Am 19. August platzte die Bombe: Die MotoGP wird 2023 Sprintrennen austragen. Und zwar nicht wie die Formel 1 versuchsweise mit zunächst drei und ab 2023 dann sechs Events pro Jahr, sondern an jedem einzelnen der 21 geplanten Wochenenden, womit eine Gesamtzahl von 42 Rennen erreicht wird. Eine Meldung, mit der kaum jemand gerechnet hatte, die die MotoGP-Welt aber nachhaltig verändern wird. Nie wurde öffentlich über derartige Bestrebungen gesprochen, lediglich in der von Serienpromoter Dorna in Auftrag gegebenen Fan-Umfrage kam das Thema am Rande vor. Doch nun war es plötzlich Realität geworden. Obwohl die offizielle Bestätigung der MotoGP-Bosse noch fehlte, verbreitete sich die Nachricht aus dem Media-Center wie ein Lauffeuer im gesamten Paddock.

Am Freitagnachmittag, wenige Stunden nach dem ersten Leak, erreichte sie im Rahmen der täglichen Medienrunden auch die Fahrer der Königsklasse. Viele Details waren zu diesem Zeitpunkt noch unklar, doch was man wusste, reichte für heftige, fast ausschließlich negative Reaktionen der Piloten. "Ich finde das dumm. Das Rennen ist am Sonntag, wozu brauchen wir da auch noch eines am Samstag? Ich finde einen Sprint an allen Wochenenden dämlich", sagte Weltmeister Fabio Quartararo in einem ersten Statement. Noch drastischere Worte fand Fabio Di Giannantonio: "Meiner Meinung nach ist das komplette Scheiße. Sie versuchen, die Formel 1 oder die Superbike-WM zu kopieren. Aber wir haben jetzt schon so viele Events rund um den Erdball. Wenn wir noch mehr Rennen haben und du dich dann verletzt, kannst du noch mehr Rennen verpassen." In eine ähnliche Kerbe schlug Francesco Bagnaia: "Wir haben Strecken wie Austin, wo dir das eine Rennen am Sonntag bereits alles abverlangt. Da noch einen Sprint zu fahren, wird wirklich hart." Auch Pol Espargaro zeigte sich verstimmt: "Wir haben dann das doppelte Risiko für das gleiche Gehalt. Rennen bedeuten immer mehr Risiko, weil die Motorräder näher beisammen sind und du natürlich versuchst, andere Fahrer zu überholen. Mir ist schon klar, dass die Superbike-WM auch mehrere Rennen am Wochenende fährt, aber unsere Motorräder sind deutlich schneller und somit ist der Sport auch gefährlicher." Aleix Espargaro verwies auf den jetzt schon stressigen Modus am Rennwochenende. "Bei allem Respekt gegenüber der Superbike-WM, aber die MotoGP ist etwas ganz anderes. Wir haben wahnsinnig viel Elektronik, Aerodynamik und jede Menge anderes Zeug an diesen Motorrädern. Da ein gutes Setting zu finden ist jetzt schon schwierig genug, weil die Freien Trainings über die Aufteilung in Q1 und Q2 entscheiden und so auch bereits eine Art Qualifying sind. Wenn du dann noch weniger Trainingszeit hast, wird es richtig hart. Ich liebe Rennfahren und hasse Trainings, aber die müssen eben sein."

Fabio di Giannantonio kritisierte die Sprints mit drastischen Worten, Foto: Credit: gp-photo.de/Ronny Lekl
Fabio di Giannantonio kritisierte die Sprints mit drastischen Worten, Foto: Credit: gp-photo.de/Ronny Lekl

MotoGP-Fahrer ohne Vorwarnung vor vollendete Tatsachen gestellt

Was den Fahrern besonders sauer aufstieß, war die Tatsache, dass sie im Vorhinein von den Verantwortlichen der MotoGP nicht über die Pläne für Sprintrennen informiert wurden, sondern von diesen erst durch die Presse erfuhren. Forderungen nach einer Fahrergewerkschaft, die das Motorsport-Magazin bereits in der vergangenen Printausgabe ausführlich beleuchtet hat, wurden deshalb wieder laut. Am Freitagabend in Spielberg wurden die MotoGP-Stars erstmals von den Verantwortlichen bei Promoter Dorna in die Ideen für 2023 eingeweiht. Am Samstag folgte eine teils bizarre Pressekonferenz mit FIM-Präsident Jorge Viegas, Dorna-Boss Carmelo Ezpeleta und Herve Poncharal, Chef der Teamvereinigung IRTA. Kritische Fragen bezüglich der Sprintrennen wurden von den Funktionären beinahe empört aufgenommen, die Forderungen nach einer Fahrergewerkschaft ins Lächerliche gezogen. Die MotoGP hatte mit ihrer Bekanntgabe der Sprintrennen jede Menge Staub aufgewirbelt. Man hatte aber wohl mit einer anderen Art von Reaktionen gerechnet.

