Mercedes sehen wir uns nicht mehr an, die sind zu weit weg.“ Besser als mit dieser Aussage Sebastian Vettels lässt sich der Trainingsauftakt zum Großen Preis von Russland der Formel-1-Saison 2020 nicht zusammenfassen. Mercedes reiste mit einer makellosen Bilanz nach Sotschi und wird das Sochi Autodrom am Sonntagabend auch weiterhin ungeschlagen verlassen, geht alles auch nur halbwegs seinen gewohnten Gang.

Trotz leichter Probleme zum Auftakt, in Form von Verbremsern von Lewis Hamilton und Valtteri Bottas sowie nicht zusammengebrachten Runden des Briten auf den noch extrem rutschigen 5,848 Kilometern von Sotschi im ersten Freien Training, trügt nach dem Freitag absolut nichts darüber hinweg, dass unter normalen Umstände einzig und allein einer der Mercedes-Fahrer sowohl die Pole erzielen als auch das Rennen gewinnen kann.

Formel 1 Sotschi: Mercedes unantastbar

Dafür spricht alles. Etwa, dass Bottas im ersten Training seine schnellste Zeit gleich zu Beginn erzielte. Trotz immer besserer Gripverhältnisse im Verlauf der Session kam der Vorgabe des Finnen niemand näher als eine halbe Sekunde. „Wir sind früher als die meisten anderen Fahrer mit den Soft-Reifen gefahren und gingen davon aus, dass unsere Zeiten später unterboten werden würden. Deshalb war es vielversprechend, dass Valtteri das Training mit einem guten Vorsprung auf Platz eins beenden konnte“, sagte Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin.

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Im zweiten Training wurde es doppelt so deutlich. Diesmal gelang auch Hamilton eine schnelle Runde, wenngleich es für den Teamkollegen und Sotschi-Spezialist Bottas noch nicht reichen sollte. Die Konkurrenz jedoch lag mehr als eine Sekunde zurück. Wie im ersten war auch im zweiten Training überraschend Daniel Ricciardo erster Mercedes-Verfolger. Ein realistisches Bild für das restliche Wochenende in Russland? Die Trainingsanalyse von Motorsport-Magazin.com liefert die Indizien.

Mercedes trotz riesigen Vorsprungs: Können nachlegen!

Zunächst betrachten wir weiter die Gründe für Mercedes’ Unantastbarkeit in Sotschi. Neben der Bestzeiten - oder sogar noch mehr - sprechen dafür die Aussagen aus dem Lager der Weltmeister. Zufrieden war dort trotz offensichtlicher Dominanz nämlich keiner so recht. „Wir können noch nachlegen, aber alles in allem war es ein positiver Auftakt“, sagte Bottas. „Trotzdem bekomme ich noch nicht alle Sektoren perfekt zusammen. Die ersten beiden Streckenabschnitte fühlen sich gut an, aber im dritten Sektor ist das Auto noch etwas zu nervös. Teilweise bin ich im Rallye-Stil gedriftet und das ist sicher nicht der beste Weg, um hier schnell zu sein“, klagte der Finne.

Angesichts des auch so schon riesigen Vorsprungs auf den Rest der Welt kann das in den Ohren der Konkurrenz nur wie eine Drohung klingen. „Wir können noch viel Zeit gutmachen“, bekräftigt Bottas gleich noch einmal. Hamilton klingt angesichts von fast drei Zehnteln Rückstand auf den Finnen nach noch mehr Potential für mehr. „Ich fühlte mich heute nicht besonders schnell“, sagte der Brite.

Mercedes in Sotschi mit weniger Flügel

Ich habe im FP1 auf dem Soft-Reifen einen Verbremser gehabt und dann einen Satz der harten Reifenmischung komplett zerstört. Das FP2 begann viel besser. Mir fehlt nur im ersten und zweiten Sektor etwas Zeit", erklärt Hamilton. "Der letzte war okay, aber ich muss sie noch alle zusammensetzen. Ein paar Dinge kann ich von fahrerischer Seite noch verbessern, dazu geht beim Setup noch etwas." Angesichts dieser Eindrücke sei er von dem großen Vorsprung auf die Konkurrenz überrascht.

An die Longruns zur Vorbereitung auf das Rennen ist da noch nicht einmal gedacht. „Die waren ebenfalls gut“, analysiert Shovlin allerdings sofort glasklar. „Wir sehen etwas besser aus, als dies normalerweise am Freitag der Fall ist - und das, obwohl wir hier mit ein bisschen weniger Flügel fahren.“ Dennoch litten die Reifen am W11 auf bei den längeren Stints weit weniger als jene der Konkurrenz. Vor allem auf den harten Reifen war Mercedes unantastbar, mit einem Schnitt von 1:39.135 Minuten fuhr Bottas auf dieser Mischung sechs Zehntel schneller als der freitags oftmals unverhältnismäßig (vrmtl. weniger Sprit) schnelle AlphaTauri von Pierre Gasly. Alle anderen, die Stints auf Hard absolvierten, darunter Renault und Racing Point, langen mehr als 1,3 Sekunden zurück.

