Ardennenachterbahn von Spa-Francorchamps bereits bestens kannte.
Michael Schumacher verblüfft beim Formel-1-Debüt
Tatsächlich drehte Schumacher seine erste Runde auf dem legendären Kurs erst am Rennwochenende, und zwar auf dem Fahrrad. Die mangelnde Streckenkenntnis ließ er sich in den Trainings am Donnerstag mit den Plätzen elf und fünf jedoch nicht anmerken. Und spätestens nach seinem siebten Platz im Qualifying war dem Fahrerlager klar, dass im Jordan mit der Startnummer 32 ein ganz besonderer Rohdiamant sitzt.
Ein vierter Platz im Warm-up vor Teamkollege Andrea de Cesaris ließ die Konkurrenz wohl noch an eine leichte Spritladung beim Jordan-Duo glauben. Doch das Rennen der Grünen war alles andere als ein Bluff. Schumacher katapultierte sich am Start vorne und kam als Fünfter aus der ersten Kurve. Der Höhenflug hielt zum Leidwesen des Rookies nicht lange an. Nach 700 Metern musste er das Auto mit einem Kupplungsschaden abstellen.
Doch der von Startplatz elf losgefahrene de Cesaris zeigte, was an diesem Sonntag mit dem Jordan 191 möglich gewesen wäre. Der Italiener lag in der 42. von 44 Runden mit nur dreieinhalb Sekunden Rückstand auf Ayrton Senna im McLaren an zweiter Stelle, als sein Ford-Motor sich verabschiedete. Eddie Jordan hatte danach trotz des enttäuschenden Rennausgangs allen Grund zur Freude. In Zukunft würde er die Dienste eines jungen Ausnahmefahrers und die üppige Mitgift von Mercedes genießen.
Flavio Briatore kickt Roberto Moreno für Michael Schumacher
Womit Jordan nicht rechnete, war Flavio Briatores Lust auf frisches Blut. In der zweiwöchigen Pause zwischen Spa-Francorchamps und Monza wurde sich der italienische Benetton-Teamchef schnell mit Schumachers Managern einig und machte dabei keine Gefangenen. Stammfahrer Roberto Moreno wurde am Dienstag vor dem Grand Prix von Italien kurzerhand gekickt.
"Briatore rief mich an und sagte mir, dass er mich am Flughafen treffen will", erzählt Moreno im Formel-1-Podcast Beyond The Grid. Der damals 32-Jährige war 1990 als Retter in der Not zum Benetton-Team gestoßen, nachdem sich Stammfahrer Alessandro Nannini bei einem Helikopterunfall schwere Verletzungen zugezogen hatte. In Suzuka sprang Moreno spontan ein und feierte als Zweiter hinter Nelson Piquet einen sensationellen Doppelsieg für das Team. Dank dieser Empfehlung erhielt er einen Festvertrag für 1991.
Als Briatore um ein Treffen bat, war Moreno zunächst guter Dinge. "Ich dachte, er wolle mit mir etwas für das kommende Jahr besprechen, denn ich hatte gute Fortschritte gemacht und ich war bereit, weiterzumachen", so der Brasilianer. Doch statt der erhofften Vertragsverlängerung gab es vom Benetton-Teamchef den Laufpass.
"Er hat mir nicht mal ins Gesicht geschaut. Der Typ sitzt gegenüber am Tisch und schaut nach unten. Er sagte: wir müssen einen anderen Fahrer ins Auto setzen und ich will von dir, dass du einfach zuhause bleibst. Du sagst, du hast irgendein Problem und wir ersetzen dich. Wir werden dich auszahlen und dann ist es erledigt", so Moreno, der nach jahrelangem Kampf um einen Stammplatz in der Formel 1 nicht in Stimmung war, diesen für Geld aufzugeben.
Moreno schlug einen Tausch vor, bei dem er den Jordan von Schumacher übernehmen würde. Doch Briatore befand sich bereits in einem Rechtsstreit mit Eddie Jordan und hatte in diesem Moment genug von der fehlenden Einsicht seines Fahrers. "Er legte mir zwei Seiten vor, in denen es darum ging wie sie mich aus dem Vertrag entlassen können", sagt Moreno, der daraufhin selbst zur Offensive überging.