Vier Wochen vergingen schließlich, ehe Dornas Sporting Director Carlos Ezpeleta im Motorland Aragon die genauen Pläne für die Saison 2023 präsentierte. Wichtigste Eckpunkte: Die MotoGP verliert ein Training pro Rennwochenende. Fortan entscheiden zwei Sessions am Freitag über den direkten Einzug in Q2, wobei die zweite Sitzung auf 60 Minuten ausgedehnt wird. Diese beiden Freitagssessions werden in Zukunft auch nicht mehr als Freie Trainings, sondern lediglich als Trainings bezeichnet, da sie seit Einführung des aktuellen Qualifyingsmodus 2013 ja tatsächlich nicht mehr frei sind, sondern ihre Ergebnisse eine Bedeutung haben. Ein wirkliches Freies Training gibt es dann am Samstagmorgen, analog zum derzeitigen FP4. Anschließend geht es wie gehabt in zwei 15-minütige Qualifyings, die über die Startaufstellung für den Sprint und auch das Hauptrennen am Sonntag entscheiden. Der Sprint findet am Samstagnachmittag um 15 Uhr statt und wird über die halbe Distanz des Hauptrennens gefahren. Auch die zu vergebenden Punkte werden halbiert: Zwölf Zähler erhält der Sieger, neun der Zweite, sieben der Dritte, sechs der Vierte und so weiter. Die Top-Neun punkten somit. Als Grand-Prix-Siege gelten Erfolge im Sprint nicht. Diese werden getrennt gewertet.

