Seit sechs Jahren erdrückt Mercedes seine Mitbewerber in der Formel 1. Sämtliche WM-Titel seit 2014 gingen an die Silberpfeile, in nahezu jeder Saison mit großem Vorsprung auf die Konkurrenz. Red Bull setzte immerhin punktuell Nadelstiche, doch einzig Sebastian Vettel und Ferrari hielten 2017 und 2018 zumindest im Ansatz mit. Letztlich fielen die Entscheidungen auch in diesen Jahren dennoch deutlich und vorzeitig aus.

2020 bahnt sich nun das Unfassbare an: Die Dominanz Mercedes’ scheint noch größer geworden. In den ersten drei Saisonrennen wusste niemand, Mercedes auch nur im Ansatz Paroli zu bieten. „So deutlich wie jetzt war die Überlegenheit aus meiner Erinnerung noch nie“, analysierte Mercedes ehemaliger Motorsportchef Norbert Haug nun in einem Interview mit ‚Sky Sports’.

Red Bull verrennt sich, Ferrari abgestürzt

Das liegt jedoch nicht nur an Mercedes selbst, sondern auch an der schwächelnden Konkurrenz. Red Bull verrannte sich in den ersten Saisonrennen mit dem Setup, Max Verstappen und Alex Albon konnten das offenbar zumindest irgendwo schlummernde Potenzial des RB16 nicht entfesseln.

Ferrari stürzte komplett ab, Sebastian Vettel und Charles Leclerc fuhren nur noch im Mittelfeld. Bei der Scuderia stimmt 2020 nichts mehr - weder Chassis noch Power Unit. Nach dem Eklat rund um die Motor-Tricksereien im Vorjahr musste Ferrari an dieser Front abrüsten, verlor erheblich an Performance.

Ferrari-Pace nach Motor-Skandal verloren

„Man muss leider sagen, dass Ferrari sich einen Vorteil verschafft hat in den letzten Jahren, ganz stark im letzten Jahr - offenbar etwas am Auto gemacht, am Motor gemacht, um mehr Leistung zu bekommen, was nicht innerhalb des Reglements war“, sagte Haug. „So wie Mercedes jetzt neun Zehntel, fast eine Sekunde, pro Runde schneller geworden ist, ist Ferrari um diesen Wert langsamer geworden. Das ergibt dann ein Loch von 1,7 bis 1,8 Sekunden.“

Damit nicht genug. Der eigene Performance-Verlust - in Österreich fuhr Ferrari den eigenen Zeiten aus dem Vorjahr weit hinter - ist das eine. Der Performance-Gewinn Mercedes’ das andere. Wieso legte Mercedes gegenüber dem Vorjahr derart nach, ersichtlich etwa durch Lewis Hamiltons Pole-Zeit in Ungarn, mehr als eine Sekunde schneller als der beste Mercedes 2019? Haug führt das auf eine direkte Reaktion auf das Geschehen bei Ferrari 2019 zurück.

Haug: Ferraris Über-Motor war Ansporn für Mercedes

„Man hat Mercedes sehr provoziert. Es wurde berichtet über den stärksten Motor, den habe Ferrari“, erinnerte Haug an die zahlreichen Schlagzeilen des Vorjahres über den Wunder-Motor aus Maranello. Da zweifelten in der Formel 1 zwar schon einige an der Legalität, wirklich offensichtlich wurde Ferraris Operieren im dunkleren Teil des Graubereichs jedoch erst mit der FIA-Aussendung zu einer Einigung mit Scuderia nach gründlicher Analyse des Vorjahresmotors am Ende der Testfahrten 2020.

Bis dahin, so Haug, war aber längst der Ehrgeiz in Brixworth geweckt, Ferrari den Nimbus der Motoren-Führung wieder zu entreißen. „Wenn man den Jungs ein rotes Tuch vorhält, dann greifen die richtig an. Das war noch mehr Ansporn für Mercedes noch besser zu werden, noch fehlerloser zu werden.“ Genau das funktionierte. Das zeigt sich auch an Motorenkunde Williams, im Qualifying plötzlich Q2-Kandidat und voller Lob für den großen Fortschritt des Mercedes-Antriebs über den Winter.

Mercedes für Haug auf nie dagewesenem Level

Auch Lewis Hamilton sprach zuletzt in Ungarn mehrfach fast schon von einem perfekten Auto. Im W11 hätten die Ingenieure jedenfalls auch die letzten Verbesserungsvorschläge der Fahrer zu den schon genialen Boliden der Vorjahre umgesetzt.

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„Wir haben Ende 2009 dieses Silberpfeil-Werksteam gekauft und mit Michael Schumacher und Nico Rosberg angefangen. 2012 das erste Rennen gewonnen und heute fährt man dort von Sieg zu Sieg - wohlverdienter Weise“, sagte nun auch Haug. „Was da in den letzten sechs Jahren an Perfektion erreicht worden ist, dass sucht einfach seines Gleichen in er Geschichte des Rennsports.“

Mercedes 2020 unschlagbar?

Während Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff trotz alldem sein bekanntes Understatement fortführt, die Saison 2020 noch längst nicht als gewonnen betrachten will, sieht sein Nachfolger das entschieden anders. Um Mercedes jetzt noch zu schlagen müsse schon viel passieren. „Rot wird es sehr schwer haben“, sagte Haug. Einzig auf Ausnahmerennen mit klaren Mercedes-Patzern sei zu hoffen.

Und Red Bull? Oder Racing Point, für Haug aktuell die zweite Kraft der Formel 1? Haug winkt ab: „Ich glaube auch nicht, dass sich das [Mercedes in einer eigenen Liga] so schnell ändern wird und schon gar nicht in Silverstone. Das ist das Heimrennen von Lewis Hamilton, Heimrennen der Silberpfeile. Silverstone wird ein ganz schwieriger Gang für alle werden, die nicht Mercedes heißen.“

Langeweile wegen Mercedes ist in der Formel 1 also offenbar auch 2020 zu befürchten. Wegen Mercedes? Das lässt Haug nicht gelten: „Wenn man sagt, Mercedes macht die WM langweilig, dann muss ich das richtigstellen. Die, die nicht hinterherkommen machen die WM langweilig und nicht die, die vorne rausfahren. Denn das ist Sinn und Zweck der Sache.“