Benetton fordert Alex Zanardi als Notnagel an
Er rief bei Jordan an und schlug ihm persönlich den Tausch gegen Schumacher vor, doch der hatte kein Interesse. Er wollte weder Schumacher abgeben, noch das Geld von Mercedes verlieren. Bevor er sich auf ein Tauschgeschäft einlässt, wollte er den Rechtsstreit mit Benetton bis aufs Äußerste ausfechten. Diesen Weg wählte daraufhin auch Moreno, der beim italienischen Arbeitsgericht eine Klage gegen Benetton einreichte, um die Erfüllung seines Vertrages zu erzwingen.
Über die von seinem Fahrer eingeleiteten rechtlichen Schritte noch nicht im Bilde, war Benetton sich der Entlassung sicher. Die Italiener arbeiteten an einem anderen Plan B, falls es nicht gelingen sollte, Schumacher bei Jordan aus dem Vertrag zu holen. Team-Manager Joan Villadelprat rief deshalb bei Alessandro Zanardi an. Der 24-Jährige kämpfte in der Formel 3000 Europameisterschaft um den Titel und fuhr dabei für das Team von Giuseppe Cipriani, der gute Kontakte zu Benetton pflegte.
"Er [Villadelprat] erklärte mir die Situation, dass sie im Moment diesen Rechtsstreit mit Jordan haben und es eine kleine Chance gibt, dass sie Michael in Monza nicht fahren lassen können, aber Moreno nicht mehr im Team ist", so Zanardi im Interview bei Beyond The Grid. "Also haben sie mich darum gebeten, am Mittwoch vor dem Rennen nach Monza zu kommen."
Vor Ort wurde alles für einen Einsatz Zanardis vorbereitet, doch Sitzanpassung und Kennenlernen mit der Crew fanden in der Garage hinter verschlossenen Türen statt. Jordan sollte keinen Wind vom möglichen neuen Fahrer bekommen. "Ich sitze im Benetton, alle Mechaniker arbeiten für mich - Alex, möchtest du einen Kaffee? - Oh ja, danke. Könnt ihr euch das vorstellen? Ein junger Typ wie ich, der letztes Jahr im Grunde arbeitslos war, komplett pleite" sagt Zanardi. "Plötzlich bin ich bei einem großen Team wie Benetton. Ich war wirklich im Himmel."
Zanardi weiß nichts von Jordan-Chance: Arrivabene klärt auf
Nach den Vorbereitungen wurde Zanardi vom Team ins Hotel geschickt, wo er auf den Anruf von Briatore warten sollte. Auf dem Weg aus dem Fahrerlager gratulierten ihm zu seiner großen Verwunderung mehrere Bekannte zu seinem bevorstehenden F1-Debüt mit Jordan. Unter den Gratulanten war auch Maurizio Arrivabene, der zu dieser Zeit als führender Manager über die Sponsoringaktivitäten von Marlboro in der Formel 1 wachte.
"Er hat mich umarmt und mir gesagt, wie sehr er sich für mich freut, und dass ich im Jordan richtig gut sein werde. Da sagte ich: Maurizio, du bist ein Freund, und ich muss das jetzt wissen: wo hast du gehört, dass ich für Jordan fahre?", erzählt Zanardi. Arrivabene wollte es von Jordan persönlich erfahren haben. Um die Angelegenheit klarzustellen, wurden beide in der Jordan-Hospitality vorstellig.
Dort trafen sie auf den aufgebrachten Eddie Jordan, der immer noch versuchte, den Vertrag mit Schumacher durchzudrücken. "Er hat sich im Grunde nur zwei Minuten Zeit genommen und mir gesagt: okay Alex, wir wollen mit Michael fahren aber wenn es nicht geht wirst du morgen im Auto sitzen. Geh zurück ins Hotel und warte auf meinen Anruf", so Zanardi. In einer Zeit ohne das weitverbreitete Mobiltelefon war er nun also an sein Hotelzimmer gefesselt, um auf Anrufe von Briatore oder Jordan zu warten.
