284 Mal startet Aleix Espargaro zwischen Oktober 2004 und April 2022 in einen Grand Prix der Motorrad-Weltmeisterschaft. Vier Klassen durchläuft er in dieser Zeit - 125ccm, 250ccm, Moto2 und MotoGP. Für zwölf unterschiedliche Rennställe geht er an den Start. Das Ergebnis ist aber immer das gleiche. Espargaro muss zusehen, wie andere Fahrer auf die oberste Stufe des Podiums klettern und sich den Siegerpokal abholen. Mehr als 17 Jahre lang. Doch dann kommt der diesjährige Argentinien-GP in Termas de Rio Hondo. Ein Wochenende, das Espargaro erlösen wird. Ein Wochenende, welches er im Stile eines großen Champions dominiert: Schnellster Mann im Training, Pole Position im Qualifying, Bestzeit im Warm-Up und schließlich der Sieg im Rennen, garniert mit der schnellsten Rennrunde. Mehr geht nicht. Es ist nicht nur der erste Sieg für den damals 32-Jährigen, sondern auch der erste für Aprilia in der Königsklasse, nachdem die Italiener seit dem Wiedereinstieg 2015 jahrelang ein trauriges Dasein als Nachzügler der MotoGP gefristet hatten. "Ich bin überglücklich. Es hat so lange gedauert, hierher zu kommen. Das fühlt sich wie ein Traum an", ringt Espargaro nach dem Premierensieg um Worte. Und plötzlich findet sich der Mann, der so lange auf einen vollen Erfolg warten musste, an der Spitze der MotoGP-Weltmeisterschaft wieder.

Der scheinbar zahnlose Mitläufer hat plötzlich Blut geleckt: "Es wird schwierig, bis zum Ende ganz vorne zu bleiben. Wir sind aber definitiv in der Verlosung. Das war kein glücklicher Sieg, sondern einer, den wir uns verdient haben. Wenn wir keine Fehler machen, können wir ein Wörtchen in der Weltmeisterschaft mitreden." Die folgenden Wochen und Monate sollen Espargaro recht geben. In den verbleibenden acht Rennen bis zur Sommerpause verpasst er nur einmal die Top-Five. Auf WM-Rang zwei und mit gerade einmal 21 Punkten Rückstand gegenüber Titelverteidiger Fabio Quartararo geht es in den fünfwöchigen Urlaub. Die ganz große Sensation liegt in der Luft. Schaffen die ewigen Nachzügler der MotoGP tatsächlich den ultimativen Coup? Alles scheint möglich, denn im letzten Rennen vor der Sommerpause wird Espargaro nach einer unverschuldeten Kollision mit Quartararo zwar nur Vierter, ist mit seiner Aprilia aber einmal mehr ganz klar schnellster Mann im Feld. Die Formkurve spricht für das spanisch-italienische Gespann.

In Argentinien erlöste Aleix Espargaro sich und Aprilia, Foto: LAT Images
In Argentinien erlöste Aleix Espargaro sich und Aprilia, Foto: LAT Images

Die verflixte zweite Saisonhälfte: Der Aprilia-Fluch schlägt auch 2022 zu

Auf den großen Durchbruch zu Jahresbeginn folgt aber die Ernüchterung in der zweiten Saisonhälfte. Espargaro steht nur noch einmal auf dem Podium - und das als Dritter auf seiner Paradestrecke im Motorland Aragon. Seine Punkteausbeute pro Rennen halbiert sich, von 13,73 in der ersten Halbzeit der Saison auf 6,78 in der zweiten. Dennoch ist Espargaro erst nach dem vorletzten Grand Prix des Jahres in Sepang aus dem WM-Rennen, rutscht aber durch einen technischen Defekt beim Finale in Valencia sogar noch auf den vierten Gesamtrang ab. Trotz einer über weite Strecken genialen Saison für ihn und sein Aprilia-Team überwiegt am Ende der Frust. Das Zahnpastalächeln ist verschwunden. "Die MotoGP ist mein Job und da musst du professionell sein. Es geht nicht nur darum, Spaß zu haben", meint Espargaro im Gespräch mit dem Motorsport-Magazin. "Jeder weiß aber auch, dass du umso schneller fährst, je mehr Spaß du hast. Diese Freude am Fahren habe ich in der zweiten Saisonhälfte verloren. Ich hatte keinen Spaß und konnte nicht mehr die Dinge machen, die mir in der ersten Halbzeit noch gelungen sind."

