Der Artikel wurde in der 80. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 02. September 2021 veröffentlicht.

Edgar Mielke, Rudi Moser und Nick Harris waren bereits einige Jahre im Paddock der Motorrad-WM unterwegs, als am 31. März 1996 in Shah Alam ein gewisser Valentino Rossi aus Italien auf einer Aprilia zu seinem ersten Weltmeisterschaftslauf antrat. Dass diese große Karriere erst 26 Jahre später ihr Ende finden sollte, konnte damals noch niemand ahnen. Die drei Kommentator-Legenden nehmen uns mit auf eine Zeitreise.

DER JUNGE VALENTINO ROSSI

EDGAR MIELKE: "Ich habe den jungen Valentino Rossi das allererste Mal im Jahr 1994 in Jerez de la Frontera gesehen. Damals fuhr er als ganz junger Bursche 125er-Motorräder in der Europameisterschaft, die zu dieser Zeit im Rahmenprogramm der Motorrad-WM unterwegs war. Ich bin damals direkt neben ihm an der Box gestanden, als er auf die Strecke gegangen ist und muss sagen: Diese Aura, das Charisma - das hatte er schon als Teenager und das war bereits spürbar. Obwohl er nur in einer Rahmenserie fuhr, war dieser junge Valentino Rossi auf seiner Aprilia der 'Talk of the day' im Paddock. Anhand seines Auftretens und der sportlichen Leistungen auf der Strecke wusste man bereits, dass hier der nächste Überflieger der Weltmeisterschaft kommt. Was er auch damals schon hatte, waren all diese Design-Gimmicks auf seiner Lederkombi und speziell designte Helme. Diese Faktoren haben letztlich dazu geführt, dass er in der Motorrad-WM einen gewissen Showcharakter eingeführt hat wie kein anderer Fahrer zuvor. Ich erinnere mich da etwa an eine 'Claudia Schiffer'-Plastikpuppe, die er bei einer Siegesfahrt auf dem Höcker hatte oder an einen kurzen Stopp auf dem Dixie-Klo, als er soeben in Jerez de la Frontera gewonnen hatte. Er hat seine Siege zelebriert wie kein anderer."

RUDI MOSER: "Carlo Pernat war damals sein Manager bei Aprilia und hat uns bereits vorgewarnt: Aufpassen, da kommt ein ganz schneller Junge, der Sohn von Graziano Rossi. Als er es in die Weltmeisterschaft geschafft hatte, war er unaufhaltsam und ist ungestüm vorangeprescht. Ich war damals beim Grand Prix von Österreich Streckensprecher, als er seinen allerersten Podestplatz in der Weltmeisterschaft geholt hat. Überrascht hat das damals niemanden. Nur ein Rennen später hat er in Brünn bereits seinen ersten Sieg geholt und von da an ging alles den bekannten Weg. Was ihn von Beginn an ausgezeichnet hat, war, dass er ein Vorreiter auf so vielen Ebenen war. Wer hat als Erster beim Anbremsen den Fuß rausgestreckt? Von wem kam die Idee, bei gegebenem Anlass ein neues Helmdesign zu fahren? Wer ist als Erster beim Verlassen der Box immer aufgestanden? Wer hat als Erster in die Onboard gezeigt? All das hat Rossi eingeführt und heute machen es fast alle. Vor seiner Zeit war die Motorrad-WM - etwas überspitzt gesagt - eine Altherrenpartie. Und dann kommt plötzlich ein junger Wilder, der etwa mit Loris Capirossi wettet, ob man vom Hoteldach in den Pool springen könne und die Wette dann gewinnt. Rossi war ein richtiger Lausbub, der eben als Erster auch auf dem Scooter mit Wheelie durch das Fahrerlager gefahren ist."

