Überholen, vor allem die schiere Anzahl der Überholmanöver in der Formel 1. Ein Thema, das die Königsklasse bereits seit Jahren auf Trab hält. Erst nach dem Saisonstart 2018 in Australien wieder. Nur fünf echte Überholmanöver auf der Strecke wurden in Melbourne gezählt. Sofort schrillten die Alarmsirenen, trotz eines dennoch spannenden Grand Prix'. Es müsse Hand an die Aerodynamik-Regeln angelegt werden, sagte Liberty Medias Sportchef Ross Brawn.

Denn: Verwirbelte Luft, die im F1-Fachjargon sogenannte Dirty Air, erschwert Rad-an-Rad-Duelle und das Überholen in der Formel 1 aktuell ganz massiv. "Du verlierst Abtrieb, als hättest du einen kleineren Flügel auf dem Auto. Du rutschst mehr, und wenn du mehr rutschst, überhitzen die Reifen. Wenn das geschieht, verabschiedet sich der Grip noch mehr, sodass du noch mehr rutscht. Normalerweise verlierst du vorne mehr als hinten", erklärt Haas-Pilot Romain Grosjean das Teufelskreis-Phänomen.

Formel-1-Regelrevolution 2017 auch mit negativen Folgen

"Der Frontflügel bekommt im Grunde keine Luft, sodass du an der Vorderachse Abtrieb verliert und überall Untersteuern hast", ergänzt Teamchef Günther Steiner. Das Problem hatte sich durch die revolutionierten Formel-1-Regeln zur vergangenen Saison wieder verschärft. 2017 zählten die Statistiker 818 Überholmanöver, 2016 waren es nur noch 1274.

Deshalb hinterfragt manch einer im Rückblick, ob der große Hype um die neuen Regeln wirklich so richtig war. "Letztes Jahr war sehr langweilig. Wie viele richtige Überholmanöver habe ich gemacht? Nicht viele. 2015 und 2016 konntest du immerhin etwas mehr überholen und hattest ein großes Lächeln im Gesicht wenn du vorbei bist. Du konntest kämpfen. Heute ... mit DRS und wenn du etwas Glück hast vielleicht. Die Autos machen jetzt mehr Spaß, aber nicht beim Hinterherfahren", sagt etwa Max Verstappen zu Motorsport-Magazin.com.

Ricciardo & Verstappen: Balance Speed & Racing stimmt nicht

Verlängerungen der DRS-Zonen wie in Bahrain würden deshalb helfen. "Aber das wollen wir ja nicht sehen - nur DRS-Überholmanöver. Es muss für die Fans unterhaltsam sein."

SaisonGesamtPro RennenAnteil DRS-ManöverÜberholmanöver P1
2016127470,839%2
201781845,432%9

* Regenrennen gingen nicht in die Statistik ein

Auf der anderen Seite steht jedoch eine Reihe an Fahrern, die den Hypetrain weiterfahren. Die aktuellen Downforce-Monster würden die Formel 1 dank krasser Kurvenspeeds und ultimativer Geschwindigkeit erst wieder so richtig geil machen, heißt es. "Wir wollen schnell fahren, aber nicht nur hinterherfahren. Wir sind jetzt ein bisschen schneller und das macht es etwas schwieriger", schildert Daniel Ricciardo jedoch direkt auch die negativen Folgen.

"Letztes Jahr sahen die Autos viel cooler aus. Doch es gab schon wegen der Breite Bedenken, ganz abgesehen vom Speed. Das allein bedeutet, dass du nicht mehr so einfach genug Platz findest, weil die Autos auf der Strecke einfach mehr Platz einnehmen", ergänzt der Formel-1-Pilot. Geht es nach Ricciardo, sollte die F1 deshalb lieber wieder einen kleinen Schritt zurückgehen. "Wenn ich mir eines der beiden aussuchen könnte, würde ich lieber etwas langsamer fahren und würde racen, statt schnell zu fahren und nicht zu racen. Aber ich bin sicher, dass sich da eine Balance finden lässt."

