Nach einem Bombenstart führte Sebastian Vettel den Kanada GP vor Lewis Hamilton an - bis Ferrari Vettel früh zum Stopp reinholte und die Führung wieder abgab. Von da an lag das Rennen nicht mehr in Vettels Hand - und Hamilton gab es auch nicht mehr aus seiner Hand. Die große Frage nach dem Rennen in Montreal lautet: Hat Ferrari bei der Strategie danebengegriffen? Hätte Vettel das Rennen mit einer Ein-Stopp-Strategie gewinnen können?

Sebastian Vettel stellte sich nach dem Rennen demonstrativ hinter sein Team: "Ich würde niemals das Team anzweifeln - wir sind ein Team! Auch wenn die Leute das manchmal anzweifeln. Wir sind ein Team! Wir treffen die Entscheidungen zusammen und wir tragen auch die Konsequenzen gemeinsam."

Teamchef Maurizio Arrivabene war über die Situation weniger erfreut. "Wir haben die Chance verpasst. Nicht Sebastian und nicht die Ingenieure haben das entschieden, das waren unsere Strategen. Sie haben gesehen, wie der Reifen abgebaut hat und dachten, es sei eine gute Entscheidung - das war es aber nicht."

Vettel versucht zu besänftigen: "Ich zweifle nicht an der Strategie, ich stelle mich vor das Team, wir haben da die richtigen Leute. Auch wenn es im Nachhinein einfach ist, Experte zu spielen." Aber genau das macht Motorsport-Magazin.com. Auch wenn es selbst im Nachhinein nicht ganz so einfach ist, wie der Ferrari-Pilot meint. Der Sachverhalt ist kompliziert.

VSC schenkt Vettel Zeit - aber nicht genug

Zunächst die Ausgangslage: In Runde 10 führt Sebastian Vettel das Rennen vor Lewis Hamilton. 1,3 Sekunden beträgt sein Vorsprung. Hamilton sitzt ihm im Nacken. Plötzlich beginnt der McLaren von Jenson Button zu rauchen, Button stellt seinen Boliden am Streckenrand ab. Die Rennleitung läutete eine virtuelle Safety-Car-Phase ein.

Um 14:16 Uhr Ortszeit startet die VSC-Phase. Das Führungs-Duo befindet sich zu diesem Zeitpunkt am Anfang von Sektor 2. Zur Erinnerung: Während einer VSC-Phase dürfen die Piloten gewisse Zeiten nicht unterschreiten. Die Strecke ist hierzu in Segmente von 200 Metern eingeteilt. Für jedes Segment gibt es eine vorgeschriebene Zeit. Diese ist 45 Prozent langsamer als der Mittelwert aus dem 2. Freien Training.

  • Start: Vettel geht an Hamilton vorbei
  • L10 - Vettel führt 1,3 Sekunden vor Hamilton
  • L11 - Vettel wechselt bei VSC auf Ultrasoft
  • L12 - Vettel kommt auf P4 hinter VES und RIC zurück
  • L17 - Vettel überholt Ricciardo
  • L18 - Vettel überholt Verstappen
  • L24 - Hamilton wechselt auf Soft, Vettel übernimmt Führung
  • L37 - Vettel wechselt auf Soft, fällt auf P2 zurück
  • L60 - Hamilton hält Vettel mit 5 Sekunden auf Distanz

Während Vettel und Hamilton durch Sektor zwei cruisen, trifft Ferrari die Entscheidung, Vettel zum Stopp zu holen. Am Ende der Runde kommt der Ferrari-Pilot und wechselt von Ultrasoft auf Supersoft. Von da an steht fest: Vettel muss noch einmal zum Stopp kommen, weil Pirelli die Soft-Reifen im Rennen vorgeschrieben hatte.

Pech für Vettel: Der liegengebliebene McLaren kann schnell in Sicherheit gebracht werden. Um 14:17 Uhr gibt die Rennleitung die Mitteilung heraus, dass die VSC-Phase endet. Von da an dauert es noch 10 bis 15 Sekunden, bis die Piloten wieder Vollgas geben dürfen. Um 14:18 Uhr ist die Strecke wieder freigegeben. Insgesamt ist die Strecke nur 67 Sekunden unter Virtuellem Safety-Car.