Einheitlicher Zeitplan: MotoGP kommt als Highlight zum Schluss

Man könnte die Einführung des Sprint-Formats als eine simple Änderung des Zeitplans einstufen, doch das ginge weit an der Realität vorbei. Denn die Sprintrennen sind nur der offensichtlichste Bestandteil eines massiven Wandels, den die Motorrad-Weltmeisterschaft zur Saison 2023 durchmacht. Da ist zum einen die Tatsache, dass die MotoGP nun immer den Abschluss des Tages bilden wird. Das gilt für die Trainings am Freitag, das gilt für den Sprint am Samstag und auch für das Hauptrennen am Sonntag. Ein scheinbar unbedeutendes Detail, das aber sowohl sportlich als auch aus Marketingsicht interessant ist. Sportlich deshalb, weil der bisherige Zeitplan den MotoGP-Fahrern und ihren Teams das Leben unnötig schwer machte. Freitag und Samstag war man stets vor der Moto2 dran, nur um dann am Sonntag das Rennen im Anschluss an die mittlere Kategorie zu bestreiten. Die Moto2-Bikes tragen also direkt vor dem MotoGP-Rennen einen dicken Belag an Dunlop-Gummi auf der Strecke auf, der sich mit den Michelin-Pneus der Königsklasse nicht verträgt. Die Folge: Oftmals verhalten sich die MotoGP-Maschinen im Rennen völlig anders als am gesamten restlichen Wochenende, was die Arbeit in den Freien Trainings zumindest teilweise zunichtemacht und das Rennen zum Roulette werden lässt. "Wir hatten in der Vergangenheit bereits einige Wochenenden, an denen wir aufgrund der Zeitverschiebung bei Überseerennen oder Terminkollisionen mit der Formel 1 unser Rennen vor der Moto2 hatten", erinnert sich Alex Marquez. "Wenn das in Zukunft bei jedem Grand Prix der Fall ist, macht es die Rennen definitiv fairer." Gleichzeitig garantiert man mit der Platzierung des MotoGP-Rennens als krönenden Abschluss am Sonntagnachmittag eine stimmige Dramaturgie. Über etwaige Rahmenserien und Moto3 sowie Moto2 wird sich in Zukunft ein Spannungsbogen aufbauen, der schließlich in der Königsklasse seinen Höhepunkt findet. Da mit Fallen der Zielflagge im MotoGP-Rennen auch der Streckenbetrieb für das Wochenende vorüber ist, wird der Weg freigemacht für die beliebten Track-Invasions. So findet die Veranstaltung einen emotionalen Schlusspunkt, wenn zehntausende Fans auf der unter dem Podium liegenden Start-Ziel-Gerade ihren Helden zujubeln. Diese Chance verpasste man zuletzt oft, weil etwa das zweite MotoE-Rennen am Sonntag erst nach der MotoGP über die Bühne ging. In Zukunft wird die MotoE auf einen Slot am Sonntagmorgen ausweichen müssen. Gleiches gilt für etwaige Rahmenserien wie den Red Bull Rookies Cup, den Asia Talent Cup, den British Talent Cup, den Northern Talent Cup oder die Junior-GP-Weltmeisterschaft. Um für diese Rennen Platz zu schaffen, wird das bisherige Programm am Sonntagmorgen deutlich gekürzt. Moto3 und Moto2 bekommen gar kein Warm-Up mehr, die MotoGP-Session wird von zwanzig auf zehn Minuten reduziert. Auch das wird die Dynamik der Königsklasse verändern. Bislang diente das Warm-Up als letzte Chance, um vor dem Rennen noch eine Richtungsänderung herbeizuführen. Valentino Rossi etwa fand mit seiner Crew regelmäßig im Warm-Up eine Lösung für unterschiedlichste Probleme und fuhr mit dieser dann am Nachmittag zum Rennsieg. Solche wundersamen sportlichen Auferstehungen am Sonntagmorgen werden wir in Zukunft wohl nicht mehr sehen. "In zehn Minuten Warm-Up kannst du gar nichts finden", ist Rossis Halbbruder Luca Marini überzeugt. "Du fährst einfach nur raus und machst einen grundsätzlichen Funktionstest des Motorrads. Das ist vor allem wichtig, wenn du im Sprintrennen einen Sturz hattest. Ansonsten geht es nur darum, sich körperlich etwas aufzuwärmen. Wir werden also in Zukunft mit einer anderen Strategie in diese Session gehen." Ursprünglich wollte Promoter Dorna auch das MotoGP-Warm-Up komplett streichen, doch die Fahrer forderten eine Session am Sonntagmorgen. "Wenn du im Sprint stürzt, musst du das Motorrad vor dem Hauptrennen überprüfen können. In den zehn Minuten, die wir jetzt bekommen, kannst du dann drei bis vier schnelle Runden fahren", stimmt Francesco Bagnaia seinem VR46-Academy-Kollegen Marini zu. "Ein paar Umläufe sind nötig, um den Körper und deine Sicht für das Rennen einzustellen", findet Jack Miller. Auch Enea Bastianini kann mit einer zehnminütigen Session gut leben: "Die zwanzig Minuten, die wir aktuell haben, sind vielleicht ein bisschen viel. Ich hätte 15 Minuten ideal gefunden, aber zehn sind auch okay. Das Wichtigste ist, dass wir ein Warm-Up haben."

Die MotoGP soll als Highlight immer zum Schluss fahren, Foto: LAT Images
Die MotoGP soll als Highlight immer zum Schluss fahren, Foto: LAT Images

