Murmeltiere gibt es in Montreal nur auf der Ile de Notre Dame. In den Straßen der pulsierenden kanadischen Metropole steppt hingegen jede Nacht der Bär. Und trotz des schlechten Abschneidens im Qualifying muss BMW-Williams-Star Nick Heidfeld seinen Sponsorverpflichtungen nachkommen und mittendrin mittanzen.

"Heute Abend habe ich noch einen Auftritt in der Stadt bei der BMW M-Night", verrät Nick, der zusammen mit seinem Bruder und motorsport-magazin.com-Experten Sven Heidfeld in Nordamerika weilt. "Ich war noch nie auf dieser Veranstaltung und weiß nur, dass dafür immer eine Straße gesperrt wird und wohl jede Menge Fans warten und feiern."

S wie Startaufstellung

Jenson holte sich seine zweite Pole Position., Foto: Sutton
Jenson holte sich seine zweite Pole Position., Foto: Sutton

Während Nick nach seinem enttäuschenden 13. Startplatz nicht wirklich einen Grund zum feiern hat, sieht dies bei Jenson Button und Michael Schumacher vollkommen anders aus. Denn diese beiden durchbrachen den Teufelskreis der letzten Rennen und stehen gemeinsam in der ersten Startreihe!

Da diese Ausgangssituation, trotz des Optimismus von Michael Schumacher, der sich hinterher gar nicht so überrascht gab, aber natürlich auch viel mit der Spritmenge zu tun haben kann, erwartet Renault-Chefrenningenieur Pat Symonds, dass "uns diese Startaufstellung ein spannendes Rennen bescheren wird".

Und da dürfte Symonds noch nicht einmal Unrecht haben. Denn hinter den beiden Überraschungsfahrern stehen seine beiden Renault-Schützlinge, die zwar nicht mehr den überdimensionalen Startvorteil des Vorjahres besitzen, aber dennoch auch in diesem Jahr noch sehr gut wegkommen. Keinesfalls schlechter starten die McLaren, die dahinter auf den Plätzen fünf und sieben Stellung beziehen werden. Zudem gilt der dazwischen startende Japaner Takuma Sato nicht gerade als zimperlich und wird auch der Lokalmatador Jacques Villeneuve auf Startplatz acht für seine Fans alles geben.

S wie Start

Die große Gefahr besteht jedoch darin, dass es bereits in der ersten Kurve heftig krachen könnte. Schnell werden Erinnerungen an den Überschlag von Alexander Wurz wach, weswegen Michael Schumacher darauf hofft sich dank seines guten Startplatzes "weitgehend aus den Scharmützeln, die im Normalfall weiter hinten ablaufen," heraushalten zu können.

Auch Michael Schumacher meldete sich an der Spitze zurück., Foto: Sutton
Auch Michael Schumacher meldete sich an der Spitze zurück., Foto: Sutton

Und auch Jacques Villeneuve erachtet einen "starken Start" als sehr wichtig, um auf diese Weise einem "Zwischenfall" zu entgehen. Ganz anders David Coulthard, der zwar selbstredend ebenfalls jedweden Zwischenfällen entgehen möchte, aber durchaus auf solche hofft: "Vielleicht können wir auf einen ähnlichen Zwischenfall wie am Nürburgring hoffen!", erinnert er an einen der Gründe für seinen vierten Rang am Ring.

Für Renault wäre das "ideale Szenario" hingegen laut Pat Symonds Michael Schumacher schon "vor der ersten Kurve zu überholen", um somit ein Polster zwischen die eigenen Autos und die silberne Konkurrenz zu bringen.

S wie Setup

Zuvor mussten die Teams ihre Boliden aber schon vor dem Qualifying perfekt für das Rennen abstimmen. Aus Sicht der Chassis-Ingenieure dominiert hierbei in Kanada ein entscheidender Faktor die Abstimmung wie kein anderer: Die Bremsen.

"Viermal pro Runde bremsen die Piloten ihre Autos aus über 300 km/h auf 100 km/h zusammen", erklärt Renault-Ingenieur Rod Nelson. "Das Streckenlayout sieht so aus, dass die wichtigen Kurven alle bei recht niedrigen Geschwindigkeiten gefahren werden – und die schnellen Kurven alle voll gehen. Aus diesem Grund orientiert sich der Setup-Kompromiss in Richtung Höchstgeschwindigkeit auf den Geraden. Wir fahren also mit relativ wenig Abtrieb. Da die Bremsenergie mit steigender Geschwindigkeit im Quadrat steigt, können sich schon etwas höhere Endgeschwindigkeiten wesentlich auf die Bremsenergie auswirken."

