Sebastian Vettel ist derzeit in aller Munde. War es das mit dem viermaligen Weltmeister?
Christian Danner: Ich verstehe, wenn es viele Leute gibt, die den Sebastian jetzt abschreiben. Ich schreibe ihn aber noch lange nicht ab. Wenn man alle Punkte zusammenzählt, kommt heraus: Er kann Leclerc schlagen. Und wenn er Leclerc schlagen kann und das Auto schnell genug ist, dann gewinnt er auch Rennen.

Wenn wir den Problemen einmal genauer auf den Grund gehen und die Punkte zusammenzählen: Woran liegt es? Am Auto, am Rückhalt im Team, am Teamkollegen selbst?
Christian Danner: Jeder sagt: Oh Gott, er macht andauernd Fehler, der Leclerc ist besser. Deshalb finde ich es gut, dass wir das genauer analysieren und aufdröseln. Lass uns damit anfangen, wo er im vergangenen Jahr die meisten Schwierigkeiten hatte: Dem Rückhalt im Team. Rückhalt ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Lass mich erklären warum: Wenn du um die Weltmeisterschaft fährst, brauchst du eine grundsätzliche Einstellung deines Teams in Sachen Strategie, die heißt: 'Sebastian First' - egal was ist.

Genau wie es bei Mercedes war, als Bottas im vergangenen Jahr in Sochi in Führung lag. Genau das hat Maurizio Arrivabene überhaupt nicht verstanden. Deshalb ist es im Nachhinein tragisch, dass es so schlecht für Sebastian lief. Denn im letzten Jahr hatte er zumindest ein Auto, mit dem er die WM hätte gewinnen können - mit mehr Unterstützung im Team.

Und in diesem Jahr?
Christian Danner: Mattia Binotto hat von Anfang an gesagt, dass Sebastian Ferraris Nummer eins ist, weil er die Erfahrung hat. Gleichzeitig hat er damit Charles Leclerc einen riesen Gefallen getan, denn er hat damit Druck aus dem Kessel genommen. Auf der Strecke gab es zunächst genügend Belege für Binottos Versprechen: Nicht nur die Strategie, sondern auch Stallregie ging ganz klar pro Vettel. Soweit, so gut.

Allerdings ist Binotto - im Vergleich zu Arrivabene - ein richtiger Racer. Und er hat immer, wenn sich die Situation so ergeben hat, nach dem Motto 'Ferrari First' gehandelt. Wenn Leclerc vorne war, hatte er die Hosen an. Das Motto lautete ganz klar: Das Team muss gewinnen, danach schauen wir weiter. Diesen Spagat hat Binotto hervorragend hinbekommen. Jetzt hat es sich in Spa und Monza in diese Richtung gedreht. Aber er wird auch wieder für Sebastian entscheiden, wenn es die Situation verlangt, also er der Schnellere ist.

Also ist der Rückhalt im Team da?
Christian Danner: Der Rückhalt im Team ist absolut da. Die ganz pragmatische Entscheidung von Ferrari, dem Mann, der näher am Sieg ist, den Vorrang zu geben, das versteht ein Sebastian Vettel auch. In Spa hat er sogar noch Lewis Hamilton in ein Duell verwickelt. Den Enthusiasmus habe ich dann aber in Monza verständlicherweise nicht mehr gesehen. Soweit die nüchterne Analyse. Die italienische Presse und die Fans sehen das natürlich anders. Binotto ist ein loyaler und fairer Mensch, der lässt Sebastian nicht hängen. Auch jetzt nicht, wo er offensichtlich ein Problem hat. Er ist nicht wie die italienische Öffentlichkeit.

Rote Krise: Demontiert Sebastian Vettel sein F1-Vermächtnis?: (24:02 Min.)

Manch einer glaubt, dass Vettel politisch im Nachteil ist, weil Leclerc von Nicolas Todt gemanagt wird.
Christian Danner: Was will denn ein Fahrermanager bei Ferrari bewirken? Nichts, außer einen noch besseren Preis auszuhandeln. Wir können gerne darüber diskutieren, ob Sebastian nicht mit einer Art Team bei Ferrari besser aufgestellt wäre als jetzt als Einzelkämpfer. Aber Nicolas Todt wird Sebastian das Auto nicht besser und nicht schlechter machen.

Kommen wir zum Auto: Wo drückt hier der Schuh?
Christian Danner: Darüber müssen wir etwas detaillierter sprechen. Ich habe mir fest vorgenommen, die Thematik demnächst mit ihm von Rennfahrer zu Rennfahrer zu besprechen. Ganz ohne journalistischen Hintergrund, ich möchte ihn als Rennfahrer verstehen. Bis dahin würde ich es einmal wie folgt sehen: Er hatte in diesem Jahr in drei Rennen das gleiche Problem, nämlich dass ihm das Heck weggegangen ist. In Bahrain war es ein Exit-Oversteer, in Kanada und Italien war es ein Turn-In-Oversteer. Kanada und Italien waren dabei fast identisch, nur dass er es in Monza nicht mehr geschafft hat, die Lenkung aufzumachen.

