In den vergangenen Jahren waren die weiteren Karriereschritte für die Meister der Formel 2 vorgezeichnet. Charles Leclerc, 2017 nach der Umbenennung der Rennserie von GP2 zu Formel 2 erster Champion in der höchsten Klasse im Nachwuchsformelsport, wechselte im Jahr nach dem Titelgewinn ebenso in die Formel 1 wie George Russell, nach seiner Meister-Saison 2018. Als Mitglieder der Juniorprogramme von Ferrari beziehungsweise Mercedes hatten sie bereits zu Formel-2-Zeiten einen Fuß in der Tür zur Königsklasse des Motorsports. Das war bei ihrem Nachfolger Nyck de Vries in Teilen anders.

Seine seit 2010 bestehende Verbindung zum traditionsreichen McLaren-Rennstall wurde Ende 2018 gekappt. Bereits zuvor schien ihm der Sprung in die Formel 1 verwehrt zu bleiben. Denn der Niederländer unterstützte Audi bei der Entwicklung des Gen2-Fahrzeugs in der Formel E und wurde zeitweise als Kandidat für ein Audi-Cockpit in der DTM gehandelt. Was nur wenigen bekannt ist: 2019 übernahm er für Mercedes Aufgaben im Formel-1-Simulator. Durch die Arbeit kam er in der Saison 2019/20 Werksfahrer an sein Cockpit im Elektrorennstall des schwäbischen Autobauers.

Die Formel E ist keine klassische Rennserie für Nachwuchsfahrer. Der Gesamtsieger erhält zwar 30 Superlizenz-Punkte, nur für den Champion der Formel 2 und der IndyCar gibt es mehr, nämlich 40. Doch die Formel E hatte insbesondere in ihren ersten Jahren eher den Ruf, altgedienten Formel-1-Piloten ein Betätigungsfeld am Karriereabend zu bieten. Jacques Villeneuve, Felipe Massa, Jarno Trulli und Nick Heidfeld sind die prominentesten Beispiele. In den bisherigen sieben Saisons gab es noch keinen Stammfahrer aus der Formel E, der später in der Formel 1 unterkommen konnte.

Hohes Alter für einen Formel-1-Rookie

Nach seinem Titelgewinn sagte de Vries in einem virtuellen Mediengespräch, dass sich das Ansehen der Formel E mit einem Wechsel eines Top-Fahrers in die Formel 1 ändern könnte. "Ich denke, im Moment geht es genau in die andere Richtung. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn es so kommen würde. Es ist schön, zu hören, dass Leute darüber reden. Aber abgesehen davon werde ich abwarten und sehen, was in den nächsten Monaten bezüglich meiner Zukunft passiert", wird er von der Nachrichtenagentur Reuters zitiert.

De Vries ist der erste Formel-E-Meister, der noch nicht in der Formel 1 oder anderen höheren Rennserien 'verheizt' wurde. Mit aktuell 26 Jahren ist er zudem der jüngste Champion der Elektrorennserie. Allerdings wäre er in der Formel 1 mit diesem Alter ein Spätzünder. Mick Schumacher, Yuki Tsunoda und Nikita Mazepin, die aktuellen Rookies im Oberhaus des Motorsports, sind allesamt 22 Jahre alt.

Zuletzt wurde de Vries mit einem Formel-1-Einstieg bei Williams in Verbindung gebracht. Grundsätzlich scheint es möglich zu sein, dass Mercedes ihm zu einem Cockpit bei seinem Kundenteam verhilft. Das müsste aber mindestens voraussetzen, Valtteri Bottas im Werksteam durch den aktuellen Williams-Fahrer George Russell ersetzt wird. Geschieht das nicht, sieht es für de Vries nicht gut aus. Russell und sein Teamkollege Nicholas Latifi gelten für die kommende Saison als gesetzt. Beide Rennställe intensivieren ab der kommenden Saison ihre Zusammenarbeit. Williams wird mehr Komponenten von Mercedes beziehen, unter anderem das Getriebe.

Beim Formel-E-Finale in Berlin am vergangenen Wochenende mehrten sich die Spekulationen, das Mercedes sich nach der achten Saison aus der Formel E zurückziehen werde. Nach Informationen von Motorsport-Magazin.com soll der Ausstieg am Mittwoch verkündet werden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Rennstall unter Toto Wolffs privater Leitung, in Zusammenarbeit mit Venturi oder in Verbindung mit Aston Martin fortgeführt wird. Eine Offerte aus der Formel 1 käme für de Vries sicherlich zu keinem ungünstigen Zeitpunkt.

Mit dem Gewinn des Fahrer- und des Teamtitels sowie je drei Pole Positions und Siegen war die abgelaufene Saison für Mercedes erfolgreicher als das Vorjahr, in dem der Rennstall in der Formel E debütierte. De Vries fuhr in diesem Jahr seine ersten beiden Formel-E-Triumphe ein.

Titel hat hohen Stellenwert

De Vries ist der erste Niederländer, der eine vom Automobilweltverband FIA ausgerichtete Weltmeisterschaft gewann. "Das ist ein lustiger Fakt, aber er hat für mich keinen Wert. Ich messe dem Titel einen Wert zu und dem, was er in der Community bedeutet. Die Formel E ist in unserer Gemeinschaft als eine starke Meisterschaft angesehen", sagte er laut Reuters.

Der aus dem Norden der Niederlande stammende de Vries bestreitet in diesem Jahr neben seinem Formel-E-Einsatz auch Rennen in der LMP2-Kategorie der ELMS und der WEC. Beim vorherigen Rennen der Langstrecken-WM in Monza gewann er in einem vom Racing Team Nederland eingesetzten Oreca die Klasse. Am kommenden Wochenende wird er zum dritten Mal am traditionsreichen 24-Stunden-Rennen in Le Mans teilnehmen.