Sebastian Vettel auf Instagram. Allein diese Tatsache war am Donnerstag vor dem Ungarn GP selbst großen Medien eine Nachricht wert. Sebastian Vettel, nach Kimi Räikkönens Social-Media-Coming-out der letzte Mohikaner im digitalen Zeitalter der Formel 1 ohne direktes Sprachrohr zu seinen Fans. Während bei seiner Pressebetreuerin Britta Röske noch Anfragen eingingen, ob es sich beim Instagram-Profil tatsächlich um den viermaligen Weltmeister handle, platzte um 12:00 Uhr die Bombe: Sebastian Vettel beendet seine Formel-1-Karriere am Ende des Jahres. »Aston Martin verkündet Sebastian Vettels Rücktritt«, hieß es in der dazugehörigen Pressemitteilung. Tatsächlich aber brauchte es die Aussendung nicht, Vettel verkündete das Ende selbst.
Eine leere Wand, ein profaner Hocker. Jeans, schwarzes T-Shirt, lange, zottelige Haare, Drei-Tage-Bart. Viel mehr Details gibt es im Video, in dem Vettel sein Karriereende verkündet, nicht zu sehen. Nicht einmal, welche Farbe der Hocker hat. Vettel wählte für seine Botschaft ein schwarz/weiß-Video. Reduziert auf das Wesentliche - den Inhalt. 4:10 Minuten auf Deutsch, 4:02 Minuten auf Englisch. Gut vier Minuten Sebastian Vettel pur, die zahlreichen Fans die Tränen in die Augen trieben. Zwei Beiträge, mehr als zwei Millionen Follower. Mehr als drei Millionen Herzchen flogen Vettel virtuell für seine beiden Videos zu, zehntausende Kommentare fanden sich darunter wieder.
Eine Woche zuvor hatte Vettel in Frankreich noch in der offiziellen FIA-Pressekonferenz eine Vertragsverlängerung durchblicken lassen. »Es gibt die klare Absicht, weiterzumachen«, hatte der Heppenheimer verkündet. »Ich werde meine Zeit in der Formel 1 am Ende des Jahres beenden«, kommt er wenige Tage später im Videostatement gleich zum Punkt. Von Vettels Entscheidung sickerte bis unmittelbar vor der offiziellen Verkündung rein gar nichts durch. Nur seine engsten Vertrauten wussten Bescheid. Kurz bevor er seine Nachricht in die Welt hinausposaunte, sprach er zum Team. »Es war am wichtigsten, mit dem Team zu sprechen. Es ist mein Team. Es ist das Team, für das ich fahre. Die Leute, die Tag und Nacht alles geben, sollten es wissen und von mir erfahren. Ich war schon in Situationen, in denen ich Dinge durch die Medien erfahren habe. Das finde ich nicht unbedingt stilvoll«, erinnert sich der 53-fache GP-Sieger. Erst jetzt begann das Radio Fahrerlager leise zu rauschen - bis die Bombe dann mittags platzte.