Ein derartiger Knick in der Saison ist keine Neuheit im Aprilia-Lager. Schon in den vergangenen Jahren sahen sich Espargaro und seine zahlreichen Teamkollegen - die Garage teilte er sich bei Aprilia bereits mit Sam Lowes, Scott Redding, Andrea Iannone, Bradley Smith, Lorenzo Savadori und nun Maverick Vinales - mit derartigen Problemen konfrontiert. Ein Muster, das es zukünftig aufzubrechen gelte, erklärt er in Sepang, nachdem sein Titeltraum auch theoretisch ausgeträumt ist. "Ich werde nicht öffentlich diskutieren, was der Grund für diesen jährlichen Einbruch ist, aber ich glaube, dass dieses Problem relativ einfach zu lösen wird", sagt er damals. Als ihn das Motorsport-Magazin zwei Wochen später in Valencia zum großen Interview trifft, hört sich das bereits anders an: "So einfach ist es natürlich nicht. Wenn du in einer Saison keine Schwächeperiode hast, dann bedeutet das, dass du über acht Monate hinweg immer extrem stark bist. Das ist schwer zu erreichen - was das Motorrad, das Team und den Fahrer angeht. Die Crew darf sich keine Fehler leisten, es darf keine technischen Probleme geben und als Fahrer darfst du nicht stürzen. So eine Saison zu schaffen ist wirklich schwierig." Aprilia und Espargaro gelang das 2022 auf jeden Fall nicht. Als die MotoGP Anfang Juni nach Barcelona kommt, ist er nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Marc Marquez der große Held der spanischen Fans. Und Espargaro liefert ab - zunächst. Er stellt seine Aprilia auf die Pole Position und fährt im Rennen einem sicheren zweiten Platz entgegen. Doch er lässt sich vom Timing-Turm am Circuit de Catalunya, nur wenige Kilometer entfernt von seinem Elternhaus in Granollers, verwirren und glaubt den Grand Prix eine Runde zu früh für beendet. Als Espargaro seinen Irrtum erkennt, ist er bereits auf Rang fünf zurückgefallen. Neun Punkte gehen flöten. Nach dem Rennen kauert er in seiner Box, das Weinen ist durch den Helm deutlich zu hören. Selbst Dorna-CEO Carmelo Ezpeleta kommt in die Aprilia-Garage, um den tragischen Helden dieses Rennsonntags zu trösten. "Das war unglaublich hart", erinnert sich der stets emotionale Espargaro. "Ich bin als großer Star dieses Grands Prix nach Barcelona gekommen, habe die Pole Position geholt und dann ist mir dieser riesige Fehler unterlaufen. Aber mittlerweile denke nicht mehr allzu viel darüber nach. Das Team hat in dieser Saison einen großen Fehler gemacht und ich als Fahrer habe einen großen Fehler gemacht." Der Fehler seines Teams, auf den Espargaro anspielt, passiert beim Japan-Grand-Prix. Seine Crew vergisst, den für die Sichtungsrunde eingelegten Spritsparmodus vor dem Start zu deaktivieren. Espargaros RS-GP regelt bei 100 km/h und 5000 U/min ab, weshalb er auf das Ersatzmotorrad wechseln muss und schließlich ohne Punkte bleibt. "Durch diese Fehler haben wir einige Punkte verloren. Wenn man die gesamte Saison analysiert, sieht man aber, dass Fabio [Quartararo, Anm. d. Red.] und Pecco [Bagnaia, Anm. d. Red.] mehr unter solchen Fehlern gelitten haben. Insgesamt haben wir uns die wenigsten Patzer geleistet. Natürlich hätte ich gerne diese Zähler auf meinem Konto, aber das ist nun mal Racing. Wie gesagt: Es ist schwer, über acht Monate perfekt zu sein. Meine Hoffnung ist aber, dass wir aus diesem Jahr, in dem wir erstmals um den WM-Titel kämpfen konnten, lernen und uns für 2023 steigern."

Espargaro von Aprilia überzeugt: "Ich glaube daran!"

So versöhnlich klingt Espargaro in diesem Jahr nicht immer. Nach dem Patzer seiner Crew in Motegi äußert er heftige Kritik am Team. Derartige Fehler seien absolut inakzeptabel, meint er damals etwa. Worte, die er so ähnlich nach einem vermasselten Elektronik-Setup im Australien-GP in ähnlicher Form wiederholt. Und die nicht gut ankommen. Es folgt eine interne Aussprache, Espargaro entschuldigt sich wenig später. Im Interview mit dem Motorsport-Magazin stellt er aber auch klar, was ihn zur öffentlichen Kritik veranlasste: "Mein Team kennt mich. Sie wissen, wie ich bin. Ich sehe ein, dass es ein Fehler war, meine Mannschaft öffentlich so anzugreifen. Das hätten wir von Beginn an intern lösen sollen. Das ändert aber nichts an meiner Meinung. Auch ich habe meine Stärken und Schwächen. In dieser Situation bin ich vielleicht etwas über das Ziel hinausgeschossen, aber das ist eben mein Charakter."