Deshalb sehe ich ganz klar ein Autoproblem bei Sebastian. Das ist aber ein Autoproblem, das sich über die Saison hinweg erst richtig entwickelt hat. Denn bei den Testfahrten im Winter war er noch unglaublich glücklich und hat vom Auto geschwärmt. Wie kommt es, dass jemand, der mit einem Auto super fahren kann, plötzlich ein Auto hat, mit dem er sich bei drei Gelegenheiten im Rennen dreht? Es muss irgendetwas sein, das seinem Fahrstil nicht gut tut.

Und zwar?
Christian Danner: Man muss sich das Puzzle zusammenbauen. Wir wissen, dass der Ferrari ein sehr effizientes Auto ist, aber schlichtweg zu wenig Abtrieb hat. Hinten produzieren die Autos den meisten Abtrieb. Beim Ferrari konnte man öfter in dieser Saison extremes Untersteuern beobachten. Um das in den Griff zu bekommen, haben sie irgendetwas am Auto verstellt, das dazu geführt hat, dass er nun hinten nervös ist. Und zwar genau beim Einlenken.

Das ist der Teufelskreis beim Finden einer halbwegs akzeptablen Balance. Man versucht, ein Problem am Auto zu übertünchen. Das Problem heißt wenig Abtrieb. Die Folge ist, dass die Balance Vorderachse zu Hinterachse nicht mehr stimmt. Dann muss ich irgendwelche brachialen Mittel nehmen, die Nebenwirkungen haben. Die Nebenwirkung ist, dass das Auto beim Einlenken unheimlich ist.

Und daran kann sich der Fahrer nicht anpassen?
Christian Danner: Die Kritiker sagen: Das ist ein vierfacher Weltmeister, der wird doch so ein Auto fahren können. Natürlich gibt es adaptives Fahren. Das bedeutet, dass ich mich als Fahrer mit meinem Fahrstil an das, was das Auto kann, anpassen kann. Die Frage ist, bis zu welchem Punkt ich das kann. Ich sage ganz ehrlich: Ich konnte das nur bis zu einem ganz gewissen Punkt. Wenn das Auto nicht gemacht hat, was ich wollte, hatte ich auch solche Probleme. Das ist normal. Jeder Rennfahrer braucht bei aller Anpassung ein Auto, das seinem Fahrstil entspricht. Deswegen arbeitet er auch die ganze Zeit mit den Ingenieuren, um das Auto so einzustellen, dass er selbst das Maximum als Fahrer herausholen kann.

Das klappt offensichtlich nicht, weil das Auto limitiert ist. Vielleicht haben sie in Singapur schon etwas Neues und dann klappt es plötzlich viel besser. Ich halte es für völlig normal, dass ein Rennfahrer ein Auto braucht, das seinem Stil entspricht. Wenn ich beobachte, wie auch ein Lewis Hamilton, dem man wirklich nicht viel vorwerfen kann in diesem Jahr - er fährt brillant - Probleme bekommt, wenn das Auto nicht so ist, wie er es braucht. Wenn ihm so etwas passiert, warum darf es dann Sebastian nicht passieren?

Warum bekommt es Leclerc dann hin?
Christian Danner: Es kommt sehr stark auf das Lenkverhalten an. Nicht nur wann oder wie viel, sondern auch wie schnell man einlenkt. Es kommt ganz darauf an, wie ein Fahrer die Richtungsänderung eines Autos einleitet. Mit viel oder wenig Lenkradeinschlag, ganz schnell und kurz oder progressiv. Auch die dynamische Achslastverteilung, also wie sehr er dabei auf der Bremse steht, hat einen Einfluss. Das sind Dinge, mit denen man ein bisschen herumspielen kann, aber da hat jeder seinen Stil. Den hat Hamilton ganz genauso, den hat Vettel und den hat auch Leclerc. Nur für Leclerc passt es offensichtlich besser.

Welche Rolle spielt Leclerc an sich bei Vettels Problemen?
Christian Danner: Leclerc war für den Sebastian fahrerisch durchaus einzuschätzen. Dass da nicht irgendeiner kommt, der ganz ordentlich ist, sondern dass da etwas Herausragendes kommt, das war ihm klar. Daran kann es nicht liegen, da hat Leclerc sicherlich nichts mit Sebastian gemacht. Was allerdings intern an Absprachen gemacht wurde, wer sich wie daran gehalten hat, das ist ein Thema, das höchstinteressant ist.

Wir wissen nicht ganz genau, was sie da in Monza ausgemacht haben. Aber eines muss man schon sagen: Dieser Leclerc ist abgebrüht ohne Ende und lässt den Sebastian immer auflaufen, wenn es um seinen Vorteil geht. Aber gehen wir ein paar Jahre zurück: Ich erinnere an Multi 21. Vettel ist aus demselben Holz geschnitzt. Aber er war wohl überrascht, wie knallhart es Leclerc durchgezogen hat. Es ist nicht so, dass er das nicht auf dem Schirm haben kann, weil er selbst genauso tickt.

