Ferrari hat sich bei den Formel-1-Testfahrten 2019 zum WM-Favorit gemausert - wieder einmal. Weltmeister Mercedes schaute sich die Vorstellung von Sebastian Vettel und Charles Leclerc samt der zwei schnellsten Zeiten auf dem Circuit de Barcelona-Catalunya aus der zweiten Reihe an. Lewis Hamilton sieht die Scuderia noch stärker als 2018, sein Team dafür deutlich im Rückstand.

"Ich denke, es könnte unter Umständen eine halbe Sekunde sein. Irgendetwas in der Richtung", beziffert der fünfmalige Champion den Rückstand auf den großen Rivalen. Ein Rückstand, der für die Seriensieger aus Brackley eine ziemliche Hausnummer wäre, sollte es auch beim Saisonauftakt in Melbourne so aussehen.

Vergangene Saison hielt sich Mercedes bei den Testfahrten über die gesamten zwei Wochen bedeckt. Während Ferrari sich mit schnellen Zeiten zum Testchampion machte, verzichtete Mercedes auf den Einsatz weicher Reifenmischungen und die Zeitenjagd fürs Ego. 2019 traute sich das Team mehr aus der Deckung. Etwas, das bereits jetzt größere Defizite offenbarte.

Hamilton mutmaßt: Ferrari-Frühstart wegen WM-Pleite 2018

"Letztes Jahr, wenn wir hinter ihnen waren, war es nicht annähernd so viel", schlägt Hamilton Alarm, der bereits Mutmaßungen anstellt, wie sich Ferrari in diese scheinbar perfekte Ausgangslage gebracht haben könnte. "Natürlich hast du während der Saison eine große Gruppe von Leuten, die darauf hinarbeiten, die Weltmeisterschaft zu gewinnen", so der Brite.

In Maranello, so glaubt er, haben diese Ressourcen nicht so lange Vollgas gegeben, wie bei Mercedes. "Wenn es nicht danach aussieht, dass du Weltmeister wirst, ziehst du vielleicht früher Leute aus diesem Team ab. Sie haben höchstwahrscheinlich einen ganzen Monat früher mit der Entwicklung ihres Autos begonnen, mindestens, während wir gepusht haben um den WM-Titel zu holen, was wir ja auch geschafft haben."

Hamilton weiß, wovon er spricht. Seit seinem Debüt in der Formel 1 fährt er für Teams mit WM-Ambitionen und den entsprechenden Ressourcen. Oft genug fand er sich auf der Seite wieder, auf der sich in den vergangenen Jahren Sebastian Vettel befand. "Wenn du der Jäger bist ist es anders, verglichen mit der Position des Gejagten", so der 34-Jährige.

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Hamilton sieht kein Defizit beim Mercedes-Konzept für 2019

Wie sehr sich der Mercedes F1 W10 und der Ferrari SF90 in ihren Konzepten unterscheiden, wurde schon beim Launch deutlich. Hamilton will aber noch nicht so weit gehen, Ferrari die bessere Basis für 2019 zuzugestehen. "Das ist immer noch ein Fragezeichen, ob sie oder wir die richtige Philosophie verfolgen", sagt er.

Doch während bei Ferrari bisher nur positive Resonanzen der Fahrer die Runde machten, sah das Feedback der Mercedes-Piloten verhaltener aus. "Wir sind uns darüber im Klaren, dass unser Auto in diesen zwei Wochen nicht optimal performt hat und wir es verbessern müssen. Aber das dauert seine Zeit", so Hamilton.

Der Rückstand zu Saisonbeginn ist für ihn hinsichtlich der Weltmeisterschaft kein Grund zur Panik: "Sie sind letztes Jahr mit einem Auto hierher gekommen, das gut funktionierte, und sie sind dieses Jahr sogar noch besser. Aber das ist okay. Uns stören diese Herausforderung und dieser Kampf nicht. Es bedeutet einfach nur, dass wir härter arbeiten müssen."

Mercedes will bis Australien Zeit finden, Hamilton übt sich in Zweckpessimismus

Was den Saisonauftakt angeht, sieht es allerdings etwas anders aus. Die Teams haben zwischen den Testfahrten und Australien kaum Zeit, die Daten aus Barcelona abzuarbeiten und sich für das erste Rennen in Position zu bringen. Hamilton glaubt jedoch nicht, dass sein Team die Lücke zu Ferrari in dieser Zeit schließen kann: "Ich habe keinen Grund, zu erwarten, dass es weniger wird."

Etwas, das auf den ersten Blick wie der übliche Zweckpessimismus der Weltmeister klingt. Doch letztendlich ist die Gefahr real, von Ferrari, die bereits seit zwei Jahren am Thron rütteln, abgehängt zu werden. "Natürlich hoffen wir, dass es nicht mehr wird. Wir hoffen, dass es weniger wird. Aber darauf können wir uns nicht verlassen. Wir müssen darauf hinarbeiten, diesen Rückstand zu verringern, von dem wir glauben, dass wir ihn haben", so Hamilton.

Er wird über das Wochenende der Fashion Week in Paris beiwohnen und am Montag ins Werk in Brackley zurückkehren. "Wir werden über die kommende Woche hoffentlich noch mindestens ein Zehntel finden, einfach dadurch, das Auto besser zu verstehen", sagt er. Doch auch mit der aktuellen Basis könne sich das Kräfteverhältnis in Australien noch auf ganz natürliche Art und Weise verschieben.

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Testfahrten sind kein Grand-Prix-Wochenende

"Wenn wir dort sind, könnte der Abstand größer oder kleiner sein, wir könnten auch gleichauf sein", so Hamilton. Etwas, das nicht nur durch den Albert Park Circuit bedingt ist, der eine vollkommen andere Charakteristik als Barcelona aufweist. Denn die Erkenntnisse der Testfahrten sind wie immer nicht die ganze Wahrheit, die am Samstag im Qualifying auf den Tisch kommt.

"Du kannst beim Blick auf die GPS-Daten nicht wissen, welchen Motormodus oder welche Benzinmenge jemand fährt", merkt Hamilton an. "Sie [Ferrari] sind auf den Geraden zum Beispiel schneller als wir. Aber warum ist das so? Haben sie wieder ihren flexiblen Flügel, der den Luftwiderstand reduziert? Oder haben sie den Motor mehr aufgedreht, sind sie einfach so effizienter und haben weniger Luftwiderstand? Oder waren wir schwerer unterwegs? Das alles werden wir vor dem ersten Rennen nicht wissen."

Hamilton will Kräfteverhältnis in der Formel 1 2019 erst abwarten

Für gewöhnlich kristallisiert sich das endgültige Kräfteverhältnis aber auch beim Saisonauftakt nicht heraus. Hamilton hat aktuell neben Ferrari auch Red Bull auf der Rechnung. Und selbst das Mittelfeld sieht er stärker als in der Vergangenheit: "Das ganze Feld ist zusammengerückt. Ich weiß nicht, wer Vierter ist. Aber früher war der Abstand eine Sekunde, jetzt sind sie auf einer halben Sekunde an uns dran."

"Es wird aufregend, vielleicht sehen wir ein paar Rennen, in denen ein Renault oder Racing Point viel weiter vorne als früher mitfährt. Melbourne wird das erste Mal sein, dass wir einen richtigen Einblick bekommen. Aber danach ist es wie jedes Jahr. Es wird etwa vier Rennen dauern, bis du wirklich weißt, wo du stehst."