Die Formel 1 fuhr 2022 mit komplett neu gestalteten Autos aus der Garage. Das Ziel dieser Regelrevolution war klar: Die Boliden sollten dank angepasster Aerodynamik und neuer Reifen leichter hinterherfahren können und das Überholen somit erleichtern. Nach der ersten beendeten Saison unter dem neuen Reglement analysieren wir, ob die neuen Regeln ihrem Zweck gedient haben und die Ground-Effekt-Autos wirklich ein Schritt in die richtige Richtung waren.

Für unsere Analyse ziehen wir den Vergleich der Saisons 2022 und 2021 heran. Damit stehen sich das letzte Jahr der alten Regeln und Jahr Eins der neuen Formel 1 gegenüber. Ein fairer Vergleich kann nur auf Rennstrecken angestellt werden, die in beiden Jahren befahren wurden. Portugal, Russland, die Türkei und Katar waren 2021 aber nicht mehr 2022 im Kalender. 2022 kehrten Australien, Kanada, Singapur und Japan nach einer Corona-Pause zurück. Außerdem wurde erstmals in Miami gefahren. Ebenfalls nicht in die Wertung ging der Belgien Grand Prix, denn dort gab es 2021 zwar ein Ergebnis nach zwei Runden hinter dem Safety-Car, aber ein Rennen wurde nicht gefahren. Trotz dieser Ausschlüsse bleiben mit 16 Grand Prix immer noch mehr als zwei Drittel des Kalenders übrig, um einen Vergleich anzustellen.

In Belgien wurde 2022 insgesamt 74 mal überholt, aber das 'Rennen' von 2021 lässt keinen anständigen Vergleich zu, Foto: LAT Images
In Belgien wurde 2022 insgesamt 74 mal überholt, aber das 'Rennen' von 2021 lässt keinen anständigen Vergleich zu, Foto: LAT Images

Im Folgenden sehen wir den Vergleich der Rennen 2022 und 2021. Gezählt wurden alle Überholmanöver auf der Strecke. Positionsverschiebungen am Start (1 Runde) und durch Besuch der Boxengasse gingen hingegen nicht in die Statistik ein. Da unterschiedliche Strecken schon immer etwas überholfreundlicher oder -feindlicher waren, ist die Differenz zum Vorjahr nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch Prozent angegeben.

Formel-1-Überholstatistik: 2022 vs. 2021

Rennen20222021DifferenzDifferenz in %
Bahrain787534%
Saudi-Arabien3227518,5%
Emilia-Romagna2342-19-45,2%
Spanien4851-3-5,9%
Monaco13013-
Aserbaidschan2327-4-14,8%
Großbritannien312926,9%
Österreich67382976,3%
Frankreich3360-27-45%
Ungarn611744258,8%
Niederlande2324-1-4,2%
Italien582335152,2%
USA833251159,4%
Mexiko242314,3%
Brasilien77651218,5%
Abu Dhabi793643119,4%
Gesamt75356918432,3%
Pro Rennen47,135,611,532,3%

Beim Blick auf die Überholtabelle können wir die Rennen in drei Kategorien aufteilen: Grand Prix mit deutlich mehr Überholmanövern, Grand Prix mit deutlich weniger Überholmanövern und solche, bei denen sich wenig getan hat. Als Grundlage für diese Kategorisierung verwenden wir die Differenz in Prozent. Wir beginnen mit der letztgenannten Kategorie.

8 Rennen ohne große Veränderung

Mit Bahrain, Saudi-Arabien, Spanien, Aserbaidschan, Großbritannien, den Niederlanden, Mexiko und Brasilien weisen genau die Hälfte der untersuchten Rennen eine Abweichung von weniger als 20% im Vergleich zum Vorjahr auf. Insgesamt überwiegt hier der Anteil der Rennen mit einem Anstieg an Überholmanövern leicht.

Egal ob neue oder alte Regeln: In Bahrain wird viel überholt, Foto: LAT Images
Egal ob neue oder alte Regeln: In Bahrain wird viel überholt, Foto: LAT Images

Vor allem in den Niederlanden und Mexiko konnten die neuen Regeln nicht dabei helfen, das Rennen zu verbessern. Beide Strecken weisen sowohl 2021 und 2022 einen sehr niedrigen Wert für einen Nicht-Stadtkurs auf. Anders sollten hingegen der Auftakt in Bahrain und das Rennen in Brasilien bewertet werden. Diese Grand Prix waren bereits 2021 actiongeladen und hatten zahlreiche Überholmanöver zu bieten. Dass es dort 2022 sogar noch ein paar Positionsverschiebungen gab, spricht eher für die neuen Regeln.