Valentino Rossi war ein Individualist der Extraklasse, Foto: Milagro
Valentino Rossi war ein Individualist der Extraklasse, Foto: Milagro

NICK HARRIS: "Ich kann mich noch gut erinnern, als er mir in Mugello zum ersten Mal vorgestellt wurde: Damals hieß es noch: 'Das ist der Sohn von Graziano Rossi.' Damals wurde bereits berichtet, wie talentiert er sei und ab diesem Zeitpunkt hatte man natürlich immer ein Auge auf seine Karriere. Mit welch riesigem Talent wir es zu tun haben, wurde aber erst im Jahr 2000 so richtig klar. Denn wir haben schon viele Fahrer in der 125ccm- und 250ccm-Klasse alles gewinnen sehen, die danach bei den 500ern an ihre Leistungen nicht mehr anschließen konnten. Bei Rossi war aber bereits im ersten Jahr in der Königsklasse klar ersichtlich, dass er diesen Sprung schafft. Spätestens bei seinem ersten Sieg in Donington hat das jedem klar sein müssen. Darüber hinaus hat er mit seiner Persönlichkeit, seinem Sinn für Humor, seinem Verständnis für die Fans und dieser leichten Attitüde des Rebellen die Leute begeistert. Wo immer man heute auf der Welt hinkommt, man wird überall irgendwo eine gelbe 46 ausmachen können, wenn man genau hinsieht. Ich denke nicht, dass es ein derartiges Phänomen je zuvor im Motorsport gab - nicht einmal in der Formel 1."

VALENTINO ROSSIS RIVALITÄTEN

EDGAR MIELKE: "Es gab legendäre Rennen gegen Biaggi oder Gibernau. Es gibt viele Piloten, die darunter gelitten haben, dass Valentino Rossi zu einer bestimmten Phase seiner Karriere der unschlagbare Godfather der MotoGP war. Ohne seine Erfolge zu schmälern, muss man aber sagen, dass die Leistungsdichte in den ersten Jahren seiner Karriere nicht allzu hoch war. Da gab es immer nur jeweils einen realistischen Gegner. Daher muss man vor allem seinen letzten WM-Titel hervorheben, denn da gab es harte Konkurrenz mit Stoner, Pedrosa und Lorenzo."

RUDI MOSER: "Er war über weite Strecken seiner Karriere stärker als alle anderen. Valentino Rossi hat sie alle kaputt gemacht. Er ist lange Zeit nach der Devise gefahren: Ich bin der Doctor und wenn der Doctor kommt, müssen alle anderen aus dem Weg. Aber auch abseits der Strecke hat er seine Gegner psychisch kaputt gemacht. Man stelle sich vor, man kommt als Max Biaggi nach Mugello und alle Tribünen sind voll mit der gelben 46. Nur irgendwo in einer kleinen Ecke tragen ein paar Fans deine Farben und Nummer. Das ist die erste Ohrfeige noch lange bevor man überhaupt in der Box auf seinem Motorrad Platz nimmt."

NICK HARRIS: "Die ersten Rivalitäten von Valentino Rossi wurden sehr hart geführt. Zwischen Rossi und Biaggi haben wir Dinge auf der Strecke gesehen, die es davor und danach nie wieder gab. Auch gegen Sete Gibernau: Ich habe damals die Pressekonferenz geleitet, in der Vale Sete gesagt hat, dass er nie wieder ein Rennen gewinnen wird. Genauso kam es am Ende auch. Auch mit Stoner oder Marquez gab es legendäre Duelle. Was Rossi aber immer geschafft hat: Mit jedem dieser Duelle konnte er die enge Bindung seiner Fans noch weiter vergrößern."

VALENTINO ROSSIS BESTE RENNEN

EDGAR MIELKE: "Sein erster Sieg in Brünn bei den 125ern wird immer etwas ganz Besonderes bleiben. Ein ebenso großes Highlight war aber sein Sieg in Welkom 2004 direkt nach dem Wechsel von Honda zu Yamaha. Nach diesem Rennen hat man ihm klar angesehen, dass er an diesen Sieg selbst nicht wirklich geglaubt hat. Aber auch sein allerletzter Erfolg in Assen war sehr besonders."

