Das Jaguar-Kundenteam Envision hätte beim Formel-E-Debüt in Indien einen riesengroßen Erfolg feiern können: Nick Cassidy überquerte die Ziellinie als Zweiter mit nur 0,4 Sekunden Rückstand hinter Rennsieger Jean-Eric Vergne (DS Penske), während Teamkollege Sebastien Buemi sich als Drittplatzierter anschickte, ein seltenes Envision-Doppelpodium einzutüten.

Jedoch: Der Schweizer wurde nach dem Rennende wegen eines 'Overpower'-Vergehens mit einer Durchfahrtstrafe belegt, die in eine 17-Sekunden-Zeitstrafe umgewandelt worden ist. So fiel Buemi vom dritten bis auf den 15. Platz zurück und verpasste seinen ersten Podesterfolg in der Saison 2023.

Das von Sylvain Filippi geführte Envision-Team legte im Anschluss einen Protest gegen diese Entscheidung ein, scheiterte aber an einem simplen Formfehler: Laut dem International Sporting Code können Bewerber keinen Protest gegen Entscheidungen der Sportkommissare einlegen.

"Der Protest ist unzulässig", hieß es am Samstagabend in Hyderabad in der Decision #29 der Stewards. "Die Sportkommissare weisen den Protest zurück und behalten die Gebühr ein. Entscheidungen der Sportkommissare können nur angefochten werden und unterliegen keinem Protest."

Protest ist nicht gleich Berufung

Zur Auffrischung: Laut dem Internationalen Sportgesetz der FIA können Proteste nur gegen die Nennung eines Bewerbers oder Fahrers, die Streckenlänge, ein Handicap, die Zusammensetzung eines Laufs oder Finales, einen mutmaßlichen Irrtum/Unregelmäßigkeit/Verstoß gegen die Wettbewerbsbestimmungen, die mutmaßliche Nicht-Übereinstimmung eines Automobils mit den Vorschriften oder die festgelegte Wertung am Ende des Wettbewerbs eingereicht werden.

Möglich ist allerdings, ein Urteil der Sportkommissare anzufechten und eine Berufung anzukündigen. Und von dieser Möglichkeit hat Envision offenbar Gebrauch gemacht. Der Hinweis unter der veränderten, viereinhalb Stunden nach dem Rennende veröffentlichten Ergebnisliste sowie allen Meisterschaftsständen - 'Finales Ergebnis kann angefochten werden' - lässt eindeutig darauf schließen. Damit ist das Rennresultat nach aktuellem Stand nur vorläufig.

Eine Antwort der Envision-Presseabteilung auf mehrfache Nachfrage von Motorsport-Magazin.com steht seit Sonntagvormittag aus. Die FIA hat auf unsere am Montagvormittag gestellte und wiederholte Anfrage bislang ebenfalls nicht reagiert. Die Gründe dafür blieben zunächst unklar.

Regel-Kniff: Berufung gegen abgelehnten Protest

Sollte Envision angekündigt haben, eine Berufung einzulegen, hat das Team 96 Stunden Zeit, diese schriftlich zu bestätigen und die Berufungsgebühr zu entrichten. Das wäre am heutigen Mittwochnachmittag unserer Zeit der Fall. Im Anschluss ginge der Fall vor das Internationale Berufungsgericht. Das hat es unseres Wissens nach in den vergangenen Jahren in der Formel E trotz mehrerer Proteste und (zurückgezogener) Berufungsankündigungen noch nicht gegeben.

Laut Artikel 12.3.4 des Internationalen Sportgesetz ist es übrigens nicht zulässig, gegen verhängte Drive-Through-Strafen in Berufung zu gehen. Was Envision stattdessen offenbar gemacht hat, um den Fall potenziell weitertreiben zu können: Das Team hat wohl eine Berufung angekündigt gegen die Entscheidung #30 der Stewards, den Protest abzuweisen. Klingt alles recht kompliziert, wäre laut Internationalem Sportgesetz aber zulässig.

Ob das geschehen ist und ob Envision die Berufung durchziehen wird, dazu schwiegen alle Involvierten bislang eisern. Geklärt werden muss, ob es überhaupt möglich ist, gegen die Zurückweisung eines - unzulässigen - Protests in Berufung zu gehen. Schließlich wäre der Protest selbst laut International Sport Code ja immer noch unzulässig...

Buemi-Strafe trotz Leistungs-Nachteil

Worum ging es überhaupt bei Buemis Strafe, die großen Frust beim Jaguar-Kundenteam Envision ausgelöst hat? Das in der Formel-E-Vergangenheit häufiger beobachtete Phänomen der 'Overpower' besagt, dass ein Fahrer im Rennen mehr Energie als per Reglement erlaubt aus der Batterie abgerufen hat. Im normalen Renntrim liegt die Grenze der neuen Gen3-Autos bei 300 kW. Bei der Gen2-Vorgängergeneration kam es öfter zu sogenannten 'Power Spikes', sprich: kurzzeitigen Leistungsspitzen, in denen die Leistungsabgabe über dem erlaubten Maximum lag.