»So habe ich noch niemanden einen Rücktritt bekanntgeben sehen«, zollt Christian Danner nicht nur dem Fahrer, sondern vor allem dem Menschen Sebastian Vettel Respekt. »Ich bin besessen von Perfektion«, sagt Vettel in seinem Videostatement. Auch beim Rücktritt darf es nicht weniger als ebenjene Perfektion sein. »Es ist keine Entscheidung, die ich über Nacht getroffen habe«, verriet er in seiner Rücktritts-Pressekonferenz am Hungaroring. »Die Timeline geht Jahre zurück.« Schon vor der Pandemie reiften beim dreifachen Familienvater die ersten Gedanken an ein Karriereende, der um Monate verschobene Saisonauftakt 2020 und der Lockdown waren Katalysatoren: »Es hat uns allen die Zeit gegeben, darüber nachzudenken, was wir machen möchten. Es ist erstaunlich, wie schnell all das verschwunden ist und durch den Alltag verdrängt wurde. Das ist auf eine Weise gut, auf andere nicht.«
Während der Corona-Pause entschied sich Ferrari gegen Vettel. Obwohl man ursprünglich mit ihm und Charles Leclerc weitermachen wollte, musste der dritterfolgreichste Ferrari-Pilot der Geschichte für Carlos Sainz Platz machen. Eine ganze Saison noch mussten Vettel und Ferrari zusammen durchstehen. Aber Vettel entschied sich gegen das Karriereende danach. »Ich habe das Team gewechselt, eine neue Herausforderung und ein neues Umfeld gefunden. Ich hatte damals noch einige offene Fragen, die ich beantworten wollte. Heute habe ich ein klares Bild davon. Ich habe seitdem zwar keine Rennen gewonnen, aber ich denke nicht, dass ich das musste. Es ging mehr darum, es selbst zu lösen. Ich weiß, was ich kann. Ich weiß, dass ich zu den Besten gehören kann und was es dafür braucht.«
Sich selbst konnte es Vettel noch einmal beweisen, doch der Kampf um den Einzug ins Q3 ist für die Weltöffentlichkeit ein Abstieg des jüngsten Formel-1-Weltmeisters der Geschichte. Kam der Rücktritt sportlich zu spät? »Die Frage darf man sich natürlich stellen«, meint Christian Danner. »Es ist immer schwierig, den richtigen Zeitpunkt zu finden und deshalb sage ich ganz klar: Ja, er hat den richtigen Zeitpunkt getroffen. Nicht früher, nicht später, sondern jetzt. Er hatte keinerlei Zwang, dass ihn irgendjemand loswerden wollte oder dass er gemerkt hat, es geht nicht mehr, ich bin zu langsam. Das war alles nicht der Fall. Er konnte das für sich selbst entscheiden.«
Sir Jackie Stewart sieht die Thematik ähnlich: »Ich denke, es ist wundervoll, dass er sich entschieden hat zurückzutreten. Er hat sich nicht gehen lassen, weil er ein gewisses Alter erreicht hat. Er ist immer noch ein konkurrenzfähiger Rennfahrer. Es passiert nicht oft, dass Grand-Prix-Piloten seiner Klasse einfach aufhören.« Dass es Vettel war, der die Entscheidung traf, daran lässt Aston Martin keinen Zweifel - obwohl das Team mit Fernando Alonso wenige Tage später schon einen Nachfolger präsentierten konnte. »Wir haben ihm klar gemacht, dass wir nächstes Jahr mit ihm weitermachen wollten. Aber schlussendlich hat er das getan, was er für sich selbst und seine Familie für richtig hält - und das respektieren wir natürlich«, so Aston-Martin-Boss Lawrence Stroll.
Die Familie. Vettel ist seit jeher Familienmensch. Frau Hanna und ihre drei gemeinsamen Kinder leben zurückgezogen in der Schweiz. Öffentliche Auftritte mit Ehefrau sind äußerst selten, Interviews mit ihr gibt es nicht, Fotos von den Kindern erst recht nicht. Vettel tut alles, um sein Familienleben privat zu halten und zu schützen. Nun will er vor allem mehr Zeit mit ihr verbringen. »Neben dem Rennsport habe ich eine Familie und schätze die gemeinsame Zeit«, sagt er im Rücktrittsvideo. »Meine Leidenschaft für die Formel 1 geht einher mit einem hohen Zeitaufwand. Zeit, die ich mit meiner Familie verbringen möchte. Die Energie, die es braucht, um mit dem Auto als auch dem Team eins zu werden erfordert Konzentration und Anstrengung. Mich der Formel 1 so zu widmen, wie ich es in der Vergangenheit getan habe, wie ich es für richtig halte, und ein guter Vater und Ehemann zu sein, passen für mich nicht mehr zusammen. Meine Ziele haben sich verändert: Weg von Rennsiegen und um Meisterschaften zu kämpfen, hin zu meinen Kindern. Ich möchte sie aufwachsen sehen, ihnen meine Werte weitergeben, ihnen zuhören und mich nicht mehr verabschieden müssen. Ich möchte von ihnen lernen und mich von ihnen inspirieren lassen.«
