Die MotoGP hat mit ihren Reifen zu kämpfen, zumindest mit einem davon. In Zeiten von immer ausufernder Aerodynamik an den Motorrädern hat sich der Druck auf den Vorderreifen um etwa 20% erhöht. Dieser ist davon aktuell überfordert und überhitzt stark, was zu höheren Reifendrücken führt. Die Folgen sind mehr Stürze über das Vorderrad. Im Rennen müssen die Fahrer aus dem Windschatten heraus, um ihre Reifen zu kühlen. Prozessionsartige Sonntage sind die Folge.
Dazu kommt auch noch die geplante Einführung einer umstrittenen Regel. Im Rennen sollen die Fahrer über 50% der Renndistanz mit einem Reifen Druck von Mindestens 1,88 bar fahren. Ab 2 Bar lässt allerdings schon der Grip nach, ab 2,1 bar ist Kühlung unbedingt nötig und ab 2,2 bar ist ein Sturz sehr wahrscheinlich. Aktuell ist dies noch kein Problem, denn die Regel wird noch nicht effektiv umgesetzt. Ab Silverstone (4. bis 6. August) soll sie nach mehreren Verschiebungen aber durchgezogen werden. Aktuell halten sich die Teams schlicht nicht an die Vorgabe, aber ab dem Großbritannien GP könnte eine unmögliche Wahl anstehen: Sturzgefahr oder Disqualifikation?
Michelin mit geheimen Fahrplan zum härteren Vorderreifen
Diese Problematik ist natürlich auch MotoGP-Reifenhersteller Michelin bewusst. Wie unsere Kollegen von Motorsportmagazine.com erfahren haben, arbeiten die Franzosen an einer Lösung für 2024. Michelins MotoGP-Chef Piero Taramasso bestätigte die Entwicklung neuer Gummis für die Front: "Der neue Reifen wird eine neue Konstruktion und ein neues Profil haben. Die Idee ist, dass die Fahrer mit einem Druck von 1,7 bar fahren können." Sollte der neue und härtere Reifen den Aero-Lasten besser standhalten, so würde das nicht nur in Sachen Sturzgefahr helfen. Weniger Überhitzung bedeutet, dass die Fahrer weniger oft aus dem Windschatten müssen und so besser überholen können.
Der Fahrplan für die Neuentwicklung steht bereits, wurde aber bisher geheim gehalten. Nun ist klar, dass Sylvain Guintoli bereits seit einiger Zeit geheime Reifentests zu diesem Zweck mit einer modifizierten Honda Fireblade, deren Front mit MotoGP-Bremsen und -Gabel ausgestattet wurde, fährt. Der französische Ex-MotoGP-Pilot ist dafür eine besonders gute Wahl, denn der kennt auch die Bridgestone-Reifen aus der Langstrecken-Weltmeisterschaft und die Pirellis der Superbike-WM. Beide Fabrikate gelten als sehr gute Vorderreifen, Michelin will von dieser Erfahrung profitieren.
In einem weiteren Schritt sollen alsbald die Testfahrer der fünf Werke die neuen Vorderreifen erstmals auf MotoGP-Maschinen ausprobieren. Dabei kommen Stefan Bradl (Honda), Dani Pedrosa (KTM), Cal Crutchlow (Yamaha), Michele Pirro (Ducati) und Lorenzo Savadori (Aprilia) zum Zuge. Die Stammfahrer werden erst beim Test nach dem Rennen in Misano (11. September) in den Genuss der neuen Reifen kommen. Bei den folgenden Testfahrten (Valencia 2023 und dann Malaysia und Katar 2024) sollen sie dann für ihren Einsatz in der Saison 2024 zur Reife gebracht werden.
MotoGP-Fahrer uneins: Zweifel und Vorfreude bei Michelins Reifenplänen
Die Fahrer selbst wurden in diese Pläne bis zur Sommerpause offenbar nicht eingeweiht und gaben allesamt an, keine Informationen zu dieser Neuentwicklung zu haben. Als die MotoGP-Journalisten ihnen die Vorgehensweise erklärten, gab es unterschiedliche Reaktionen. KTM-Pilot Brad Binder war begeistert: "Ich höre davon zum ersten Mal, aber wenn diese Spezifikation härter ist, dann würde ich das lieben. Ich hoffe sie [Michelin, Anm. d. Red.] gehen in diese Richtung."
Yamaha-Star Fabio Quartararo hingegen hatte kaum Hoffnung auf Besserung: "Jeder Fahrer spürt den Unterschied auf dem Medium-Reifen, also starten wir alle mit dem Harten. Aber ich denke nicht, dass eine noch härtere Mischung etwas ändert, besonders nicht für uns." Marc Marquez blieb eher neutral: "Sie arbeiten jedes Jahr an neuen Reifen. Jetzt haben sich der Fahrstil und die Anforderungen eines MotoGP-Bikes durch die Aerodynamik verändert. Es gibt mehr Abtrieb an der Front. Die aktuellen [Vorderreifen, Anm. d. Red.] funktionieren gut, aber es ist auch gut, dass Michelin bereits für die Zukunft arbeitet."
Pramac-Pilot Johann Zarco, der im Paddock als so etwas wie ein rennfahrender Testpilot gilt, ging auf die Problematik der, für viele Beobachter völlig unnötigen, Mindestdruck-Regel ein: "Wir haben Probleme mit dem Reifendruck vorne. Wenn es da keine Regelung dazu gäbe, wäre es einfacher zu handhaben. Es gibt neue Regeln für die Sicherheit, aber es gibt kein Sicherheitsproblem seit Beginn des Jahres, als wir schon über das Thema sprachen."
Der Franzose hat durchaus Interesse an den neuen Reifen, doch an ein Allheilmittel für das MotoGP-Problem Nummer Eins glaubt er nicht: "Die Bikes werden besser und wir können stärker bremsen. Eine härtere Mischung wäre interessant, dann würden wir das Bike in diese Richtung entwickeln. Ich glaube aber nicht, dass ein neuer Reifen die Schwankungen des Drucks ändern würde, das ist einfach der logische Unterschied zwischen Windschatten und freier Fahrt." Nun liegt es an Michelin, das Gegenteil zu beweisen.
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