Rumgeeiere statt Rundenrekorde: Der Trainingsfreitag zum Türkei GP 2020 verlief etwas anders, als sich die Formel 1 die Rückkehr auf den Istanbul Park vorgestellt hatte. Seit 2011 gastierte die Königsklasse des Motorsports nicht mehr auf dem 5,338 Kilometer langen Kurs. Entsprechend gespannt waren alle auf die Zusammenkunft der spektakulären Rennstrecke und der neuen Fahrzeuggeneration - der schnellsten in der Geschichte der Formel 1.

Rundenrekorde wurden versprochen, um bis zu vier Sekunden sollte die Bestzeit von Juan-Pablo Montoya aus dem Jahr 2005 unterboten werden. Der Kolumbianer fuhr in seinem McLaren in 1:24,770 Minuten um die Strecke.

Und dann kam die Formel 1 2020: 1:35,077 Minuten reichten Max Verstappen im 1. Freien Training zur Bestzeit. Giorgio Pantano fuhr 2008 mit seinem GP2-Boliden zweieinhalb Sekunden schneller.

Die Fahrer berichteten übereinstimmend: "Das ist wie Fahren auf Eis!" Die härtesten Pirelli-Pneus im Regal der Italiener konnten auf der frisch asphaltierten Piste keinen Grip generieren. Erst zehn Tage vor dem GP-Wochenende wurde die neue Asphaltschicht fertiggestellt.

Last-Minute-Asphaltierung in Istanbul sorgt für Rutschpartie

Die Entscheidung, die Strecke überhaupt neu zu asphaltieren, war eine Entscheidung in letzter Sekunde. Hermann Tilke, der den Istanbul Park einst baute, wurde erst spät in die Asphaltierungsarbeiten involviert. Seine Ingenieure überwachten den Vorgang, hatten aber keine Mitsprache bei der genauen Zusammensetzung der Oberfläche.

Dass eine komplett neue Asphaltdecke zunächst keinen Grip bietet, ist nicht ungewöhnlich. "Aber es gibt zwei Methoden, mit denen man das verhindern könnte", erklärt Tilke. Einerseits könnte man Quarzsand in die heiße Asphaltdecke einarbeiten. Das würde den initialen Grip deutlich erhöhen.

Eine Alternative ist es, das Bitumen künstlich aus dem Asphalt zu lösen. Normalerweise passiert das durch Alterungsprozesse automatisch, doch nach wenigen Tagen ist der Bitumengehalt im Asphalt noch sehr hoch. Dadurch wird die Oberfläche schmierig.

Die Fahrer forderten deshalb, dass schon vor dem Formel-1-Wochenende auf der Strecke gefahren wird, um diesen Prozess zu beschleunigen. Doch das war in der Kürze der Zeit nicht möglich. Tilke kennt noch einen weiteren Trick: "Reifen können mit Beton beschwert werden und über die Strecke gezogen werden, um das Bitumen zu lösen."

Unzumutbare Zustände im 1. Freien Training

In Istanbul waren all diese Maßnahmen nicht mehr möglich. Deshalb griff man unmittelbar vor dem 1. Training zur letzten Maßnahme: Wasser wurde mit Hochdruck auf die Strecke geschossen, um die Poren zu reinigen. Ein durchaus üblicher Vorgang, allerdings trocknete die Strecke bei den niedrigen Temperaturen nicht mehr rechtzeitig vor Trainingsbeginn.

Die Strecke war deshalb nicht nur ölig, sondern auch noch leicht feucht. Keine gute Kombination. Dazu kam noch die härteste Reifenmischung. Weil Pirelli vor den enormen Kräften so großen Respekt hatte, brachten die Italiener nicht nur die härtesten Reifen, sondern sogar noch einen Satz der C1-Mischung mehr.

Red Bull zwei mal an der Spitze, Ferrari zweite Kraft

Immerhin: Im 2. Freien Training waren die Zeiten bereits sieben Sekunden schneller. Auffällig: In beiden Sessions war Max Verstappen Schnellster. Red Bull scheint mit dem rutschigen Belag am besten zurecht zu kommen.

Erster Verfolger war überraschend Charles Leclerc. Der Ferrari-Pilot hatte aber bereits vier Zehntel Rückstand auf die Verstappen-Bestzeit. Er dahinter reihte sich Valtteri Bottas mit knapp sechs Zehntel Rückstand ein. Weltmeister Lewis Hamilton fehlten weitere drei Zehntel.

Bei Mercedes läuten deshalb die Alarmglocken. "Obwohl wir während der Trainings einige Lösungen versucht haben, blieb der Performanceunterschied zu Red Bull bestehen und auch Ferrari schien oft vor uns zu liegen", beklagte Mercedes-Ingenieur Andrew Shovlin.

Mercedes schlägt Alarm: Keine gute Verfassung

Ferrari traut dem Braten noch nicht so ganz. "Aber wenn wir alles perfekt hinbekommen, könnte das eine gute Möglichkeit für uns sein", meint Leclerc. Die eigentliche Frage aber lautet: Hat Red Bull eine reelle Chance, Mercedes aus eigener Kraft zu schlagen? Ist Istanbul ein neues Singapur für Mercedes, wo die Silberpfeile vor einigen Jahren trotz des überlegenen Autos einfach chancenlos waren?