Eine wichtige Besonderheit bei Buemis Fall in Hyderabad: Der vierfache Le-Mans-Sieger erreichte gar keine Leistungsspitze über diesen 300 kW. Stattdessen reduzierte die Software seines Jaguar-Antriebsstranges nicht wie eigentlich vorgesehen automatisch die maximale Leistung analog zur immer stärker ansteigenden Zellentemperatur der Einheitsbatterie von Williams Advanced Engineering. Einfach ausgedrückt: Buemi fuhr in dieser Zeit sogar mit weniger Leistung als eigentlich erlaubt.

"Der verfügbare Leistungspegel wird progressiv verringert, wenn die maximale Zellentemperatur des RESS (Rechargeable Energy Storage System, also die Batterie; d. Red.) sein Maximum erreicht, wie im FIA Supplier Battery Software Implementation Guide beschrieben", hieß es dazu in der entsprechenden Stewards Decision.

"Wir sind nie über 300 kW gegangen", wurde Envision-Teamchef Filippi von The Race zitiert. "In der Batterie hatten wir eine heiße Zelle, die sich abnormal verhielt, und das bedeutete, dass die Leistung, die die Batterie liefern konnte, weit darunter lag. Das System tat sein Bestes, um diese Leistung beizubehalten, die deutlich unter 300 kW liegt. Aber das ist ein völlig anormales Verhalten, das wir noch nie gesehen haben."

Eine Verhandlung vor dem Berufungsgericht - sofern es überhaupt soweit kommt - dürfte endgültig klären, ob das Envision-Team es nicht doch selbst in der Hand gehabt hat, das Problem während des Rennens zu lösen. Verzichtet Envision auf eine Berufung, ist das Rennergebnis des Hyderabad ePrix final und Porsche-Werksfahrer Antonio Felix da Costa behält den dritten Platz, den er infolge von Buemis Bestrafung automatisch eingenommen hat.

Overpower-Strafe: Gab es 2023 schon einmal

Tatsächlich gab es einen ähnlichen Fall bereits in der Saison 2023 beim Debüt der neuentwickelten Gen3-Rennwagen: Beim Auftakt in Mexiko-City erhielt Dan Ticktum (NIO 333) eine Durchfahrtstrafe, weil er auf dem Weg in die Startaufstellung mehr als die erlaubten 200 kW abgerufen hatte. Dafür kassierte der Brite genau wie jetzt Buemi eine Durchfahrtstrafe.

Zwar hatte Envision bei Buemis Auto gegen die Vorgaben des Reglements verstoßen, doch Filippi wünschte sich mehr Fingerspitzengefühl von den Stewards. Laut Angaben des Franzosen habe das Team keine Gelegenheit erhalten, seine Daten zu präsentieren und Filippi pochte darauf, dass man nicht für etwas bestraft werden könne, was nicht in der eigenen Hand läge.

Und weiter: "Was eindeutig nicht richtig ist, was meiner Meinung nach jeder verstehen kann, ist, dass dies eine harte sportliche Strafe ist. Wir wurden bestraft, als ob wir uns einen großen Vorteil verschafft hätten, obwohl wir uns nie einen Vorteil verschafft haben. Ganz im Gegenteil, wir hatten massiv weniger Power, aber wir haben trotzdem die Strafe bekommen."

Rückblick: Als Wehrlein wegen Fanboost bestraft wurde

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte der Formel E, dass eine laut Reglement korrekt verhängte Strafe für mächtig Ärger sorgt: 2021 beim Rennen im mexikanischen Puebla verlor Pascal Wehrlein den zweiten Platz nachträglich, weil ihm ein Fehler bei der Aktivierung des inzwischen nicht mehr existenten Fanboost unterlaufen war.

Als Wehrlein damals den Zusatz-Boost erst in der letzten Rennrunde aktivierte, konnte die Batterie wegen der ansteigenden Temperatur der Zellen nicht mehr die per Reglement vorgegeben Mindestleistung von 240 kW abgeben. Dafür kassierte er eine 5-Sekunden-Zeitstrafe, die ihn vom zweiten auf den vierten Platz zurückwarf.

Kurios: Laut Regelbuch hätte Wehrlein den Fanboost überhaupt nicht nutzen müssen - die unter Fans verständlicherweise kontrovers diskutierte Bestrafung musste er effektiv auf die eigene Kappe nehmen. Doppelt ärgerlich: Mit dem Einsatz des Fanboost hatte sich Wehrlein keinen relevanten Vorteil verschafft, weil Rennsieger Mortara längst enteilt war und der zweite Platz absolut sicher gewesen wäre.