VSC ist eine Wissenschaft für sich, Foto: Red Bull
VSC ist eine Wissenschaft für sich, Foto: Red Bull

Als die Strecke wieder freigegeben ist, ist Vettel in der Boxengasse. Hamilton fährt gerade in diesem Moment über die Start- und Ziellinie. Gut für Vettel: Zwischen den beiden Safety-Car-Linien gelten die vorgegeben Delta-Zeiten nicht. Von Safety-Car-Linie eins bis zur Boxeneinfahrt kann er Gas geben. Das ist zwar nicht lange, aber immerhin. Bei der Boxeneinfahrt und dem Stopp spart sich Vettel rund sechs Sekunden, weil Hamilton auf der Rennstrecke langsam machen muss.

Bei der Boxenausfahrt spart sich Vettel allerdings nichts mehr, weil die Strecke inzwischen wieder freigegeben ist. Hätte weiterhin VSC gegolten, hätte Vettel der Boxenstopp noch weniger Zeit gekostet. Wie viel genau, lässt sich schwer sagen, weil die Zeitnahme nur Sektorzeiten erfasst, nicht aber die 200-Meter-Marshalling-Abschnitte.

Bildlich kann man sich das Szenario aber vorstellen: Durch das Ende der VSC-Phase konnte Hamilton etwa auf der Ziellinie wieder aufs Gas. Somit fuhr er von da an im Renntempo, während Vettel in der Boxengasse schleichen musste. Wäre VSC länger gegangen, wäre Hamilton parallel auch auf der Strecke langsamer gefahren.

Zwischen den Safety-Car-Linien gelten die Delta-Zeiten nicht, Foto: FIA
Zwischen den Safety-Car-Linien gelten die Delta-Zeiten nicht, Foto: FIA

Weil man mit Boxenstopps unter VSC-Bedingungen viel Zeit gewinnen kann, ist es in der GP2 inzwischen verboten, den Pflicht-Stopp währenddessen zu absolvieren. "Als VSC kam, haben wir versucht, auf zwei Stopps zu gehen", erklärt Vettel selbst. "Aber das VSC war überraschend schnell wieder zu Ende." Schlecht für Ferrari und Vettel.

Räikkönen zu langsam für VSC

Noch unglücklicher hat die kurze VSC-Phase Kimi Räikkönen erwischt. Der Finne lag auf der Strecke gut 13 Sekunden hinter seinem Teamkollegen. Als Räikkönen zum Stopp kam, konnte die direkte Konkurrenz bereits wieder Vollgas geben. Wie unterschiedlich die Piloten die VSC-Phase erwischt hat, lässt sich an den Sektorzeiten ablesen.

Sektorzeiten der Top-10 in Runde 11

Sektor 1Sektor 2Sektor 3
Vettel 22.27934.04752.970*
Hamilton 22.31834.67541.084
Verstappen 22.27435.43039.390
Ricciardo 23.09637.13836.838
Räikkönen 25.54233.83853.634*
Bottas 26.60933.60837.935
Massa 27.40333.46336.655
Hülkenberg 27.86533.49936.514
Rosberg 28.32534.23134.131

* inklusive Boxenstopp

Während Hamilton den gesamten letzten Sektor noch im Bummel-Tempo fahren musste, war Teamkollege Rosberg - zu diesem Zeitpunkt auf Rang zehn - erst am Anfang von Sektor 3, als die Strecke wieder freigegeben wurde. Deshalb fiel Räikkönen durch den Stopp auf Rang 15 zurück. Trotz ähnlich schneller Stopps wuchs sein Rückstand auf Vettel in zwei Runden von 13 auf 18 Sekunden an.

Aber auch wenn die VSC-Phase länger gedauert hätte, hätte man Ferraris Strategie hinterfragen können. Pirelli prognostizierte bei kühlen Bedingungen - die bei 12 Grad Luft- und 21 Grad Streckentemperatur zweifelsfrei vorherrschten - einen Stopp. Erst bei höheren Temperaturen wie am Freitag - also rund 40 Grad Asphalttemperatur - wären laut den Italienern zwei oder sogar drei Stopps sinnvoll gewesen.

