Dieses Interview stammt aus der 98. Ausgabe unseres Print-Magazins, die im August erschienen ist. Viel Spaß damit!

MSM: Sie haben einen sehr interessanten Hintergrund. Die meisten Leute im Fahrerlager sind hier, weil sie unbedingt in die Formel 1 wollten. Sie wollten das eigentlich nicht...
Pierre Waché: Nein, überhaupt nicht! Es war gar nicht auf meinem Radar. Meine Familie hat einen wissenschaftlichen Hintergrund in der Medizin. Alle waren Doktoren. Ich habe meinen Doktor in Strömungslehre gemacht und war spezialisiert auf Biomechanik. Ich habe mir den Effekt des Blutflusses in den Gefäßen auf die Zellen angesehen.

Haben Sie diesen Weg nur eingeschlagen, weil Sie so aufgewachsen sind oder weil Sie das Thema so interessant fanden?
Damals habe ich das noch nicht so gewusst. Ich mochte die technische Herausforderung. Die Möglichkeit hat sich ergeben, als ich meinen Doktor gemacht habe. Es war nicht so, dass ich das Thema mehr gemocht hätte als andere Themen, ich mochte nur die Herausforderung. Die Herausforderung kam und ich habe sie angenommen.

Red-Bull-Technikchef: Ich wollte nie in die Formel 1

Wenn man etwas studiert, hat man normalerweise ein Ziel, was man später machen möchte. Was war Ihr Ziel?
Mein Ziel war es damals, ein akademischer Wissenschaftler zu werden. Ich habe einen Teil meines Doktorats am Georgia Institute of Technology in den USA gemacht. Ich hatte ein Angebot, ich musste damals aber Wehrdienst leisten. Ich zählte zur letzten Gruppe in Frankreich, die das machen musste. Es gab die Möglichkeit, statt des Wehrdienstes im Ausland Forschungsarbeit zu betreiben. Ich hatte ein Angebot am Georgia Institute of Technology als Postdoktorand zu arbeiten, aber ich habe meine Frau kennengelernt und habe mich dagegen entschieden. Ich wollte zusammen mit ihr in Frankreich bleiben. Ich habe meinen Wehrdienst in Paris geleistet und danach hat sich mein Leben verändert.

Weil Sie zum Reifenhersteller Michelin gingen. Wie kam es dazu?
Nach dem Wehrdienst habe ich nach einem Job gesucht. In Frankreich konnte ich keine akademische Forschung betreiben, weil ich nicht als Postdoktorand gearbeitet habe. Deshalb habe ich nach einer Stelle in der Forschung in der Industrie gesucht. Ich bin kein Pariser, deshalb habe ich außerhalb der Stadt nach einem Job gesucht. Ich mag das Land und in der Nähe des Büros, in dem ich meinen Wehrdienst geleistet habe, war Michelin ansässig. Ich habe mich dort beworben und habe den Job bekommen.

Mit Motorsport hatten Sie also bis dahin gar nichts am Hut?
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe Motorsport und Sport im Allgemeinen - schon seit dem Jugendalter. Ich liebe den kompetitiven Aspekt, aber ich hätte niemals gedacht, dort zu sein. Auch als ich bei Michelin angefangen habe, wollte ich nicht in die Formel 1. Ziel war es, Aquaplaning zu erforschen, weil ich aus dieser Richtung kam. Ich sagte, dass ich dabei helfen kann und bekam schließlich einen Job in der Formel 1. Es ging dort um die Interaktion zwischen Asphalt und Gummi und das war ähnlich zu dem, was ich in der Vergangenheit gemacht habe. Daran habe ich gearbeitet. Ich habe es geliebt und nicht mehr damit aufgehört.

Verstehen Sie noch immer, was zwischen Asphalt und Reifen passiert? Bei den Pirelli-Pneus scheint das etwas komplizierter zu sein...
Ich würde nicht sagen, dass ich es verstehe. Es ist am Limit von dem, was wir wissen. Mit den Informationen, die wir haben, ist es besser, lieber mehr als weniger Wissen zu haben. Aber ein paar Blickwinkel fehlen uns noch immer.

Was genau haben Sie bei Michelin gemacht?
Ich war dort insgesamt sieben Jahre. In den ersten paar Jahren war ich in der Forschung und habe Modelle entwickelt, um den mechanischen Grip zwischen Gummi und Asphalt zu antizipieren und um eine Richtung für die Gummi-Entwicklung für besseren Grip bei trockenen Bedingungen vorzugeben. Das war mehr auf Reifen-Seite, später dann war ich auf der Fahrzeug-Seite und habe mich darum gekümmert, wie das Auto mit dem Reifen funktioniert. Ich war bei Testfahrten vor Ort, aber ich war sonst nie an der Strecke. Ich habe mich auf Forschung und Entwicklung fokussiert.