Longruns Hard-Reifen

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeitGefahren gegen
Bottas19131:39.135Ende
Gasly1671.39.714Ende
Ocon1581:40.402Ende
Perez18121:40.510Ende
Stroll1861:40.613Ende
Vettel20101:40.705Ende
Giovinazzi22101:41.352Ende
Latifi27101:41.658Ende

Warum das so wichtig ist? Weil die harten Reifen in Sotschi besonders entscheidend sind. Grund dafür ist, dass Pirelli 2020 weichere Reifen nach Russland gebracht hat als in den Vorjahren, genauer gesagt die weichsten des gesamten Sortiments - C3, C4 und C5. Letzterer erwiesen sich im Training trotz des glatten Asphalts als überfordert, sollte als Rennreifen somit nur äußerst bedingt taugen.

„Der C5 war eine ziemlich aggressive Wahl“, gesteht Pirellis F1-Chef Mario Isola selbst. „Wir haben einen erheblichen Verschleiß festgestellt. Nach 15 Runden war der C5 komplett verschlissen, das hatten wir schon erwartet. Wenn sich jemand damit qualifiziert und darauf startet, dann kann ich mir vorstellen, dass er entweder zwei Stopps einplanen muss oder extrem managen muss, selbst wenn man dann im zweiten Stint mit dem Hard plant.“

Mercedes dominiert auf Schlüsselreifen Hard

Zwei Stopps will in Sotschi jeder dringend vermeiden. Grund dafür ist die in Sotschi von 80 auf 60 km/h heruntergesetzte Geschwindigkeitsbegrenzung in der Boxengasse. Das führt zu einem erheblichen Zeitverlust beim Stopp. 25,6 Sekunden beträgt die Durchfahrtszeit allein. Deshalb erwartet Isola, dass in Russland besonders viele Fahrer versuchen werden, im Qualifying mit dem Medium ins Q3 zu gelangen. So ließe sich die gewünschte Einstoppstrategie mit erst Medium, dann Hard realisieren - zumal Pirelli mit dem Soft auch noch Blasen auf den linken Vorderreifen identifizierte. „Aber C3 und C4 funktionieren gut, das sind gute Reifen für das Rennen“, sagt Isola.

Auf dem Medium sieht Mercedes unterdessen ebenfalls stark aus. Den besten Schnitt erzielte auf dieser Mischung zwar Max Verstappen. Doch fuhr der Red-Bull-Pilot einen kürzeren Stint mit jüngeren Reifen als Hamilton, noch dazu am Ende des Trainings, mit leichterem Auto als der Weltmeister, dem eine halbe Sekunde fehlte. Der andere Red Bull - Alex Albon - hingegen fuhr wie Hamilton am Ende der Session und war zwei Zehntel langsamer als der Weltmeister, trotz eines kürzeren Stints.

Longruns Medium-Reifen

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeitGefahren gegen
Verstappen1671:39.546Ende
Hamilton18101:40.016Mitte
Leclerc1641:40.094Ende
Ricciardo1371:40.162Ende
Albon1651:40.206Ende
Räikkönen1871:41.023Ende
Russell2171:41.711Mitte
Magnussen1881:42.169Mitte

Wenngleich für das Rennen wohl eher zu vernachlässigen, aber der Vollständigkeit halber: Auch auf dem Soft diktierte Mercedes die Pace, wenngleich nicht ganz so überlegen wie auf harten Pneus.

Zwischenfazit: Mercedes dominiert in Sotschi - wie angesichts der Bilanz der letzten Jahre ohnehin erwartet - selbst mit Startschwierigkeiten schon nach Belieben. Doch wie sieht es dahinter aus? Tatsächlich äußerst spannend.

Renault zweite Kraft? Red Bull wackelt

In beiden Trainings erster Mercedes-Verfolger, beeindruckte Renaults Daniel Ricciardo. Nicht nur sich selbst, auch die Konkurrenz. „Im Qualifying Dritter zu werden, wird hart“, sagte Verstappen. „Renault war heute ganz klar sehr konkurrenzfähig und du weißt nie, wer noch.“ Tatsächlich: Auf eine schnelle Runde kauften auch McLaren und Racing Point Red Bull den Schneid ab. Verstappen und Albon kämpften einmal mehr mit einem instabilen Heck - und dem Charakter des Sochi Autodrom.

„Wir wissen, dass diese Strecke nicht die beste für uns ist“, erklärte Verstappen. Allerdings habe Red Bull auch noch mit dem Downforce-Level experimentiert, etwas besser werde es am Sonntag also automatisch. Dennoch müsse man nachlegen, um in den Kampf um P3 eingreifen zu können, so Verstappen. Im Longrun sehe die Welt ohnehin wieder besser aus. Der schon genannte Medium-Run, wenngleich etwas schmeichelnd, bestätigt diesen Eindruck im Ansatz.

