Alessandro Zanardi beeindruckte 2012 die Welt bei den Paralympischen Spielen in London. Der Italiener gewann mit seinem Handbike zwei Mal Gold und eine Silbermedaille. Dass der 46-Jährige überhaupt noch am Leben ist, grenzt an ein Wunder. Rückblick ins Jahr 2001: Das Rennen der Champcar-Worldseries auf dem Eurospeedway Lausitz ist in vollem Gange. Der ehemalige Formel-1-Pilot Alessandro Zanardi führt das Rennen bis zur 142. Runde an. Dann geschieht der verhängnisvolle Moment, der sein Leben für immer ändern sollte.

Zanardis Leben hing am seidenen Faden, Foto: Sutton
Zanardis Leben hing am seidenen Faden, Foto: Sutton

"Ich geriet ins Schleudern, und der Kanadier Alex Tagliani bohrte sich mit Tempo 320 in meinen Wagen. Mir riss es beide Beine aus, eins oberhalb des Knies, eins unterhalb", schilderte Zanardi den Unfall in einem Interview mit dem Spiegel. Auf dem Weg ins Krankenhaus blieb sein Herz sieben Mal stehen, alleine an der Strecke waren 60 Infusionen nötig. Mit nur einem Liter Blut im Körper überlebte der 41-fache Grand-Prix-Teilnehmer und fuhr schon zwei Jahre später wieder Rennen in der FIA WTCC.

Alessandro Zanardi ist heute weit über die Grenzen der Formel 1 und des Motorsports hinaus bekannt. Seine Geschichte ging um die Welt, sein Lebensmut ist vielen ein Vorbild. Doch genau darunter hat der Mann aus Bologna zu leiden. "Sie glauben gar nicht, wie viele E-Mails, Briefe und Anrufe ich bekomme. Gott weiß, woher diese Leute meine Nummer haben." Diese Leute erhoffen sich von Zanardi Hilfe, die er ihnen aber nicht leisten kann: "Ich bin doch nur Sportler. Ich bin kein Magier, ich kann niemanden heilen."

Als Beispiel nannte der ehemalige Teamkollege von Ralf Schumacher eine Spendengala, auf der alle Gäste vergnügt getanzt hätten. "Nur ich habe den ganzen Abend damit verbracht, mir das Elend anderer Menschen anzuhören. Das macht keinen Spaß", so der Italiener. Zwar verstehe er die Faszination an seiner Geschichte, jedoch sei auch zu bedenken, dass die Öffentlichkeit nur einen kleinen Teil seines Lebens - nämlich die Highlights - wahrnimmt.

Aus dem Unfall gestärkt hervorgekommen

Deshalb kommen viele zu folgendem Schluss: "Der Zanardi kann Holz anfassen, und es wird zu Gold. Die harte Arbeit, die winzigen Fortschritte, davon erfahren sie nichts." Daran, dass der Weg zurück in den Spitzensport alles andere als unbeschwerlich war, lässt Zanardi keine Zweifel. "Am Anfang war es mir scheißegal, ob ich wieder ein Rennauto fahren kann oder nicht. Da war mir wichtig, dass ich auf die Toilette komme und mir alleine den Hintern abputze."

Immer wieder erzählen Sportler, die einen schweren Unfall in ihrer Karriere überstanden, sie hätten die Aufnahmen des Schicksalsmoments nie gesehen - anders Zanardi: "Sie sind vielleicht erstaunt, dass ich mir den Unfall noch anschaue, weil Sie denken: ich an seiner Stelle könnte das nicht. Aber das ist falsch." Beeindruckend, wie der Italiener die Herausforderung annimmt, beinamputiert leben zu müssen, und sogar positive Aspekte findet. "Ich kann mir die Beine nicht mehr brechen. Und selbst wenn, dann nehme ich einen Schraubendreher und repariere sie in fünf Minuten", scherzte er.

Bei seinen Erfolgen bei den Paralympischen Spielen half dem Routinier seine große Erfahrung. Im Gegensatz zu vielen Konkurrenten kannte Zanardi die Situation, medial im Mittelpunkt zu stehen. "Ich war im Vorteil, weil ich schon vor über 100.000 Zuschauern in Amerika Autorennen gefahren bin. Ich stand auf der Pole Position, vor dem Start flogen F-16-Kampfjets der Navy über die Arena, und Mariah Carey sang die Nationalhymne. Wer das erlebt hat, ist vor einem Handbike-Rennen nicht mehr nervös."

Entsprechend sieht er seine Goldmedaillen in London nicht als Karrierehighlight. "1997 bin ich in Cleveland von weit hinten nach ganz vorne gefahren, ich habe 21 Autos überholt, das war ein gigantischer Tag." Zwar sei das Gold-Gefühl "fabelhaft" gewesen, doch Cleveland ist für Zanardi mehr: "Höher kann man nicht kommen, ich habe den Himmel berührt."

Unabhängig trotz Prothesen

Zanardi lernte in seiner Karriere zwei verschiedene Welten kennen. Im Motorsport verkehrte er mit hochbezahlten Vollprofis, in seiner zweiten Karriere lernte er semiprofessionelle Sportler mit körperlichen Behinderungen kennen. "Es gibt in beiden Welten sehr nette Leute, und es gibt Arschlöcher", nannte er die Gemeinsamkeiten der Szenen. "Aber die Gemeinde der Behindertensportler ist kleiner, da ist es einfacher, engere Beziehungen aufzubauen. Du lernst dich da besser kennen."

Hätte Alex Zanardi die Wahl, sein Leben ab jenem verhängnisvollen Tag im September 2001 noch einmal zu leben - nur eben ohne diesen schrecklichen Unfall -, er würde das Angebot ausschlagen. "Meine Antwort wäre: nein, auf keinen Fall, auch wenn das arrogant klingt. Ich weiß doch nicht, wie es mir mit Beinen ergangen wäre. Ich kann meine Prothesen anlegen, meine Frau küssen, in ein Flugzeug steigen und nach China fliegen. Ich kann dort mit meinen Jungs an der Bar ein Bier trinken. Das bedeutet Unabhängigkeit. Warum sollte ich das Risiko eingehen, das aufs Spiel zu setzen?"

Ganz ohne Wehmut geht es dann aber doch nicht. "Ich würde gerne Kitesurfen", gestand er einen Traum, den er sich in dieser Form nicht mehr erfüllen kann. "Oder wenn ich mit meinem Boot auf dem Meer bin, in den letzten Stunden des Tages, wenn die Sonne untergeht und es nicht mehr so heiß ist - ich vermisse es, dann barfuß über den feuchten, warmen Holzboden zu gehen." Stattdessen kniet er sich nun hin und wieder auf den Boden und berührt das Holz mit den Händen.

Doch sein Schicksal hat ihm auch eines gelehrt: "Die Welt sucht fieberhaft nach großartigen Vorbildern, sie will sich inspirieren lassen von Menschen wie Alessandro Zanardi. Dabei sind die Vorbilder überall, man muss sich nur umschauen." Ein Held sei aus eigener Erfahrung beispielsweise auch der Vater eines kleinen Mädchens, das ohne Beine geboren wurde: "Weil er sein Schicksal annimmt und alles für seine Tochter tut. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich das erzähle."