Über BMW-Sauber zu Red Bull

Als Michelin 2006 aus der Formel 1 ausstieg, gingen Sie zu BMW. Also haben Sie doch richtig Gefallen an der Formel 1 gefunden?
Loic Serra ging vor mir zu BMW und hat mich dann angelockt. Ich sah die Herausforderung als sehr interessant an. Ich hätte auch bei Michelin bleiben können: Es war ein fantastisches Unternehmen, ich habe es geliebt und sie haben mir die Möglichkeit gegeben, dort weiterzumachen - aber Loic hat mich überzeugt. Er ist eine sehr überzeugende Persönlichkeit und dann bin ich zu BMW gegangen. Das war eine sehr schöne Erfahrung.

Sie haben bei BMW erstmals eine übergeordnete Rolle übernommen, zuvor waren Sie sehr stark spezialisiert. Wie hat das funktioniert?
Ich habe mich dort um Reifen und Fahrdynamik gekümmert. Ich denke, dass jeder gleich starten muss - da ist es egal, bei welchem Team. Du beginnst mit dem, worin du sehr gut bist, wo du denkst, dass du in manchen Bereichen mehr weißt als die anderen. Ich bin mir nicht sicher, dass ich besser darin bin als andere, aber man ist ein Experte auf diesem Gebiet. Anschließend sieht man sich die Interaktion dieses Gebiets mit dem Rest an. Wenn man sich mit Reifen beschäftigt, sind die Überschneidungen mit Fahrdynamik und Aerodynamik ziemlich groß. Die Reifen sind das Einzige, was den Boden berührt, sie generieren die Performance des Autos. Dann interagiert man mit der Aerodynamik, weil man sich ansieht, wie sie sich im Windkanal verhalten und wie sich die Form im CFD verändert. Fahrdynamik bei BMW war eine Fortführung von dem, was ich bei Michelin gemacht hatte.

In Frankreich sind die Studiengänge eher allgemeiner gehalten, sie sind nicht so spezialisiert wie in manch anderen Ländern. Das ist auf der einen Seite eine Schwäche, weil man nicht sofort mit einem Job beginnen kann. Man hat eine größere Werkzeugkiste, man weiß aber noch nicht, wie man das Werkzeug nutzt. Mir hilft das, zu kommunizieren. Mir hat es die Möglichkeit gegeben, in diesem System zu wachsen und einen Überblick zu haben. So habe ich die Chancen bekommen. Ich habe nicht mit Nachdruck daran gearbeitet. Ich war geduldig. Das Problem ist Folgendes: Ich sehe Leute, die technisch sehr gut sind, aber sie sind sehr ungeduldig, nach oben zu kommen. Man muss aber geduldig sein.

Für viele ist die extreme Spezialisierung wohl ein Problem. Wenn Sie heute bei einem Automobilhersteller beginnen, kümmern Sie sich um einen Blinkerhebel. Das hat mit dem Auto selbst nichts zu tun...
Das kann frustrierend sein, aber sie haben einen sehr wichtigen Anteil, denn wenn der Blinker nicht funktioniert, funktioniert das System nicht. Man muss darin die Motivation finden. Ich denke, dass alle Jobs im Unternehmen sehr wichtig sind. Manchmal merken die Leute nicht mehr, wie wichtig sie sind.

Dann wurde aus BMW wieder Sauber. Ich nehme an, das war eine schwierige Zeit für Sie?
Das war für die Menschen eine schwierige Zeit, weil wir die Zahl der Mitarbeiter reduziert haben. Auf der anderen Seite ist es so: Ich versuche immer, die positiven Dinge zu sehen. Manche Leute bekamen dadurch mehr Möglichkeiten. Weil man weniger Leute hat, musst du deinen Aufgabenbereich und dein Wissen erweitern. Das war für mich selbst eine sehr gute Erfahrung. Damit ich einen Job aufgebe, müssen sehr schlimme Dinge passieren oder es muss eine große Möglichkeit oder eine große Motivation geben. Normalerweise bleibe ich dort, wo ich bin. Ich bin damit sehr glücklich.