Vettel: Haben uns verschätzt

"Im Endeffekt haben wir uns vielleicht ein bisschen verschätzt, wie lange die Reifen halten. Sie haben ein bisschen länger gehalten, als erwartet", musste Vettel gestehen. Realistisch betrachtet war das absehbar. In den Trainings hielten sogar die Ultrasoft-Reifen knapp 30 Runden - bei deutlich höheren Temperaturen.

Fernando Alonso fuhr im Rennen sogar 52 Runden mit den Soft-Pneus. Er war für Mercedes ein Indikator, wie sich der Reifen verhalten wird. Die Rundenzeiten zeigen, dass selbst nach 52 Runden das leichter werdende Fahrzeug die Rundenzeit noch mehr nach unten drückte als der abbauende Reifen nach oben.

Nun stellt sich die Frage, ob Vettel das Rennen hätte gewinnen können, hätte er - wie Hamilton - nur einmal gestoppt. "Wenn wir draußen bleiben und Lewis an mir dran bleibt, die Reifen halten, dann hat Lewis die Chance, zu undercutten", wirft Vettel richtigerweise ein. "Das wäre ein anderes Rennen geworden aber ich will mir das nicht ansehen."

Ferrari verschenkt Sieg wie in Melbourne

Mit Sicherheit lässt sich diese Frage natürlich nicht beantworten. Hätte, wäre, wenn. Aber Vettel hatte den Speed, um Hamilton hinter sich zu halten. Ferrari muss sich vorwerfen lassen, nicht nur den Reifenverschleiß überschätzt, sondern die Track-Position gleichzeitig auch unterschätzt zu haben.

Wer vorne ist, fährt in frischer Luft. Schafft es der Hintermann nicht, beim einzigen Boxenstopp des Rennens vorbeizugehen, dann muss er auf der Strecke vorbei. Und das wäre extrem schwierig geworden. Ein ähnliches Szenario gab es bereits beim Australien GP: Nach der Rennunterbrechung fuhren die meisten Piloten ohne Stopp bis zum Ende - Vettel als Führender nicht.

Auch in Melbourne versuchte er mit einem Sprint von hinten zu kommen, auch dort scheiterte er. "Als ich etwa zehn Runden vor Schluss fünf Sekunden hinten lag, war mir dann auch klar, dass es nicht mehr klappen würde. Eine halbe Sekunde pro Runde aufholen und dann noch vorbeifahren - das wird knapp."

"Jedes Mal wenn ich wirklich alles gegeben habe und eine neue Bestmarke setzen konnte, hat Lewis reagieren können", so Vettel. "So konnte ich immer nur ein, zwei maximal drei Zehntel abknabbern. Das ist dann letzten Endes nicht viel genug, um die Lücke zu schließen." Vettel versucht den Strategie-Fauxpas zu verteidigen: "Der Hinterherfahrende kann immer mehr Risiko eingehen. Wir hatten das Rennen vorne ja nicht locker unter Kontrolle."

Einschätzung der Redaktion

Motorsport-Magazin.com meint: Mit Sicherheit lässt sich im Nachhinein nicht sagen, ob Vettel das Rennen mit einer Ein-Stopp-Strategie gewonnen hätte. Aber die Chancen wären definitiv größer gewesen. Ferrari hat - wie schon in Melbourne - die Position auf der Strecke völlig unterschätzt. Auch wenn die Simulationen sagen, dass zwei Stopps zu diesem Zeitpunkt rechnerisch schneller sind: Vettel gab damit die Führung auf.

Er hätte de facto am Ende auf der Strecke an Hamilton vorbei gemusst. Im langsameren Auto ist das auch mit besseren Reifen sehr gewagt. Ferrari ist ein unnötiges Risiko eingegangen. Fast ein bisschen - nicht ganz so extrem - wie Mercedes im vergangenen Jahr in Monaco bei Lewis Hamilton.