Die Formel 1 brauche ein wenig von beidem. "Sicherlich ist es beeindruckend, uns im Qualifying in den Highspeed-Kurven zu sehen. Aber leider werden einige Strecken eine ziemliche Prozession sein. Wir können aber nicht zu weit zurückgehen. Die Autos sind jetzt schnell und cool. 2014 und 2015, da waren die Autos signifikant langsamer, vielleicht zu langsam, aber es wurde viel mehr überholt", so Ricciardo. "Melbourne war immer schon sehr hart was das Überholen anging. Ich denke wir werden aber auch wieder Strecken haben, wo wir überholen können", sagte Ricciardo vor dem zweiten Saisonrennen in Bahrain.

Formel-1-Regeln 2019 & 2021: Das soll sich ändern (10:24 Min.)

F1-Rennen in Bahrain und China liefern Überholaction

Das wurde in Bahrain dann auch gleich deutlich besser. 42 Überholmanöver, China knüpfte mit 45 direkt daran an - nicht zuletzt dank Ricciardo. Genau deshalb dürften sich unzählige Stimmen, die vor Aktionismus gewarnt hatten, jetzt bestätigt sehen.

"Man könnte etwas ändern, aber ich will nicht einfach irgendetwas Verrücktes oder anderes machen und dann wird es nichts. Darüber muss nachgedacht werden", sagte etwa Ricciardo selbst. Genau das tat die Formel 1 zuletzt, rief eine spezielle Arbeitsgruppe ins Leben, die sich einzig und allein - in Abstimmung mit den Teams - des Themas annimmt.

F1-Analyse zu möglichen Aero-Änderungen

Genaue Analysen auf einem solchen Weg sind aus mehreren Gründen erforderlich. Zum einen die Gefahr, es bei überstürzten Änderungen etwa mit Blick auf die Aerodynamik zu übertreiben. "Es darf nicht komplett einfach sein", sagt Ricciardo. Ein Überholmanöver müsse schon noch etwas wert sein. "Das ist befriedigender", so Ricciardo.

Tun müsse sich allerdings etwas, so sein Teamkollege Max Verstappen. "Es muss sich etwas verändern mit dem Überholen. Das ist gerade gar nicht aufregend, da fehlt die Spannung", sagt Verstappen. Wie Ricciardo fordert der Niederländer eine bessere Balance. "Es muss das schnellste Auto aller Kategorien sein", sagt Verstappen über die Formel-1-Boliden.

Formel 1 2018: Warum waren F1-Autos 2004 so schnell? (Q&A) (26:55 Min.)

Muss die Formel 1 SO viel schneller sein als alle anderen?

"Aber muss es so schnell sein? Sollte es nicht lieber zwei Sekunden langsamer sein, dass du besser kämpfen und racen kannst? Ich denke, die Fans kümmern sich nicht wirklich um zwei Sekunden schneller oder langsamer", schildert der Red-Bull-Pilot Motorsport-Magazin.com.

Dennoch: Die Sorgen vor überstürzten Aktionen überwiegen klar, auch auf Ebene der Teamchefs. So scheiterte in Bahrain ein Meeting der Arbeitsgruppe, bei dem Änderungen bereits für 2019 diskutiert worden waren. Diese fokussierten sich auf einen vereinfachten Frontflügel, Anpassungen an den seitlichen Luftleitblechen, um die Folgen von Dirty Air einzudämmen, und ein wirksameres DRS.

Ross Brawn: Letzte Änderungen für Formel 1 falsch

"Es gibt ein paar Vorschläge an die Teams, was wir für 2019 potentiell machen können. Wenn man sich nur die Frontflügel gerade anschaut - sie sind hoch komplex und der Luftstrom um den Flügel herum ist auch unglaublich komplex, was das Auto an der Front sehr sensibel macht. Also müssen wir die Frontflügel vereinfachen, um zurückzugehen, um in die richtige Richtung zu gehen. Alles, was wir hier in den letzten Jahren gemacht haben, ging in die falsche Richtung", wirbt Liberty-Sportchef Brawn bei Sky Sports UK erneut für die Pläne der F1-Bosse.

Doch bei einem Meeting von Strategiegruppe und F1-Kommission nach dem China GP wurden noch keine Beschlüsse für eine schnelle Lösung - schon für 2019 soll sich nach Ansicht der Formel-1-Bosse unbedingt etwas tun - in Sachen Aerodynamik gefasst. Diese müssen bis Ende April jedoch folgen, soll eine wichtige Deadline nicht verstreichen. Nach dem 30. April ist sonst die Einstimmigkeit aller zehn Teams erforderlich - in der Formel 1 bekanntlich eine Rarität.