„Das war nicht beeindruckend“, meint dagegen Teamkollege Albon über die Longruns der Bullen. Auf dem wichtigen Hard-Reifen liegt leider nicht einmal einer vor, mit Soft lag man hinter Renault und Racing Point, mit dem Medium auf Augenhöhe mit leichter Tendenz zu etwas besser. Hinzu gesellen dürfte sich McLaren. Ausgiebige Vergleichstests mit einem neuen Frontflügel und ein Unfall von Carlos Sainz im ersten Training kaschierten die wahre Stärke Wokings lediglich.

"Es war nicht so locker wie erhofft, aber es lief vernünftig und endete mit einem guten Auto", resümiert Lando Norris trotz allem voller Zuversicht. Auch Sainz hat längst nicht aufgegeben, weiß allerdings genauso um die Stärke vieler Konkurrenten. "Ich habe ein bisschen Sorge wegen Renault und Racing Point, die sehen wie die stärksten Autos aus. Aber wenn wir alles hinbekommen, können wir morgen ein gutes Qualifying haben“, sagte der Spanier.

McLaren vs. Renault vs. Red Bull vs. Racing Point

Die meisten Augen ruhen allerdings auf Renault. Obwohl alles andere als ein Freund Sotschis war Ricciardo im Training on fire - und nimmt erstmals sogar selbst das Wort Podium in den Mund. „Wenn wir es auch im Quali hier hinstellen [auf P3], dann auf jeden Fall. Da bin ich zuversichtlich“, sagte der Australier. „Ich war hier vielleicht zum ersten Mal überhaupt gut drauf! Das fühlte sich gut an. Es war gleich am Morgen so und bleib den ganzen Tag so.“

Gleichzeitig weiß Ricciardo, wie perfekt das Qualifying sitzen muss. "Ich glaube, es wird besonders zwischen uns und den Teams die zwei, drei Zehntel hinter uns sind, noch um einiges enger werden“, mahnt der Renault-Pilot. So sieht es auch das Racing-Point-Lager. „Im Qualifying wird es ein enger Kampf um die Top-Positionen - Red Bull, McLaren und Renault sehen auch stark aus“, sagte Sergio Perez.

Ferrari verbessert, aber nicht gut genug

Zumindest stärker als zuletzt, wenngleich noch nicht der Liga der von Perez Genannten, präsentierte sich in Russland Ferrari. Sowohl Vettel als auch Charles Leclerc fuhren mit kleinen Updates an Front- und Heckflügel des SF1000 in die Top-10. Zumindest auf dem Medium spulte der Monegasse zudem einen vorzeigbaren Longrun ab. "Im Vergleich zu den letzten paar Wochenenden hat es sich ein bisschen besser angefühlt", sagte Vettel.

Forrmel 1, Russland GP: Was bringt das neue Ferrari-Update? (09:39 Min.)

Das Problem: Der aktuell erste Gegner - AlphaTauri - muss sich, wie schon erwähnt, ebenfalls alles andere als verstecken. „Es scheint, als ob wir starke Rennpace haben und ich bin ziemlich zufrieden mit dem Auto im Longrun", sagte Gasly. "Für das Quali fehlt uns aber glaube ich ein bisschen, um wirklich um Q3 zu kämpfen. Deshalb müssen wir heute Nacht arbeiten.“

Fazit und Prognose: Vorne ist alles klar. Pole und Sieg machen Hamilton und Bottas unter sich aus. Dahinter geht es derart eng zu, dass vor allem die Tagesform entscheiden wird. Red Bull als zweite Kraft ist zumindest kein Selbstläufer. Renault, Racing Point und McLaren - allesamt sind gefährlich. Vor allem im Qualifying, diesmal womöglich auch im Rennen. Damit sind die Top-10 verteilt. Ferrari und AlphaTauri brauchen Glück (oder Pech der Konkurrenz), um diese Gefilde zu erreichen. Das zuletzt verbesserte Alfa Romeo folgt dahinter, scheint aber wieder etwas verloren zu haben. Haas und Williams fehlt noch etwas mehr.

Longruns Soft-Reifen

FahrerReifen-AlterStint-LängeZeitGefahren gegen
Hamilton1551:39.972Ende
Bottas1851:40.095Mitte
Perez1461:40.329Mitte
Ricciardo1491:40.617Mitte
Verstappen1471:40.638Mitte
Gasly1991:40.864Mitte
Leclerc1941:41.045Mitte
Stroll1571:41.093Mitte
Vettel1561:41.098Mitte
Ocon1381:41.229Mitte
Sainz18121:41.292Ende
Albon1571:41.308Mitte
Magnussen1461:41.388Ende
Norris1681:41.629Ende
Räikkönen151:42.111Mitte
Grosjean1471:42.241Ende
Giovinazzi1461:42.283Mitte