Briatore will Zanardi zu Benetton-Deal nötigen
Gegen 23:00 Uhr am Abend klingelte endlich das Telefon, doch der Anruf von Briatore war nicht das, was sich Zanardi erhofft hatte. Der Benetton-Boss bot ihm statt der Teilnahme am Rennwochenende an, am Donnerstag einen mehrjährigen Vertrag zu unterzeichnen, da Schumacher in Monza wie geplant im Auto sitzen wird. Für Zanardi schien damit klar, dass der Jordan nun für ihn frei ist.
Doch Briatore wollte Zanardi mit aller Macht davon abhalten, für die Briten zu fahren. "Er sagte: wir können dich morgen nicht fahren lassen, weil wir das Problem mit Michael gelöst haben. Er wird im Auto sitzen aber wir wollen dich für die Zukunft haben. Das Wichtigste ist, dass du nicht ans Telefon gehst, wenn Eddie Jordan anruft", erinnert sich Zanardi an das Telefonat.
Mit dem F1-Debüt vor Augen wollte er sich von Benetton aber nicht auf die lange Bank schieben lassen. Briatore riss beim widerwilligen Youngster Geduldsfaden: "Nein! Nein! Du hörst mir jetzt zu. Die Leute müssen wissen, wann im Leben die Zeit gekommen ist, eine Entscheidung zu treffen. Jetzt ist deine Zeit gekommen. Mach was du willst!", ruft Zanardi die Worte des aufbrausenden Teamchefs in Erinnerung, der daraufhin auflegte.
Benetton spinnt nach Moreno-Klage fiese Intrige
Es folgt zwei weitere Anrufe Briatores, bei denen er abermals versuchte, Zanardi zu überzeugen, doch die Situation war festgefahren. Zanardi wollte unbedingt in Monza fahren und Briatore wollte um jeden Preis verhindern, dass er Jordan zusagt. Dessen beharrliches Buhlen um die Vertragsunterzeichnung Zanardis bei Benetton kam nicht von ungefähr. Am Mittwochnachmittag hatte sich hinter den Kulissen eine neue Situation entwickelt.
Benetton musste Moreno auf Anweisung vom Arbeitsgericht einen Arbeitsplatz für das Wochenende auftreiben, um den bestehenden Vertrag zu erfüllen. Dabei ging es nicht mehr um das Benetton-Cockpit, sondern einzig um die Teilnahme Morenos am Grand Prix von Italien. Gelingt die Vermittlung an ein anderes Team nicht, ist Benetton vertraglich dazu verpflichtet, Moreno ins zweite Auto neben Nelson Piquet zu setzen. Der Schumacher-Deal wäre damit futsch.
Zanardi wurde dadurch zur Schlüsselfigur. Nur wenn er bei Benetton unterschreibt, ist der Jordan für Moreno frei und Briatore sein Problem los. Der sture Zanardi durchkreuzte die Pläne jedoch, indem er auf seine Chance bei Eddie Jordan pochte. Briatore zog daraufhin alle Register und schickte Villadelprat zusammen mit Cipriani mitten in der Nacht zu Jordans Hotel. Der Benetton-Manager und der F3000-Teambesitzer tischten dem Iren eine Story auf, die ihn von Zanardi abbringen sollte.
Benetton haut Jordan übers Ohr
"Sie haben ihm mit einer Klage gedroht, wenn er mich verpflichtet, denn Cipriani habe einen langfristigen Management-Deal mit mir und nur er könne über meine Zukunft bestimmen. Das war eine glaubwürdige Geschichte", sagt Zanardi. "Ich fuhr für ihn [Cipriani] in der Formel 3000 und es war nicht weit hergeholt, dass er mich für das Cockpit dazu gebracht hat, einen mehrjährigen Vertragen mit ihm zu unterzeichnen."
Jordan glaubte die Story bekam kalte Füße. Einen Rechtsstreit mit Benetton wollte sich der 43-Jährige, der mit seinem Team gerade erst in die Königsklasse eingestiegen war, nicht leisten. "Wenn man es hinterher versteht, war ich sozusagen das störende Element, das entfernt werden musste, damit alles zusammenpasst", so Zanardi, der nach dem nächtlichen Besuch von Villadelprat und Cipriani bei Jordan sein Cockpit an Moreno verlor.