In Japan beging Aprilia einen schweren Fehler: Espargaro musste das Bike tauschen, Foto: Screenshot/MotoGP
In Japan beging Aprilia einen schweren Fehler: Espargaro musste das Bike tauschen, Foto: Screenshot/MotoGP

Die abgelaufene Saison glich trotz des schlussendlich verpassten WM-Titels für Aprilia und Aleix Espargaro bereits einer wahren Leistungsexplosion. Ist die Hoffnung auf eine weitere Steigerung 2023 da nicht reiner Zweckoptimismus? Nicht für Espargaro, den sie im Aprilia-Werk Noale nur noch ehrfürchtig ihren 'Capitano' nennen: "Im Vorjahr waren wir erstmals auf dem Podium und niemand hat an uns geglaubt. In diesem Jahr haben wir unser erstes Rennen gewonnen und niemand hat an uns geglaubt. Jetzt glaubt niemand daran, dass wir das 2023 wiederholen können, aber ich glaube daran. Ich verstehe, dass ich mich weiter beweisen muss, nachdem ich 15 Jahre nicht um einen Titel gekämpft habe. Niemand hier zweifelt etwa an Fabio, weil er die letzten drei Saisons immer im WM-Fight war. Gelingt mir das im nächsten Jahr auch wieder, dann wird es 2024 schon weniger Zweifler geben." Es gibt durchaus Gründe, die für eine solche erneute Leistungssteigerung sprechen. Mit Ausnahme einer kurzen Phase rund um die Sommerpause ist Espargaro 2022 im Aprilia-Lager größtenteils auf sich alleine gestellt, Teamkollege Maverick Vinales kann nur selten glänzen. Die Weiterentwicklung der RS-GP liegt somit fast ausschließlich in den Händen des jahrelangen Teamleaders. Ein gegenseitiges Antreiben der Stallgefährten ist ebenfalls nicht zu spüren, zu weit ist Vinales meist von Kollege Espargaro entfernt. Das soll sich 2023 ändern. Weil Vinales dann bereits mehr Erfahrung auf dem Motorrad vorweisen kann. Die abgelaufene Saison war seine erste volle für Aprilia, im Vorjahr kam er nach dem Rauswurf bei Yamaha nur in den letzten fünf Rennen zum Einsatz. Und nicht nur er schickt sich an, auf der RS-GP für Furore zu sorgen. Erstmals darf Aprilia 2023 auch ein Kundenteam ausstatten. Die RNF-Mannschaft von Razlan Razali verlässt Yamaha in Richtung der Italiener und stellt sich mit Miguel Oliveira und Raul Fernandez völlig neu auf. Vor allem Oliveira weiß beim Erstkontant mit seinem neuen Motorrad bereits zu gefallen. Er beendet die Testfahrten nach dem Saisonfinale in Valencia direkt auf dem starken vierten Rang. "Ich bin zu 100 Prozent davon überzeugt, dass mir diese neue Situation helfen wird", sagt Espargaro. "Maverick wird in seinem zweiten vollen Aprilia-Jahr sicher starke Leistungen abliefern, weil er einfach ein sehr talentierter Fahrer ist. Das wird mich antreiben. Dass wir auch ein Kundenteam haben werden, ist vor allem für unsere Ingenieure wichtig. Ducati hatte in dieser Hinsicht zuletzt schon einen großen Vorteil. Sie konnten durch die Tatsache, dass sie so viele Fahrer im Feld haben, fünf unterschiedliche Dinge in einer Session testen. Das war bei uns unmöglich. Wenn wir das Satellitenteam jetzt gut nützen, dann wird das sehr wertvoll für uns sein."

Wo er und Aprilia noch zulegen müssen, ist für Aleix Espargaro klar: "Es gibt zwei Bereiche, auf die wir unseren Fokus legen müssen. Zum einen sind das die ganz engen Kurven. In denen ist unser Motorrad einfach zu steif. Da haben wir sicher noch Luft nach oben. Bei den Testfahrten in Misano und Valencia haben wir mit dem Chassis bereits in diese Richtung gearbeitet." Die Schwäche der RS-GP in engen Kurven wird vor allem auf Strecken wie Spielberg oder Misano augenscheinlich, wo derartige Passagen ja große Teile des Layouts einnehmen. Als einziges Problem seiner Aprilia will er das aber nicht sehen: "Wir brauchen auch mehr Power. Ich will nicht sagen, dass Ducati nur durch die Motorleistung punktet, aber es ist sicher eines ihrer größten Asse im Ärmel. Wenn wir auf ihrem Niveau operieren wollen, dann müssen wir ein paar Pferdestärken finden."

