Hoch und runter: McLaren erlebte eine turbulente erste Saisonhälfte. Das Motorsport-Magazin sprach mit Geschäftsführer Jonathan Neale über das Entwicklungsrennen, Perfektionismus und die Magie der Formel 1.

MSM: Die Sommerpause ist vorbei. Werden wir jetzt bald ein klareres Bild von den Favoriten erhalten?
Jonathan Neale: Vielleicht noch nicht in Spa-Francorchamps, aber in den darauffolgenden Rennen. Natürlich ist unser Plan, dass McLaren zu den Favoriten gehört. Wir pushen sehr hart, wenn es um die Entwicklungen für die kommenden Rennen geht. In den letzten Wochen haben wir einen Schwung an neuen Ideen entwickelt. Wir werden bestimmt nicht nachlassen, sondern es wird noch einiges kommen. Ich freue mich schon sehr, die Ideen auf dem Auto zu sehen. Sorgen mache ich mir erst, wenn uns die Ideen ausgehen, aber im Moment ist das nicht der Fall.

Die erste Saisonhälfte war turbulent, mit sieben verschiedenen Siegern in sieben Rennen. Doch nicht jeder war damit glücklich.
Jonathan Neale: Für die Formel 1 und die Fans war die erste Saisonhälfte großartig. Für die Teamchefs und die Fahrer weniger, aber dass verschiedene Piloten ein Rennen gewinnen oder auf dem Podium stehen können, macht die Formel 1 aufregend. Das lässt den WM-Kampf offen und jeden weiterhin über den Sport sprechen.

Was muss passieren, damit McLaren am Ende der Saison beide WM-Wertungen anführt und welcher Titel wäre für Sie von größerer Bedeutung?
Jonathan Neale: Es ist ganz einfach, wir müssen in Sachen Entwicklungen weiter pushen. Die Basis des Autos stimmt, wir haben zwei großartige Fahrer, jetzt entscheidet das Entwicklungsrennen, wer am Ende den Titel gewinnt. Welcher Titel für mich die größere Bedeutung hat, ist wirklich eine knifflige Frage. Natürlich ist für den Fahrer der Fahrertitel der wichtigste. Ich persönlich würde aber lieber die Konstrukteurs-Weltmeisterschaft gewinnen.

Der MP4-27 konnte 2012 sieben Rennen gewinnen, Foto: Sutton
Der MP4-27 konnte 2012 sieben Rennen gewinnen, Foto: Sutton

Wie zufrieden sind Sie generell mit dem Entwicklungsprozess über die Saison hinweg und was steht in der zweiten Saisonhälfte auf der "To-do"-Liste?
Jonathan Neale: Mitte September werden wir beginnen, uns Gedanken über die Saison 2013 zu machen. Der Fokus wird aber weiterhin auf dieser Weltmeisterschaft liegen. Wir wollen um den Titel mitkämpfen und sind überzeugt, dass wir schnell genug sind und das auch können. Deshalb heißt es weiter pushen.

Welchen Effekt hat die Verpflichtung von Sam Michael auf das Team gehabt?
Jonathan Neale: Sam wurde als Sportdirektor ins Team geholt. Er ist dafür zuständig, dass wir eine gute, konstruktive Beziehung zur FIA und den Rennstewards pflegen. Wir mussten dieses Jahr das eine oder andere Mal zu ihnen - wenn auch nicht so häufig wie im letzten Jahr. [lacht] Sam ist ein echter Racer und stellt sicher, dass unsere Fahrer an einem Rennwochenende in Bestform sind. Sein Hauptaufgabenbereich umfasst allerdings die Arbeit an der Strecke. Er hat den Überblick über die Vorgänge in der Box, bei den Boxenstopps, etc. Er ist dafür verantwortlich, dass wir gute Leute in der Box haben und dass die Disziplin über die Saison hinweg aufrecht erhalten bleibt. Dieses Jahr lief der eine oder andere Boxenstopp nicht perfekt, aber wir haben uns in diesem Bereich stark verbessert, sowohl bei der Konstanz als auch der Schnelligkeit. Ich bin sehr froh, dass Sam zu uns gestoßen ist.

Die Patzer bei den Boxenstopps sorgten in der ersten Saisonhälfte tatsächlich für Gesprächsstoff. Viele stellten sich die Frage, wie einem Perfektionsteam à la McLaren solche Fehler unterlaufen konnten?
Jonathan Neale: Bei einem Boxenstopp geht es um Technik, Athletik, Fahrerposition und Glück. Gerade in einem Bereich wie diesem, in dem die Leute hart pushen und an ihre Grenzen gehen, passieren sehr leicht Fehler. Aber wir haben uns verbessert. In Silverstone absolvierten unsere Piloten vier Stopps und bis auf einen Stopp waren alle unter drei Sekunden. In Hockenheim legte unsere Boxencrew sogar den schnellsten Boxenstopp in der Formel-1-Geschichte hin. Wir bewegen uns auf einem derart hohen Niveau, dass alles zählt - unter anderem, dass die Fahrer sich bei ihrem Stopp perfekt zu den Jungs mit den Schlagschraubern positionieren. Deshalb wird den Fahrern stets mitgeteilt, wenn sie 100 mm zu weit vorne oder 25 mm zu weit hinten stehen. Was passieren kann, wenn der Bolide nicht perfekt positioniert wird, hat man bei Kamui Kobayashi in Silverstone gesehen. In solchen Fällen können Menschen verletzt werden.