Deshalb wird Leclerc den Sebastian grundsätzlich nicht zur Einnahme von Antidepressiva bringen. Sebastian weiß sich da zu wehren und er wird sich auch wehren können - aber dafür benötigt er auch die Technik. Dass Leclerc jetzt zweimal gewonnen hat, hinterlässt bei Sebastian keine psychischen Schäden.

Leclerc vs. Vettel: Kommt es zum großen Knall bei Ferrari?: (24:55 Min.)

Einige glauben, Vettels Probleme haben mit seinem Unfall in Hockenheim 2018 begonnen.
Christian Danner: Was soll er da abbekommen haben? Soll er sich erschrocken oder das Selbstvertrauen verloren haben? Nein, das ist nicht so. Ich verstehe, dass man das denken kann, es liegt auf der Hand, so einen Zusammenhang zu sehen. Aber Sebastian ist ein stabiler Charakter, der so etwas wegstecken kann. Da habe ich keine Bedenken.

Wie kann er sich aus der aktuellen Misere rausziehen - oder kann er sich überhaupt herausziehen, wenn Ferrari ihm kein Auto gibt, das zu seinem Fahrstil passt?
Christian Danner: Es ist schwierig wenn du Gefangener bist. Ich habe eine ganz eigene Geschichte dazu: Anfang des Jahres 1985 sind wir mit der Formel 3000 in Estoril gefahren. Mein March war ein Auto, das auf der Hinterachse extrem instabil und nervös war.

Ich konnte damit einfach nicht richtig fahren. Gabriele Tarquini mit dem gleichen Auto, mit den gleichen Reifen ist Kreise um mich gefahren. Etwas später in der Saison konnte ich das Problem lösen, das Auto hat gemacht was ich wollte und ich bin Europameister geworden. Wenn du das, was du brauchst, nicht bekommst, dann stehst du auf verlorenem Posten. Es ist leider so. Wenn Sebastian nicht bekommt, was er braucht, steht eben auch er auf verlorenem Posten.

Leclerc kommt offenbar damit klar, Vettel nicht. Kann man ein Team in eine Richtung treiben?
Christian Danner: Natürlich. Aber: Wenn er bekommt, was er braucht, fahren beide schneller! Da bin ich mir ziemlich sicher. Wer weiß, was sie nach Singapur bringen. Vielleicht haben sie da schon ordentlich nachgelegt und das Auto hat seine Attitüde verändert. Es ist nicht so, dass man das nicht umbauen kann. Vettel und Leclerc leiden ja beide unter dem Thema, dass das Auto zu langsam ist, weil es zu wenig Abtrieb hat. Wenn die Entwicklung dorthin geht, was Sebastian fordert, profitieren sicherlich beide davon. Ich glaube nicht, dass Leclerc sagt, er hätte es gerne so, wie es jetzt ist - denn er weiß genau, dass das zu langsam ist.

Also muss man sich nicht übermäßig Sorgen um Vettel machen? Einige glauben an einen frühzeitigen Rücktritt, andere dichten ihm einen Teamwechsel an.
Christian Danner: Ich glaube Folgendes: Solange das Feuer des Rennfahrers in ihm brennt, wirft er die Flinte nicht ins Korn. Auch gegen harte Konkurrenz nicht. Er muss da durch und ich traue ihm zu, dass er aus diesem Schlammassel wieder herauskommt. Dass das kein allzu großes Zuckerschlecken wird, ist klar. Die italienische Presse lästert gegen ihn, teamintern ist es in Zukunft sicherlich auch nicht so angenehm. Die psychologische Kriegsführung, die bevorsteht, kostet natürlich Kraft ohne Ende. Aber ich traue Sebastian hier und heute zu, dass er aus diesem Loch wieder herauskommt.

Werden die teaminternen Kämpfe nicht automatisch abflachen, weil es voraussichtlich nicht mehr um Siege geht?
Christian Danner: Die beiden werden, egal wo sie fahren, immer auf Augenhöhe fahren und deshalb auch immer direkt gegeneinander fahren. Da ist das Verständnis von Vettel, mal etwas für den Leclerc zu tun, inzwischen bei deutlich unter null.

Also ist die teaminterne Situation für Vettel gefährlicher als die sportliche Lage?
Christian Danner: Genau so sehe ich das. Das wird sicherlich sehr kernig. Es ist allerdings schwer, das zu verfolgen. Ferrari wird alles dafür tun, es unter Verschluss zu halten. Binotto musste es in Italien schlucken, weil er wusste, dass er unter normalen Umständen nicht mehr viele Chancen hat, Rennen zu gewinnen. Da hat er auch einem etwas unfairen und Chaos kreierendem Leclerc verziehen, denn er hat abgeliefert.