Warum sind Sie dann zu Red Bull gegangen?
Adrian hat Kontakt zu mir aufgenommen. Oder besser gesagt, jemand hat mich im Auftrag von Adrian kontaktiert und wollte mich ins Team holen. Die Herausforderung, mit ihm in einem Weltmeisterteam zu arbeiten, war so groß für mich. Ich wusste, dass wir bei Sauber in der damaligen Situation niemals Weltmeister sein werden. Wenn wir einen guten Job gemacht haben, wurden wir Vierter, Fünfter oder Sechster. Aber es wäre schwierig gewesen, den nächsten Schritt zu machen. Dann wollte ich sehen, was dafür nötig ist. Es war auch eine riesige Herausforderung für mich, mit ihm zu arbeiten.

Eine große Herausforderung, mit Adrian Newey zu arbeiten?
Ja, mit Adrian und mit dem Weltmeisterteam. Wenn du nicht weißt, was du nicht weißt und sehen willst, ob du gut genug für das nächste Level bist. Das war es hauptsächlich, was mich motiviert hat.

Welches Bild hatten Sie damals von Adrian, bevor Sie mit ihm gearbeitet haben?
Dass er ein sehr guter Aerodynamiker ist. Und eine sehr berühmte Person. Mehr habe ich darüber nicht nachgedacht, ich kannte ihn nicht. Wenn man nicht in dieser englischen Blase ist, kennst du die Leute nicht.

Wie hat sich Ihre Sicht auf Adrian über die Jahre verändert?
Ich war überrascht von seiner offenen Herangehensweise und von seinem Konkurrenzdenken. Wenn man ihn kennt, weiß man, dass er eine sehr, sehr kompetitive Person ist. Und er ist unvoreingenommen. Wenn man älter wird und schon sehr erfahren ist, dann hat man normalerweise eine Antwort. Ich sehe das bei meinen Eltern: Je älter man wird, desto stärker ausgeprägt ist die Tendenz bei dem zu bleiben, was man kennt. Das ist ein Fakt. Ich bin genauso. Er hingegen kann seine Meinung ändern. Das ist glaube ich der Grund dafür, warum er für so lange Zeit an der Spitze ist.

Adrian Newey mag sich nicht verändert haben über die Jahre, die Struktur im Technik-Team bei Red Bull sehr wohl.
Ja. Das hing davon ab, wie die verschiedenen Leute involviert waren. Als ich bei Red Bull begann, arbeitete Adrian noch Vollzeit. Die anderen technischen Leiter waren Peter Prodromou, Rob Marshall und Mark Ellis. In dieses Umfeld kam ich damals. Als Mark Ellis und Peter Prodromou gingen, kamen neue Leute und neue Strukturen. Adrian hat sein Engagement nach 2014 heruntergefahren. Die Gründe dafür hat er damals selbst erklärt. Wir haben uns dann anders organisiert und von da an hat es sich entwickelt. Das ist ein natürlicher Prozess.

Waché: In diesem Business musst du widerstandsfähig sein

Als Sie zu Red Bull kamen, war der Erfolg schnell weg. Nach vier WM-Titeln in Folge war Red Bull wegen des Motors chancenlos. Wie sind Sie damit umgegangen?
In diesem Business musst du widerstandsfähig sein. In jedem Teil dieses Jobs arbeiten Leute jeden Tag hart und am Ende kann es sein, dass man im Q1 einen Crash hat... Man muss widerstandsfähig sein, jeder gibt sein Maximum. Auch wenn es dir am Ende nicht dabei hilft, zu gewinnen, hilft es dir, Fortschritte zu machen. Was wir in dieser Phase hatten, hat uns dabei geholfen, 2022, 2023 und auch 2021 zu gewinnen. Ich würde sagen: In schwierigen Zeiten entwickelt sich das Team noch besser.

2018 wurden Sie Technischer Direktor. Was hat sich dadurch verändert?
Ich musste mich mehr mit anderen Aspekten des Autos beschäftigen, als ich mich zuvor wohl gefühlt hatte. Ich habe mich dann wohler gefühlt damit und versucht, kein Kontroll-Freak zu sein. Es ist eine ziemlich schwierige Herausforderung. Vor allem mit Leuten, die schon lange da waren, war es schwierig. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich 2018 und 2019 einen besonders guten Job gemacht habe. Ich musste zunächst lernen, wie ich mit anderen interagieren kann. Weil die Leute schon eine lange Zeit dort waren, hatte ich eine andere Beziehung zu ihnen. Ich war ihr Kollege und wurde ihr Boss. Das war schwierig für mich. Aber als Leute gegangen sind und wieder neue kamen, war es einfacher für mich, mit diesen Leuten zu interagieren.