RUDI MOSER: "Ich kann mich an ein 250er-Rennen in Assen erinnern, in dem er meinen langjährigen Co-Kommentator Jürgen Fuchs um eine volle Runde abgehängt hat. An diesem Tag ist er gefahren wie von einem anderen Stern. Generell war Assen seine Strecke, denn dort gab es mehrere epische Schlachten, die erst in der letzten Kurve entschieden wurden. Er hatte auf dieser Strecke die Fähigkeit, Überholmanöver in der finalen Schikane genau so zu timen, dass es sich im letzten Augenblick noch genau ausgeht."

Rennfahrerisch konnte lange Zeit niemand Rossi das Wasser reichen, Foto: Milagro
Rennfahrerisch konnte lange Zeit niemand Rossi das Wasser reichen, Foto: Milagro

NICK HARRIS: "Ich durfte jeden einzelnen seiner Siege in der Königsklasse kommentieren. 2008 habe ich bei Rossis Duell mit Casey Stoner in Laguna Seca zum ersten und einzigen Mal in meiner Karriere als Kommentator meine Stimme verloren. Das Überholmanöver in der Corkscrew außerhalb des Kerbs war einfach unglaublich. Mir ist aber auch noch sein erstes Rennen auf Yamaha in Welkom 2004 gut in Erinnerung. Yamaha hatte lange Zeit nichts gewonnen, dann kam er und holte gleich im ersten Rennen den Sieg. Und dann auch noch ausgerechnet gegen Max Biaggi auf Honda! Am Ende hat er angehalten, ist abgestiegen, hat die Nummer 46 geküsst und wurde von seinen Emotionen übermannt. Ich habe nie wieder ein besseres Motorradrennen gesehen."

MOTOGP OHNE VALENTINO ROSSI

EDGAR MIELKE: "Ich glaube, dass es in der MotoGP auch ohne Valentino Rossi geht. Wobei er ja ohnehin nicht weg ist, denn er macht sein eigenes Team mit Ducati-Motorrädern, die er mit Leichtigkeit über seine Akademie besetzen kann. Er wird nach wie vor eine hohe Präsenz im Fahrerlager haben und auch in Zukunft oft da sein. Ich glaube sogar, dass er für die Fans zuhause vor dem TV künftig noch greifbarer sein wird als in seiner aktiven Karriere. Weil er als Teambesitzer viel zugänglicher für die Medien sein wird. Er muss nicht mehr selbst fahren, dadurch hat er am Wochenende mehr Zeit. Ich behaupte sogar, dass er in Zukunft der am meisten interviewte Gast sein wird - egal auf welchem Sender und in welchem Land. Alle Fans, die jetzt sagen, dass sie MotoGP nicht mehr gucken, nur weil Valentino Rossi aufhört, sind in meinen Augen keine wirklichen Fans. Der Sport ist nach wie vor spektakulär genug. Ich glaube daher, dass es in der MotoGP-Welt auch nach Rossis Rücktritt schillernd und spannend weitergehen wird."

RUDI MOSER: "Die MotoGP wird seinen Abgang insofern verschmerzen, da die Show, die der Rest abliefert, sehr gut ist. Allerdings sehe ich im Moment niemanden, der seine Fußstapfen im Hinblick auf die persönliche Popularität ausfüllen kann. Wenn ich mir die Burschen alle anschaue, dann sind das für mich im besten Fall Kopien des jungen Valentino Rossi. Da ist aktuell keiner dabei, der einen eigenen Stil oder ein ganz eigenes Charisma mitbringt. Darin sehe ich eventuell ein Problem, denn in dieser Hinsicht wird Valentino Rossi schon fehlen. Es wäre wünschenswert, dass jemand eines Tages diese Fußstapfen ausfüllen kann, aber ich glaube, das könnte schwer werden. Superstars in dieser Größenordnung erscheinen in unserem Sport nur alle 30 Jahre einmal. Irgendeine Sponsor-Kappe von Monster oder Red Bull kann jeder tragen, Rossi hat aus sich selbst mit der gelben 46, Tavullia und all den anderen Dingen eine Marke gemacht. Da kann ihm momentan niemand das Wasser reichen."