Nur Emilia Romagnia und Frankreich mit deutlichen Verlusten

Die Liste der Rennen mit deutlich weniger Überholmanövern ist sehr kurz: Die Rennen in Imola und Le Castellet haben beide 45% an Positionswechseln im Vergleich zum Vorjahr einbüßen müssen. Beim Grand Prix in der Emilia Romagnia Region ergibt sich aus den Bedingungen keine Erklärung: Sowohl 2021 als auch 2022 fand das Rennen unter Mischbedingungen statt. 2022 wurde dort aber auch ein Sprint ausgefahren, sodass schnelle Fahrzeuge sich vielleicht schon im Kurzrennen in Positionen brachten, die 2021 erst durch Manöver im Grand Prix erreicht wurden.

In Imola wurden Überholmanöver deutlich seltener, Foto: LAT Images
In Imola wurden Überholmanöver deutlich seltener, Foto: LAT Images

In Frankreich hingegen ist der Schuldige für den Überholrückgang schnell gefunden: Der Wind. 2021 blies den Boliden auf der langen Mistral-Geraden ein strammer Gegenwind entgegen, der sowohl den Effekt des Windschattens als auch das DRS verstärkte. 2022 hingegen war der Wind bei weitem nicht so stark.

Massive Steigerungen nur einmal durch Regen erklärbar

Bei den übrigen sechs Grand Prix mit deutlich Steigerungen in Sachen Überholmanöver können die Bedingungen nur einmal als Erklärung herhalten. Im Leitplankentunnel von Monaco sorgte der Regen für 13 Überholmanöver, während es im Vorjahr, dem normalen Monaco-Rennen entsprechend, kein einziges gab. Daher konnte auch keine Steigerung in Prozent berechnet werden. Erst ein Trockenrennen in Monaco wird zeigen können, ob dort mit den neuen Autos auch ohne nasse Piste überholt werden kann.

Bei den fünf anderen Grand Prix gibt es einen massiven Ausreißer: Ungarn. 258% Steigerung an Überholmanövern konnten am Hungaroring verzeichnet werden. Fairerweise muss hier gesagt werden, dass der Startcrash von 2021 viele Autos aus dem Rennen nahm, die sonst Überholmanöver hätten zeigen können. Dennoch wurde in Ungarn 2022 in allen teilen des Feldes kräftig überholt, während 2021 nur Lewis Hamilton im überlegenen Mercedes in der Lage war, auf seiner Aufholjagd einige Manöver zu zeigen. In Erinnerung bleibt dennoch, wie lange er brauchte, um an Fernando Alonso vorbeizukommen. 2022 hingegen Überholte der Brite zügiger, obwohl sein Dienstwagen nicht so konkurrenzfähig war.

Während in den USA 2022 das Safety-Car nach der Stroll-Alonso-Kollision sicherlich eine Rolle spielte, gab es in Österreich, Italien und Abu Dhabi keinen offensichtlichen Grund, warum es dort einen derart hohen Anstieg an Überholmanövern geben hätte sollen. Die logischste Erklärung wäre also, dass die neuen Regeln dort besonders gut wirken.

Der Ungarn Grand Prix sah den mit Abstand größten Zuwachs, Foto: LAT Images
Der Ungarn Grand Prix sah den mit Abstand größten Zuwachs, Foto: LAT Images

Neue Formel-1-Regeln bringen mehr Überholmanöver

Pirelli hatte vor kurzen angegeben, dass es 2022 30% mehr Überholmanöver als noch 2021 gab. Dieser Vergleich des Reifenausstatters der Königsklasse bezog sich aber auf alle 22 Rennen und berücksichtige die Änderungen der Strecken im Rennkalender nicht. Mit unserem Vergleich der 16 Rennen, die in beiden Jahren gefahren wurden, erzielen wir das gleiche Ergebnis wie die Italiener: Die Formel 1 hat um etwas mehr als 30% an Überholmanövern zugelegt. Die neuen Regeln scheinen ihre Wirkung also zu zeigen.

In abschließender Betrachtung ist es jedoch wichtig zu sehen, dass mehr Überholmanöver nicht automatisch ein besseres Rennen bedeuten. Ein spannender Zweikampf mit einem mutigen Manöver am Ende wird in unserer Analyse gleich bewertet wie ein DRS-Manöver, bei dem der Verfolger mit großem Überschuss einfach an seinem Konkurrenten vorbeifährt. Der Großbritannien Grand Prix galt vielen Fans als das beste Rennen des Jahres 2022, aber mit 31 Überholmanövern bewegte sich Silverstone eher im unteren Durchschnitt der Saison. Dennoch elektrisierte dort ein toller Dreikampf von Leclerc, Hamilton und Perez das Publikum. Am Ende ist die Anzahl der Überholmanöver also mehr ein Richtwert, ob in der Formel 1 gut überholt werden kann und nicht, ob diese Manöver die Zuschauer vor Begeisterung aus ihren Sitzen reißen.