Bernie Ecclestone vermittelt zwischen Benetton und Jordan
Der Brasilianer hatte inmitten des Chaos ebenfalls eine unruhige Nacht. Nachdem Jordan der Benetton-Intrige auf den Leim gegangen war, klingelte auch bei ihm das Telefon. Am anderen Ende war Bernie Ecclestone. Der war seinerseits sehr darum bemüht, Schumacher bei Benetton unterzubringen. Eine deutsche F1-Hoffnung war etwas, das der F1-Boss lange gesucht hatte, nachdem ihm die Chance durch den tragischen Tod von Stefan Bellof 1985 entwischt war.
"Bernie war super. Er war der Vermittler, den ich gebraucht habe. Er hat mich um 3:00 Uhr morgens angerufen und mir ein paar Dinge erklärt. Ich sagte ihm: Bernie, wenn du es bist, der mir das sagt, respektiere ich das. Du weißt, dass ich dich immer sehr geschätzt habe und du für mich eine der großartigsten Personen in der Formel 1 bist", sagt Moreno. "Er war immer sehr fair und deshalb hat es funktioniert. Er wollte auch, dass ich bei der Sache gut wegkomme. Er war nicht wie die anderen Leute, die mir nicht einmal ins Gesicht geschaut haben."
Jordan will Geld von Moreno
Wenig später klingelte beim Brasilianer erneut das Telefon. Zwar hatte Ecclestone die Fäden für den Tausch zwischen Schumacher und Moreno gezogen, doch die Modalitäten waren nur bei Briatore und seinem neuen Supertalent geklärt. "Ich sagte: oh Eddie, ich dachte du wolltest keinen Deal mit mir machen", erinnert sich Moreno an den Anruf. Jordan besaß in seiner Not die Dreistigkeit, ihn nach einer Mitgift für den Start in Monza zu fragen. Moreno sollte für das Cockpit 60.000 US-Dollar bezahlen.
"Ich habe sofort aufgelegt", so Moreno. "Er ruft mich wieder an und sagt: oh Roberto, wie wäre es mit 50.000 Dollar. - Da habe ich wieder aufgelegt. Beim dritten Mal sagte er gleich, dass ich nicht auflegen soll und ich sagte ihm, dass wir nicht über Geld sprechen werden und es nur eine Möglichkeit gibt, wie ich sein Auto fahren werde."
Der ohnehin als Überlebenskünstler vom Motorsport lebende Moreno war nach der nervenaufreibenden Vorgeschichte nicht zu Verhandlungen aufgelegt und erteilte Jordan eine klare Abfuhr: "Ich habe versucht mit dir zu verhandeln, bevor all das hier passiert ist, aber du wolltest davon nichts wissen. Jetzt ist es zu spät und ich werde für dich nicht mein eigenes Geld ausgeben."
Zanardi und Arrivabene klären Jordan auf
Diese Argumentation leuchtete schlussendlich auch Schlitzohr Jordan ein, der Moreno das Cockpit ohne Mitgift überließ. Um 5:00 Uhr morgens wurde der Sitz angepasst. Am Vormittag war das Transfer-Drama für zwei der drei Hauptdarsteller ausgestanden. Im ersten Training belegten Schumacher und Moreno die Plätze sechs und sieben. Nur einer stand mit leeren Händen und einem schlechten Ruf da.
Als Zanardi im Paddock Jordan über den Weg lief, war der nicht gut auf ihn zu sprechen. "Er hat mich mit so vielen Beleidigungen bombardiert und mir nicht einmal die Möglichkeit gegeben, irgendetwas zu sagen", so Zanardi, der sich erst in diesem Moment über Benettons linker Nummer mit seinem vermeintlichen Manager Cipriani bewusst wurde.
Zanardi schaltete daraufhin Arrivabene ein. Die beiden Italiener gingen zum zweiten Mal an diesem Rennwochenende zusammen zu Eddie Jordan. Nachdem Zanardi ihm das falsche Spiel von Benetton offenbar hatte, wurde der plötzlich still. "Er wurde ganz weiß und sagte nur: Ich bin ein Idiot", so Zanardi. "Das war alles, denn er wusste, dass er übers Ohr gehauen wurde. Aber da war es zu spät. Moreno war schon das erste Training gefahren."
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