NICK HARRIS: "MotoGP ohne Valentino Rossi wird definitiv nicht mehr dasselbe sein. Aber die MotoGP befindet sich gerade auf dem Weg in eine neue Ära, in der sehr viele neue Fahrer heranwachsen. Ich habe in meiner langen Karriere schon oft vom Ende der Motorrad-WM gehört: Die Leute haben das gesagt als Mike Hailwood aufgehört hat und auch als Giacomo Agostini seine Karriere beendet hat. Dabei ist es der normale Lauf der Natur, dass Leute älter werden und das Leben dennoch weitergeht. Natürlich wird die Weltmeisterschaft Valentino Rossi enorm vermissen, aber dieser Sport wird auch ohne ihn bestehen und sich weiterentwickeln."

Valentino Rossi war stets Liebling der Fans, Foto: Yamaha
Valentino Rossi war stets Liebling der Fans, Foto: Yamaha

VALENTINO ROSSIS VERMÄCHTNIS

EDGAR MIELKE: "Man könnte meinen, dass die vielen Erfolge, Siege und Titel sein Vermächtnis für den Sport wären. Aber das ist nicht das, was ich am wichtigsten finde. Das wichtigste Vermächtnis von Valentino Rossi ist seine VR46 Academy, denn mit dieser hat Valentino Rossi den italienischen Motorradsport gerettet. Er hat dafür gesorgt, dass es heute überall italienische Fahrer ohne Ende gibt - egal in welcher Kategorie. Was er damit geschaffen hat und dabei für Speerspitzen hervorgebracht hat, ist unglaublich."

RUDI MOSER: "Valentino Rossi hat die Marke MotoGP so stark mitgeprägt, dass sie eigentlich erst durch ihn aus dieser 500ccm-Weltmeisterschaft hervorgehen konnte. Klar war er nicht allein an diesem Erfolg beteiligt, aber er war jener Fahrer, der in dieser Zeit am meisten polarisiert hat. Wir aus dem Motorrad-Zirkus waren lange Zeit die Belächelten, die eben auch ein bisschen im Kreis fahren durften. Das hat sich durch Rossi geändert, sodass MotoGP heute für viele Menschen ein Fixtermin geworden ist. Daran hat er einen Megaanteil."

NICK HARRIS: "Die Botschaft, die er diesem Sport hinterlässt, ist folgende: Habe immer Spaß an dem, was du tust und zeige allen, wieviel Spaß du daran hast. Vergiss niemals deine Fans, die den Sport auf den Tribünen erst zu dem machen, was er ist. Und fahre immer am äußersten Limit."

Das gelbe Fan-Meer gab es an allen Rennstrecken, Foto: Milagro
Das gelbe Fan-Meer gab es an allen Rennstrecken, Foto: Milagro

EDGAR MIELKE

Seit über 30 Jahren im MotoGP-Paddock bestens vernetzt, kommentierte er u.a. für Sport1 und DAZN. Am Sachsenring und in Sepang fungierte Mielke zudem mehrfach als Streckensprecher.

RUDI MOSER

Für Eurosport und den österreichischen Privatsender ATV kommentierte er viele Jahre live MotoGP-Rennen. Moser trat auch als Streckensprecher und Buchautor auf.

NICK HARRIS

Berichtete schon für die BBC von der MotoGP, ehe er bei der Dorna als Kommentator des offiziellen Livestreams anheuerte. Harris leitete Pressekonferenzen und wirkte an einigen Büchern mit.

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