"Im Moment befinden wir uns dafür in keiner großartigen Verfassung und müssen mit einer harten Zeit rechnen, wenn wir über Nacht keine deutlichen Fortschritte erzielen können", fürchtet Shovlin. Hamilton malt bereits den Teufel an die Wand: "Es gibt einige grundlegende Dinge, die man am Auto nicht verändern kann, deshalb müssen wir unser Bestes geben."

Das große Problem waren die Reifentemperaturen. Auch mit DAS haben die Silberpfeil-Piloten die Reifen nicht zum Funktionieren gebracht. "Wenn man weit unter dem Temperaturfenster liegt, funktionieren die Reifen einfach nicht. Man kann von einer Runde auf die nächste eine Sekunde finden, nur weil die Reifen in einer der Kurven ein bisschen besser arbeiten", so Hamilton.

Istanbuls berühmter Turn 8: Red Bull erkennt Mercedes' Achillesferse

Red Bull hatte ähnliche Probleme, konnte aber offenbar am besten improvisieren. Mit derartigen Bedingungen hatte niemand gerechnet. Gut möglich, dass über Nacht nach zahlreichen Simulator-Sessions noch ganz andere Setups ausprobiert werden, nachdem man die Rechner nun mit den richtigen Daten füttern kann.

Mercedes verlor vor allem im Mittelsektor auf Red Bull. Der besteht hauptsächlich aus der langgezogenen Kurve acht. "Dort haben sie mit Abstand am meisten verloren", erklärt Red Bulls Motorsportberater Dr. Helmut Marko. Das allerdings ärgert ihn auch: "Leider hatte Mercedes fast ausschließlich in Kurve acht Probleme. Wenn es nur eine Kurve ist, lässt es sich meistens beheben.

Weil das Griplevel so niedrig ist, konnte Kurve acht nicht mit Vollgas durchfahren werden. Ein erheblicher Vorteil für Red Bull. Ginge die dreifach Linkskurve mit Vollgas, würde man Zeit verlieren, weil dann nur die Motorleistung entscheidend ist. Die Frage ist, ob sich die Strecke so stark entwickelt, dass Kurve acht im Qualifying mit Vollgas geht.

"Ich glaube nicht, dass sich das Griplevel drastisch erhöhen wird. Außerdem ist morgen Vormittag Regen vorhergesagt", meint Marko. Allerdings hat der Grazer drei Zehntelsekunden ohnehin schon aufgegeben: Die findet Mercedes nach wie vor beim Motor, wenn es in die Qualifikation geht. Das würde dann aber noch immer knapp reichen, vor Mercedes zu bleiben.

Im Renntrimm war es allerdings schon etwas enger. Auf den Soft-Reifen fuhr Verstappen nur wenige Tausendstel schneller als die beiden Mercedes-Piloten. "Verkehr-bereinigt waren wir aber schneller", wirft Marko ein. Dahinter klafft bereits eine riesige Lücke. Auch Leclerc im Ferrari kann dort nicht mehr ansatzweise mit Verstappen und den beiden Mercedes mithalten.

Türkei GP 2020, Longruns auf Soft im 1. Training

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeit
Verstappen2081:32,807
Hamilton1751:32,827
Bottas2181:32,828
Perez23101:33,600
Leclerc1941:33,675
Ocon2841:34,061
Stroll1971:34,106
Gasly28121:34,276
Sainz1731:34,382
Albon2091:34,392
Norris2281:34,514
Räikkönen2151:35,227
Kvyat28131:35,346
Giovinazzi2371:35,501
Ricciardo1851:35,964
Magnussen1731:36,169
Latifi30151:37,012

Auf den Medium-Reifen gibt Verstappen hingegen klar den Ton an. Allerdings sind die Werte weniger relevant. Auf der mittleren Reifenmischung fuhren die meisten Piloten nur ganz kurze Runs mit vollgetankten Autos. Dabei war die Streuung der einzelnen Runden teils riesig. Wer seine Reifen schnell ins Fenster bekam, war auf Anhieb schnell.

Türkei GP 2020, Longruns auf Medium im 1. Training

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeit
Verstappen1721:31,676
Leclerc1941:32,555
Hamilton2541:33,117
Albon2261:33,236
Bottas2531:33,239
Sainz2471:33,444
Vettel26121:33,699
Russell24151:34,602
Räikkönen2251:34,688

Fazit: Mercedes ist erstmals in dieser Saison nach dem Freitag ernsthaft in Bedrängnis. Der große Rückstand ist nicht natürlich. Bekommen die Silberpfeile die Probleme nicht in den Griff, droht Verstappen davon zu fahren. Allerdings kann sich mit den richtigen Änderungen am Setup das Bild auch komplett drehen: Wenn Mercedes die Reifen ins Fenster bekommt, kann der F1 W11 sein Potential möglicherweise wieder voll ausschöpfen.