Ferrari sah bei den Wintertests und zu Beginn der Saison alles andere als nach einem WM-Favoriten aus. Plötzlich führte Fernando Alonso die Fahrerwertung an. Wie konnte das passieren und machen Sie sich Sorgen wegen des Riesenfortschritts bei Ferrari?
Jonathan Neale: Also, um fair zu bleiben. Wir haben Ferrari niemals unterschätzt. Ferrari ist ein starker Rennstall und wir haben nie geglaubt, dass sie lange hinten sein würden. Obwohl wir auf der Strecke Konkurrenten sind, so sind wir abseits davon Freunde. Fernando ist ohne Zweifel ein sehr guter Fahrer. Er hat das Team durch die ersten Rennen gebracht und hat es verdient, die Weltmeisterschaft anzuführen. Es liegt jetzt an uns, Alonso und Ferrari in der WM einzufangen. Wir haben zwei Fahrer, die das schaffen können, wenn wir ihnen ein gutes Auto hinstellen. Das ist unser Job als Team.

Jenson Button siegte überlegen in Spa, Foto: Sutton
Jenson Button siegte überlegen in Spa, Foto: Sutton

Nach seinem Sieg in Australien fuhr Jenson Button seiner Form hinterher, kämpfte mit dem Auto und den Reifen. Erst seit Valencia scheint er sich im Auto wohler zu fühlen. Was hat diese Veränderung ausgelöst?
Jonathan Neale: Das ist eine gute Frage. Jenson hatte größere Schwierigkeiten mit der Inkonstanz der Reifen und des Autos. Das prinzipielle Problem war, dass er Probleme hatte, die Reifen auf Temperatur zu bringen und die Temperatur im Reifen aufrecht zu halten. Wir arbeiten hinter den Kulissen hart, um ein Setup zu finden, das ihm entgegenkommt. Wir scheinen nah dran zu sein, denn mit dem Update-Paket, das wir in Hockenheim hatten, war Jenson von Beginn an schnell. Er scheint nun endlich ein Paket gefunden zu haben, das ihm wieder Selbstvertrauen gibt. In dieser Saison ist Konstanz ein großes Problem - mal war Lotus sehr schnell, mal waren sie im Mittelfeld. Auch die Lücke zwischen Alonso und Felipe Massa war mal größer, mal kleiner. Das Gleiche war bei Red Bull der Fall. Wenn ein Fahrer in der Vergangenheit zwei Zehntel langsamer war, dann verlor er ein oder zwei Startplätze, die Realität in diesem Jahr sieht so aus, dass ein Fahrer bis zu zehn Startplätze verlieren kann. Das ist schmerzhaft.

Jenson äußerte Kritik an der Nase des MP4-27. McLaren ging in diesem Punkt einen ganz anderen Weg als die Konkurrenz - war es der richtige?
Jonathan Neale [lacht]: Naja, wir mögen schöne Autos und ich denke, dass das Auto mit unserem Update-Paket von Deutschland noch schöner aussieht. Aber am Ende des Tages kommt es darauf an, dass das Auto siegfähig ist. Die Höhe der Nase ist diese Saison reglementiert. Doch es geht nicht um die Frage Stufennase ja oder nein, sondern wie hoch man das Chassis bauen will. Unser Chassis liegt ungefähr 20 mm tiefer als die Chassis der Konkurrenz, was zur Folge hat, dass wir keine Stufennase haben. Und ich behaupte, es war kein Fehler.

McLaren hat weder eine Stufennase, noch ein Doppel-DRS. Lotus testete das System, ähnlich dem von Mercedes. Gerüchten zufolge soll auch Red Bull an einer eigenen Version arbeiten. Wie groß ist der Vorteil dieses Systems?
Jonathan Neale: Wir wissen nicht, wie viel Zeit das System an den jeweiligen Autos bringt. Wir vermuten, dass das System so funktioniert, dass ab einer gewissen Geschwindigkeit Luft durch ein Eingangsloch im Heckflügel über zwei Luftkanäle in den Frontflügel geleitet wird. Das System birgt definitiv einen Vorteil, sonst hätten die Teams es gar nicht erst entwickelt. Wir haben uns ebenfalls das System genau angesehen und bis jetzt haben wir noch nicht entschieden, ob wir uns damit näher beschäftigen sollen, weil wir denken, dass es andere Bereiche gibt, die womöglich mehr Vorteile mit sich bringen. Aber natürlich sehen wir uns wie jedes Team genau an, was die anderen machen. Arroganz ist hier falsch. Wir wollen offen für neue Ideen sein. Dass Teams immer wieder mit neuen technischen Ideen aufwarten, macht einen Teil der Magie dieses Sports aus.

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