MotoGP sucht Fan-Nähe, doch 'Rider Fan Show' trifft auf Kritik

Auf der Strecke gibt es für die MotoGP-Stars am Sonntagmorgen also zehn Minuten weniger Zeit. Ein weiterer Programmpunkt kommt allerdings hinzu. Für 10 Uhr ist die sogenannte 'Rider Fan Show' angesetzt, die eine halbe Stunde dauern wird. Wie diese genau aussehen soll, ist noch nicht bekannt. In der 'Rider Fan Show' sollen die Fahrer auf jeden Fall mit dem Publikum interagieren, um den Fans einen zusätzlichen Mehrwert zu liefern. Die Aktiven sollen von diesem Plan nicht sonderlich begeistert gewesen sein, befinden sie sich zu diesem Zeitpunkt doch in der direkten Vorbereitung auf das Rennen. Eine entscheidende Phase des Wochenendes, die für große Anspannung sorgt und in dem die Fahrer nun abgelenkt werden. Cal Crutchlow, der 2023 nicht im MotoGP-Grid stehen wird, findet deutliche Worte: "Für die Piloten ist das alles andere als ideal." Seine im kommenden Jahr im Einsatz befindlichen Kollegen zeigen sich etwas zurückhaltender. "Es ist, wie es ist", sagt Miguel Oliveira. "Die MotoGP ist eine riesige Plattform für viele Marken und Unternehmen. Wenn wir so mehr Interesse an unserer Meisterschaft generieren können, dann wird das hoffentlich für uns alle positive Folgen haben. Es ist natürlich eine zusätzliche Belastung, die wir aber auf uns nehmen sollten." Aleix Espargaro möchte den neuen Zeitplan erst einmal live miterleben, ehe er sich ein endgültiges Urteil bildet: "Ich war am Beginn nicht begeistert, aber warten wir mal ab. Wenn mir das neue Programm nicht gefällt, dann werde ich euch direkt beim Saisonauftakt 2023 in Portimao sagen, dass ich es scheiße finde." Fabio Di Giannantonio sieht die Veränderung entspannt, denkt aber an einige seiner Kollegen: "Mich stört es nicht, weil ich ein Fahrer bin, der vor dem Rennen nicht besonders nervös ist. Ich glaube, dass ich diese Show genießen und mich dann dennoch zu 100 Prozent auf das Rennen fokussieren kann. Andere Fahrer werden da aber sicher größere Probleme haben. Ich hatte in der Vergangenheit beispielsweise Teamkollegen, die sich vor dem Rennen regelmäßig übergeben mussten. Für die könnte das ziemlich stressig werden."

Die 'Rider Fan Show' ist sinnbildlich für den Wandel, den die MotoGP 2023 durchmacht. Die zuletzt etwas verloren gegangene Bindung zu den Fans soll wieder intensiviert werden. So will man etwa auch der Siegerehrung nach dem Sprintrennen am Samstag einen neuen Ablauf verpassen, der sich von der üblichen Podiumszeremonie unterscheidet. Möglicherweise könnte die Siegerehrung nach Vorbild der Superbike-WM direkt im Paddock stattfinden, umgeben von Zuschauern. Die MotoGP will sich ihre Fans zurückholen und das Sprintrennen ist der bislang deutlichste und mutigste Schritt in diese Richtung. Promoter Dorna blickt dabei auf die positiven Erfahrungen der Formel-1-Kollegen von Liberty Media zurück. Dort sind an den Sprintwochenenden schon samstags volle Tribünen garantiert. Ein Umstand, von dem die MotoGP selbst zu ihren Glanzzeiten im vergangenen Jahrzehnt nur träumen konnte. Obwohl die Tribünen damals an den Rennsonntagen stets aus allen Nähten platzten, am Samstag war man immer weit davon entfernt, die maximale Kapazität auszuschöpfen. Simple Qualifying-Sessions waren offensichtlich zu wenig, um die ganz großen Publikumsmassen an die Strecke zu locken.

In der Formel 1 ist die Fahrerparade seit Jahren gang und gäbe, Foto: LAT Images
In der Formel 1 ist die Fahrerparade seit Jahren gang und gäbe, Foto: LAT Images

Die MotoGP nimmt sich diesem Problem an. Gut so! Den Fans an der Strecke für ihr Eintrittsgeld mehr zu bieten, ist nur fair. Und mit den Sprintrennen wird man wohl am Samstag auch den ein oder anderen zusätzlichen TV-Zuschauer vor den Bildschirm locken. Bestehende Fans der MotoGP dürfen sich also auf ein besseres Angebot freuen. Unklar bleibt aber, wie die Verantwortlichen von Promoter Dorna und Weltverband FIM neue Fans für den Sport begeistern wollen. Denn das wäre die viel wichtigere Mission.

Dieser Artikel erschien erstmals in Ausgabe 87 unseres Print-Magazins. Dort blicken wir natürlich nicht nur auf die Pläne der MotoGP, sondern auch auf die Formel 1, DTM & Co. Auf den Geschmack gekommen? Das Motorsport-Magazin könnt ihr seit neuestem nicht nur abonnieren, sondern auch an eure motorsportbegeisterten Liebsten verschenken.