F1-Teams warnen vor Aktionismus und ungewollten Folgen

Das gilt umso mehr, lauscht man nur den Worten mancher Teamchefs. "Was ist die Strategie dahinter? Nur Überholen - das ist eine übers Knie gebrochene Aktion nach Australien. Weil schon Bahrain eines der besten Rennen der letzten Dekade war", sagt etwa McLaren-Renndirektor Eric Boullier. "Wenn alles nur eine Reaktion auf Australien ist, dann geht mir das etwas zu schnell."

Boullier hält mehr von der regulären Arbeit für 2021, wenn sich die Formel 1 wirklich ganzheitlich neu aufstellt. Schnellschüsse schon zuvor? Nicht mit dem Franzosen - auch aus Kostengründen. "Sollen wir die Aero-Regeln der Formel 1 in zwei Monaten radikal ändern? Mit dem Risiko, dass wir es 2020 dann vielleicht wieder ändern müssen, weil nicht das passiert ist, was sie erwartet haben? Und dann wieder 2021? Wenn wir drei Jahre in Folge die Regeln ändern, dann ist das sehr teuer", mahnt Boullier.

"Ich denke, wir sollten das mehr untersuchen, um zu versuchen, die Zukunft der F1 zu bauen, und die Aero so lassen, wie sie ist, bis wir eine bessere Idee haben, was wir für 2021 machen wollen", stellt der McLaren-Renndirektor klar. Ähnlich sieht es sein Haas-Pendant. "Eine Schwalbe macht keinen Sommer. Wir sollten eine ganze Saison nicht nur nach ein paar Rennen bewerten. Wir hatten dieses Jahr nur ein uninteressantes Rennen, nicht drei Jahre voll davon. Ich will wenigstens vier Rennen sehen. Es ist eine gute Idee, die Autos überholfreundlicher zu machen, aber wir sollten es nicht übers Knie brechen", sagt Günther Steiner.

Haas-Chef: Hastige Entscheidungen zerstören mehr als sie helfen

"Wenn wir Entscheidungen treffen und sie schnell implementieren schaffen wir immer mehr Probleme als Gewinn", mahnt der Tiroler. Bestes Beispiel: Das Anfang 2016 völlig gefloppte K.o.-Qualifying-Format - so schnell da wie wieder abgeschafft. Genauso sehen es Steiners Fahrer Romain Grosjean und Kevin Magnussen. "Es hat mit der Aero zu tun. Aber auf einigen Strecken ist es voll in Ordnung", sagt etwa der Däne.

"Ich denke, dass Strecken kommen werden, wo wir spannenderes Racing sehen werden", bestätigt Claire Williams. Die Teamchefin des Traditionsteams macht anders als McLaren-Rennchef Boullier und Haas-Teamchef Steiner jedoch Druck für eine auch kurzfristigere Lösung als 2021. "Vielleicht können wir und unsere Fans nicht bis 2021 warten, dass sich die Dinge verbessern", sagt die Britin, steckt damit sogar einen anderen McLaren-Mann an. "Hoffentlich müssen wir nicht bis 2021 warten, um ein paar Änderungen umzusetzen", sagt Zak Brown, schiebt jedoch nach: "Aber wir brauchen noch ein paar Rennen, um zu sehen, was wirklich nötig ist."

Trotz Bahrain & China: F1 & FIA sehen Handlungsbedarf

Vor allem eines ist das Thema somit nicht: erledigt. Auch nicht nach den hoffnungsvollen Rennen in Bahrain und China, die Handlungsbedarf für manchen Insider fast schon völlig absurd erscheinen lassen mögen. Nicht so für die FIA. "Ich denke, wir sollten dieses Thema weiter diskutieren. Ja, wir haben zwei gute Rennen hintereinander gesehen. Aber in meinen Augen ist offensichtlich, dass es nicht ganz leicht war zu überholen. Wenn du zwei Autos mit recht ähnlicher Performance hast, dann ist nicht unbedingt gegeben oder? Die Schwierigkeit bleibt. Die Arbeit daran muss weitergehen", so FIA-Rennleiter Charlie Whiting.