Nun verlässt Adrian das Team komplett. Inwiefern müssen Sie das Team umstrukturieren?
Im Moment restrukturieren wir nichts. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir werden ihn vermissen. Jemanden mit so viel Erfahrung und mit so viel Überblick über das gesamte Auto wirst du vermissen. Aber im Moment restrukturieren wir nichts, wir haben auch ohne ihn eine gute Struktur, die die Arbeit hinbekommt. Wenn wir in Zukunft feststellen, dass uns in einem Bereich etwas fehlt, dann restrukturieren wir. Aber mit oder ohne ihn: Das Team ist lebendig. Wie in jedem System versucht man, es zu entwickeln, um voranzukommen. Was man macht, ist niemals selbstverständlich.

Pierre Waché ist seit 2013 bei Red Bull beheimatet, Foto: LAT Images
Pierre Waché ist seit 2013 bei Red Bull beheimatet, Foto: LAT Images

Haben Sie nun mehr Druck?
Nein. Ich habe die gleichen Gefühle und den gleichen Druck. Wenn wir scheitern, habe ich die gleichen Gefühle und die gleiche Verantwortung wie zuvor. Ich hatte schon zuvor das Gefühl, dass es meine Verantwortung war, egal ob Adrian da war oder nicht. Vielleicht ist es von außen mehr Druck auf mich, weil ich etwas mehr in den Medien bin. Vielleicht ist es mehr Druck für meine Familie, aber für mich ändert sich nichts.

Warum ist Red Bull das erfolgreichste Team der letzten 15 Jahre?
Dieses Team wurde von Christian und Adrian rund um die Mentalität eines Rennteams aufgebaut. Man muss anerkennen, dass sie damit einen fantastischen Job gemacht haben. Wir sind ein Rennteam, wir sind kein Unternehmen. Ich beurteile nicht, wie andere Leute arbeiten, aber wir haben eine verrückte Mentalität. Wir sind nicht glücklich, wenn wir gewinnen, wir sind nur unglücklich, wenn wir verlieren. Das ist ein Unterschied. Wir spritzen nicht mit Champagner rum, wenn wir gewinnen. Es macht Spaß. Gleichgesinnte Leute und viele Details machen ein Gewinnerteam aus. Das bedeutet auch, dass man Niederlagen akzeptieren muss. Wenn man in einer schwierigen Phase ist, muss man sehen, wie man weitermacht. In diesem Team wird niemals dem Team die Schuld gegeben. Die Art und Weise, wie Christian das Team von außen schützt, ist sehr gut für die Fabrik und das Team generell. Du wirst nie von ihm hören, dass das Team einen schlechten Job macht, weil man nicht auf Pole gefahren ist. Das sagt er nie, er schützt uns. Auch wenn wir manchmal einen schlechten Job machen, dann wissen wir, dass wir es besser können. Aber es hilft uns, dass wir ein ruhiges Umfeld haben und das Problem innerhalb des Teams lösen können. Das hilft dir dabei, Leute zu halten und dich selbst zu entwickeln.

Ist das der Grund, weshalb Sie Risiken eingehen können? Risiken bei jedem einzelnen Teil, Risiken bei der Strategie und bei allem?
Ja. Der Grund dafür sind zwei Sachen: Der Schutz, den wir von Christian genießen und das Unternehmen. Die Mentalität des Unternehmens ist diesbezüglich sehr gut. Und dann ist da die Racing-Mentalität. Wir sind hier, um Risiken einzugehen. Dieses Team geht mehr Risiko ein als alle anderen. So fahren wir Rennen, das sieht man auch an der Strategie. Wir sind nie in der Defensive. Wir sind immer im Angriff. Das ist eine fantastische Mentalität.

Was war die größte Herausforderung in Ihrer Karriere?
Meine Ankunft bei Red Bull. Ich wollte zeigen, dass ich auch bei einem Siegerteam einen Unterschied machen kann. Das war für mich persönlich sehr herausfordernd.

Ihr wollt noch mehr exklusive Interviews, Analysen und Co. lesen? Dann ist unser Print-Magazin genau das richtige für euch. Sechsmal im Jahr flattert die gedruckte Ausgabe des Motorsport-Magazins bei unseren Abonnenten ins Wohnzimmer. Hier findet ihr alle Informationen, wie auch ihr zu unserem Magazin kommen könnt.