So glühen Giancarlos Bremsen., Foto: Sutton
So glühen Giancarlos Bremsen., Foto: Sutton

Die größte Sorge gilt deshalb dem Überhitzen der Bremsen. "Auf den langen Geraden haben sie zwar Zeit abzukühlen, auf der anderen Seite verzeichnen wir besonders starken Verschleiß", weist Nelson auf den Bremsen mordenden Streckencharakter hin. "Die besagte hohe Bremsenergie setzt Bremsscheiben und –beläge einfach extremem Stress aus. Der Fahrer kann dagegen wenig unternehmen, es handelt sich um eine physikalische Funktion aus der Geschwindigkeitsdifferenz bei hohem Tempo auf den Geraden und niedrigem in den Kurven."

Aber auch die aerodynamische Abstimmung für Montreal ist ziemlich komplex. "Wegen des geringen Downforce fühlt sich das Auto unweigerlich 'leicht' an." Das heißt, dass die Piloten sehr sanft mit Lenkung, Gas und Bremse umgehen müssen. "Wir achten sehr stark auf die Stabilität beim Bremsen, denn bei heftiger Verzögerung blockieren manchmal die Hinterräder, wodurch das Auto sehr nervös wird. Darauf reagieren wir unter anderem mit einer Verlagerung der Bremskraft nach vorn. So übernehmen die vorderen Bremsscheiben einen größeren Anteil an der Verzögerung und die Hinterräder werden entlastet."

Das mechanische Setup ist voll und ganz auf Traktion ausgerichtet. "Wir nennen diese Abstimmung nach vorn verlagert", fährt Rod fort. "Es handelt sich im Wesentlichen um eine sehr steif abgestimmte Vorderachse, die das Einlenken und die Richtungswechsel in Schikanen erleichtert. Die Hinterachse ist weicher abgestimmt, damit sie Traktion liefert, aber auch mehr Stabilität beim Bremsen vermittelt."

S wie Schonen

Auf dem Motorensektor stellt der Circuit Gilles Villeneuve die V10-Aggregate vor eine simple Aufgabe: Der Motor muss einfach nur so kräftig wie möglich sein.

Ferrari hat auch beim Boxenstopp alles im Blick., Foto: Sutton
Ferrari hat auch beim Boxenstopp alles im Blick., Foto: Sutton

"Die Abfolge von langsamen Kurven und harter Beschleunigung bedeutet, dass die Triebwerke sozusagen digital benutzt werden – wie mit einem Ein/Aus-Schalter", erklärt Rémi Taffin, seines Zeichens Motoreningenieur von Fernando Alonso. "Für den Fahrer wechselt sich Bremsen, Einlenken und volles Beschleunigen miteinander ab – Kurve für Kurve, Runde für Runde. Es gibt kaum Phasen mit Halbgas oder mittelschnele Kurven. Durch den hohen Volllast-Anteil einer Runde und die langen Geraden werden besonders die Kolben stark belastet."

Bei der Motorkühlung kalkuliert das Team einen Sicherheits-Puffer ein, da in Montreal oft Grasreste und Laub auf der Strecke liegen, welche den Kühlern zusetzen können. "Auch wenn die Piloten eng hinter ihren Gegnern herfahren, kann das die Kühlung beeinträchtigen", betont Taffin.

Die aufgeplatzten Asphaltstellen, an denen der neu gelegte Asphalt durch Zement ersetzt wurde, beeinträchtigen die Performance des schwarzen Goldes hingegen nicht. Entsprechend betont Rod Nelson, dass in Montreal "normalerweise" keine Reifenprobleme zu erwarten sind.

"Wir verwenden relativ harte Konstruktionen, damit sie den großen Längskräften bei Höchstgeschwindigkeit widerstehen", fügt er hinzu. "Da es keine schnellen Kurven gibt, sind die Vorderreifen nicht übermäßig beansprucht. Hinten dagegen müssen die Pneus die ständigen Beschleunigungsphasen aushalten."