Die Uhr tickt für MotoGP-Spätstarter Aleix Espargaro

Allzu viel Zeit für den Aufstieg in den MotoGP-Olymp bleibt Espargaro nicht mehr. Mit 33 Jahren ist er in der kommenden Saison bereits der älteste Fahrer in der Startaufstellung der Königsklasse. "Dass man so lange braucht, um es hier an die Spitze zu schaffen, ist wirklich nicht normal", schmunzelt der Routinier. "So gesehen bin ich schon ein eigenartiger Fall. Man muss aber natürlich jeden Fahrer auch immer zusammen mit seinem Paket evaluieren. Aprilia als Team und die RS-GP als Motorrad waren in den letzten Jahren einfach nicht auf dem Level, das wir 2022 erreicht haben. Dass dann ein Hersteller und ein 33 Jahre alter Fahrer, die zuvor noch nie ein Rennen gewonnen haben, auf einem so hohen Niveau ankommen, ist aber schon verrückt."

Aleix Espargaro ist zweifacher Familienvater, Foto: LAT Images
Aleix Espargaro ist zweifacher Familienvater, Foto: LAT Images

Espargaro plant nicht, die Position als ältester Mann der Königsklasse lange zu behalten. "Aktuell sehe ich mich nicht bis über 2024 hinaus in der MotoGP. Was Valentino gemacht hat [Rossi fuhr bis ins hohe Alter von 42 Jahren in der Königsklasse, Anm.] ist großartig, aber ich glaube nicht, dass ich die Kraft dafür haben werde. Mal sehen, wie ich mich dann 2024 fühle. Ich denke jedoch, dass es mit den aktuellen Kalendern und der Einführung der Sprintrennen schwierig werden wird, länger als bis 35 zu fahren. Das hat vor allem mentale Gründe. Aus dieser Perspektive betrachtet ist zum Beispiel der Kalender für 2023 völlig verrückt, vor allem der letzte Teil der Saison. Wir werden viel Zeit weit von zuhause entfernt verbringen und wenn du keine 25 mehr bist, dann ist das alles andere als einfach", sagt der Ehemann und zweifache Familienvater. 2014 heiratet er Jugendliebe Laura, vier Jahre später kommen die Zwillinge Max und Mia zur Welt. Die räumliche Trennung von Frau und Kindern belasten Espargaro mehr als die physische Belastung von 42 Rennen 2023 - 21 Sprints und 21 Hauptrennen. "Natürlich ist die MotoGP auch körperlich sehr fordernd, aber als Profi musst du eben in guter Verfassung sein. Früher war die Athletik in unserem Sport nicht wirklich relevant, jetzt sind wir aber physisch auf einem extrem hohen Level und achten alle sehr darauf, was wir essen, wie wir trainieren und auch regenerieren."

Es steht außer Frage, dass Espargaro in der Winterpause 2022/2023 diesem Weg treu bleiben wird. Er zählt zu den fleißigsten Arbeitern der MotoGP. Nicht nur auf technischer und fahrerischer Ebene, sondern eben auch im physischen Bereich, wo er mit mehreren tausend Kilometern auf dem Rennrad in den Bergen seiner Wahlheimat Andorra die Grundlage für den Erfolg auf der Rennstrecke legt. Ob all das reicht, um gegen Ausnahmetalente vom Kaliber eines Francesco Bagnaia, Fabio Quartararo oder Marc Marquez anzukommen, wird sich zeigen. Espargaro und Aprilia haben in diesem Jahr den Schritt in die MotoGP-Elite geschafft. Der finale Aufschwung zum Gipfel ist noch nicht gelungen. Und für den Mann mit der Startnummer 41 tickt die Uhr.

Aleix Espargaro trainiert regelmäßig auf dem Fahrrad, Foto: Twitter/Aleix Espargaro
Aleix Espargaro trainiert regelmäßig auf dem Fahrrad, Foto: Twitter/Aleix Espargaro

Dieser Artikel erschien erstmals in Ausgabe 88 unseres Print-Magazins. Dort blicken wir natürlich nicht nur auf die Recken der MotoGP, sondern auch auf die Formel 1, DTM & Co. Auf den Geschmack gekommen? Das Motorsport-Magazin könnt ihr seit neuestem nicht nur abonnieren, sondern auch an eure motorsportbegeisterten Liebsten verschenken.