Klar, 23 Punkte sind viel. Sehr viel. Aber es waren in dieser Saison auch schon mal mehr. Wir reden vom Vorsprung, den Valentino Rossi auf seinen Widersacher Jorge Lorenzo hat. In der Theorie, die Experten wie Giacomo Agostini dazu verleitet, von einem zu 80 Prozent sicheren Titel für die Nummer 46 zu sprechen, mag das ein sanftes Ruhekissen sein. In der Praxis ist es das nicht.

Es gab zu Beginn der Saison schon einmal den Fall, dass Rossis Vorsprung auf Lorenzo sogar 29 Punkte betrug. Damals brauchte der Mallorquiner vier Siege in Folge, um den Spieß umzudrehen. Klar ist, dass anscheinend die ganze Welt einen Weltmeister Rossi begrüßen würde. Verständlich! Selbst sein ehemals erbitterter Gegner Max Biaggi (guter Freund von Lorenzo)spricht mittlerweile von einem verdienten Titel für Rossi.

Erstaunlich! Oder populistisch. Dabei sind noch fünf Rennen zu fahren und 125 Punkte zu vergeben. Wie blank dabei die Nerven, selbst bei den erfahrenen Titelkandidaten liegen, hat das Chaos-Rennen in Misano deutlich gezeigt. Mal abgesehen davon, dass Lorenzo wohl nichts hätte anbrennen lassen, wenn es nicht geregnet hätte, haben beide Titelkandidaten gepatzt. Lorenzo schon im Vorfeld seines Sturzes, weil er die Signale seiner Crew, zum Bike-Wechsel rein zu kommen, ignoriert hat. Komplett auf Rossi fixiert, hat ihn dies letztendlich in den Sturz getrieben.

Aber auch Rossi, der als vermeintlicher Sieger Misano verlassen durfte, hat wichtige Punkte liegen lassen. Er wurde nämlich nur Fünfter statt Zweiter, weil er ebenfalls viel zu spät umstieg. Was für eine Panne im Yamaha-Imperium! Marc Marquez jedenfalls bekam die 25 Zähler für den Sieg auf dem Silbertablett serviert. Und jetzt folgt also Aragon. Spanien. Heimspiel Lorenzo. Irgendwo im Nirgendwo.

Lorenzo oder Rossi? Welcher der beiden Yamaha-Superstars macht das Rennen?, Foto: Milagro
Lorenzo oder Rossi? Welcher der beiden Yamaha-Superstars macht das Rennen?, Foto: Milagro

Auf einer fantastischen Berg-und Talbahn, in einer Gegend, in der es immer auch mal Wetterkapriolen geben kann. Vorteil Rossi? Silverstone und Misano lassen genau dies vermuten. Denn wenn man beide angesprochenen MotoGP-Wochenenden analysiert, hätte es ohne Regen wohl nicht den momentanen Vorteil des Italieners in der WM-Tabelle gegeben. Zu stark war der spanische Widersacher in beiden Fällen in allen Trainingssitzungen. Man könnte auch klar sagen: Rossi hat zweimal in Folge Glück gehabt.

Aber gibt es auf diesem Level noch Glück oder Pech? Oder ist es nicht eher so, dass es Unvermögen Lorenzos ist, wenn er in Silverstone ohne Atemmaske fährt und dann über ein beschlagenes Visier klagt? Auf diesem Niveau geht es jetzt nur noch darum, keine Fehler mehr zu machen! Wem das am besten gelingt, der wird Weltmeister. 23 Punkte Vorsprung, das bringt Rossi nach Hause. Sagen viele. Ja, aber trotz seiner Erfahrung hat auch der neunfache Weltmeister in seinem Wohnzimmer gepatzt. Mit seinem Wechselfehler. Was den 92.000 Fans am Renntag an der Adria nicht so klar war.

Klar ist es schön wenn die Massen an die Strecke strömen und mit Ihrem Idol mitfiebern. Aber in kollektiven Jubel auszubrechen, wenn der Rivale stürzt, kann man auch als fast unfair einstufen. Auch die spanische Hymne für Sieger Marquez ging in den "Vale, Vale"-Gesängen der gelben Fanmeute unter. Ich glaube nicht, dass Valentino Rossi das gut findet. Und Jorge Lorenzo schon gar nicht. Zumal er genau weiß, wie es ist, eine WM zu verlieren, obwohl man eigentlich der schnellere ist. Wie vor zwei Jahren: Da hatte er am Ende nämlich zwei Siege mehr auf dem Konto als Weltmeister Marquez.

Lorenzos Ambitionen in Misano endeten im Kies, Foto: Tobias Linke
Lorenzos Ambitionen in Misano endeten im Kies, Foto: Tobias Linke

Hat Lorenzo daraus gelernt? Vielleicht. Fakt ist, dass die 99 den Titel 2015 noch nicht abgeschrieben hat. Er wird alles versuchen, seine unfassbare Schnelligkeit in jedem Training unter Beweis zu stellen. Aber seine Schwäche im Regen? Die gibt es wohl tatsächlich. Seit dem Schlüsselbeinbruch von Assen. Aber was war letztes Jahr in Aragon? Ein Chaos-Rennen, Flag to Flag vom allerfeinsten! Mit dem Sieger Lorenzo.

Obwohl diesmal der Wetterbericht für das Motorland Aragon null Prozent Regenwahrscheinlichkeit ausweist. Es wird auf jeden Fall ein faszinierendes Duell. Lorenzo und Rossi werden sich belauern. Vale will unbedingt Titel Nummer zehn, Lorenzo Titel Nummer fünf. Und Marquez und Pedrosa wollen Rennsiege. Pedrosa? Ja genau! Aragon könnte nämlich den Hondas entgegen kommen. Und was dann? Dann stellt sich die Frage, wer von den beiden Yamaha-Stars am besten mitfahren kann. Aber so oder so: Es ist eine sensationelle Ausgangslage für neutrale Zuschauer, bei der auf keinen Fall die Spannung raus ist.

Jetzt zählt es! Und das wird spektakulär zu beobachten sein. Ein kleiner Fehler und die WM ist vielleicht entschieden oder wieder völlig offen. Eines ist auf jeden Fall völlig klar: Ein Spaziergang zum Titel wird es in diesem Jahr nicht. Und das weiß auch Valentino Rossi.