S wie Strategie

Im morgigen Rennen werden laut Michelin-F1-Direktor Nick Shorrock "alle drei verschiedenen Reifenmischungen" der Franzosen zum Einsatz kommen, wobei "die drei schnellsten Michelin-Fahrzeuge zwei verschiedene Mischungen" verwenden. Daraus lässt sich schließen, dass Jenson Button seine Bestzeit womöglich durch eine weichere Gummimischung als sie die beiden Renault-Piloten gewählt haben begünstigte.

Das schwarze Gold wird nicht so wichtig sein wie die Bremsen., Foto: Sutton
Das schwarze Gold wird nicht so wichtig sein wie die Bremsen., Foto: Sutton

Doch nicht nur die guten Zeiten von Button und Schumacher sorgten nach dem Qualifying für erstaunte Gesichter beim Blick auf die Ergebnislisten. Auch die im Vergleich zum Morgen "langsameren Zeiten" der Renault und McLaren sorgten bei B·A·R und Ferrari für Ratlosigkeit. "Vielleicht hatten unsere Rivalen heute Morgen weniger Sprit im Tank als wir das dachten", rätselte Ross Brawn.

Etwas mehr ins Detail ging hingegen Renault-Chefstratege Pat Symonds. "Ein paar Teams waren im freien Training nicht sonderlich schnell unterwegs und stehen nun in der Startaufstellung ganz vorn. Das bedeutet, dass offenbar nicht alle mit der gleichen Strategie fahren", enthüllte er nichts Neues. Doch dann fügt er an: "Das lässt sich zwar nicht 100-prozentig sicher vorhersagen, aber ich glaube, wir stehen ganz gut da. Die meisten Autos dürften zweimal tanken. Aber einige setzen wohl auf drei Stopps. Und ich glaube, dass sich einer unserer Gegner auf einer Ein-Stopp-Strategie befindet. Das Rennen wird sich um die Runden 17/18 entfalten, wenn die Dreistopper zum ersten Mal reinkommen."

S wie Speed

Neben der Strategie wird im Rennen auch der Top-Speed der einzelnen Autos eine wichtige Rolle spielen. Schließlich betonte Michael Schumacher nicht umsonst, dass die "langen Geraden gute Überholmöglichkeiten" bieten würden.

Die Fans dürfen sich auf einen spannenden Kanada GP freuen., Foto: Sutton
Die Fans dürfen sich auf einen spannenden Kanada GP freuen., Foto: Sutton

Besonders prädestiniert dazu diese zu nutzen sind die beiden Renault, die mit 330,3 respektive 329,7 km/h die Top-Speed-Liste deutlich vor Michael Schumacher mit 328,2 und Jacques Villeneuve mit 325 km/h anführen. Richtig interessant wird dieser Vergleich aber erst, wenn man beispielsweise die geringen Top-Speeds von Jenson Button oder Takuma Sato mit einbezieht, die mit 318 und 320 km/h im unteren Drittel der Top-Speed-Werte angesiedelt sind.

Auf diese große Differenz angesprochen lachte Jenson Button nur: "Oh mein Gott. Ja, wir haben dies in den Trainings bemerkt, aber für uns ist dies der beste Weg und wir müssen einfach hoffen, dass wir sie in den ersten Rennrunden, wenn alle noch eng zusammen sind, hinter uns halten können."

S wie Spannung

Für Spannung ist vor dem achten Saisonlauf also an allen Fronten gesorgt. Während die gescholtenen Meister und Vizemeister des Vorjahres, Jenson Button mit B·A·R sowie Michael Schumacher mit Ferrari, den Aufwärtstrend in das erste große Erfolgserlebnis des Jahres umwandeln möchten, hofft auch der nicht minder kritisierte Jacques Villeneuve bei seinem Heimrennen auf ein Erfolgserlebnis.

Und dann gibt es natürlich noch den spannenden Titelkampf zu berücksichtigen, welcher neben den beiden Titelaspiranten Räikkönen und Alonso, aber auch noch deren Teamkollegen im Kampf um die Konstrukteurs-WM mit ins Spiel bringt.

Angesichts einer unfallträchtigen ersten Kurve, eines Material mordenden Kurses und vieler verschiedener Boxenstoppstrategien dürfte sich also auch der Große Preis von Kanada der neu gewonnenen Attraktivität der Formel 1 anschließen und Flavio Briatore in seinen Worten unterstützen: "Die Formel 1 Saison 2005 ist großartig!"