Dabei nahm ihm Frau Hanna die Entscheidung keineswegs ab. »Ich habe viel Zeit damit verbracht, mit meiner Frau darüber zu sprechen und sie war wahrscheinlich die Erste, die mich darin unterstützt hat, weiterzumachen«, verriet der Formel-1-Pilot. Für ihn war es keine Entscheidung entweder oder. Aber wenn Formel 1, dann richtig. Die Form von Aston Martin half ihm dabei, seine Entscheidung zu treffen: »Ich weiß, wie intensiv dieser Job ist und wie viel Engagement nötig ist. Wenn man es macht, muss man es richtig machen. Es motiviert mich nicht, nur hier zu sein und Teil des Ganzen zu sein. Das Ziel war immer, zu gewinnen und vorne mitzufahren. Ich hatte das Privileg, so viele tolle Autos und Teams gehabt zu haben, mit denen ich so viele Erfolge einfahren konnte. Dieses Team steht den anderen davor in nichts nach, aber das Paket war nicht so stark, wie wir es gerne gehabt hätten.«
Familie und mangelnde Konkurrenzfähigkeit beeinflussten die Entscheidung, waren aber nicht die einzigen Faktoren. »Kinder sind unsere Zukunft«, betont Vettel. »Was heißt Zukunft? Wir leben in einer sich stark verändernden Welt. Wie wir alle die nächsten Jahre gestalten, wird unser zukünftiges Leben bestimmen. Formel 1 Fahrer zu sein, bringt Dinge mit sich, die mir nicht mehr gefallen. Vielleicht werden diese irgendwann gelöst. Aber der Wille, diese Veränderung umzusetzen, muss viel stärker werden und schon heute zum Handeln führen.« Sein Beruf machte Vettel in den letzten Jahren zum wohl größten und schnellsten Heuchler der Welt.
Der Umweltschutz ist mehr als nur eine Herzensangelegenheit für den Familienvater. Teilweise lässt sich der Motorsport nur schwer damit vereinbaren. »Es stört mich nicht, wenn Menschen mich einen Heuchler nennen, denn ich weiß, dass ich dabei ich selbst bin. Wenn ich mich hier umsehe, ist der ganze Raum voller Heuchler in dieser Hinsicht«, sagt Vettel, als er die anwesenden Journalisten mustert. »Aber es geht nicht darum, ein wie großer Heuchler man ist. Es kommt darauf an, wie viel man unternehmen kann. Einige von uns können viel tun, andere nur sehr wenig, aber alles macht einen Unterschied.« In Silverstone organisierte Vettel selbst einen Demorun mit synthetischem Benzin im 1992er Weltmeister-Williams von Nigel Mansell. Er versucht, Leidenschaft und Lebensaufgabe unter einen Hut zu bringen.
Es bleibt aber beim Versuch. »Ich sehe, wie sich die Welt verändert und ich sehe die Zukunft, die für uns alle bedrohlich ist, ganz besonders für die kommenden Generationen«, mahnt Vettel. »Ich weiß, dass ein Teil meines Jobs mit Dingen verbunden ist, von denen ich kein Fan bin. Ich reise um die Welt, fahre Autos, verbrenne Ressourcen, das sind Dinge, die ich nicht ignorieren kann. Ich sehe das und sobald man sich dessen bewusst ist, kann man das nicht mehr verdrängen. Es ist aber nicht der Hauptgrund, es ist eine Kombination aus vielen Faktoren.« Nun ist also Schluss. Mit 35 Jahren. Wenn andere ihr ganzes Arbeitsleben noch vor sich haben, hört Vettel auf. Selten aber hat sich ein Sportler so intensiv mit der Entscheidung auseinandergesetzt, so stark reflektiert, so stark auch über das Danach nachgedacht. »Ich glaube, es gibt immer ein Rennen zu gewinnen«, blickt er in die Zukunft. »Das Rennen hat bereits begonnen. Mein bestes Rennen? Liegt noch vor mir.«
Gemeint ist das Rennen gegen die globale Erderwärmung. Ob der Einsatz für die Umwelt auch den Rentner Sebastian Vettel vollumfänglich ausfüllt, bleibt abzuwarten. »Ich gebe ehrlich zu, dass ich auch Angst davor habe, was jetzt kommt«, reflektiert er. »Es könnte ein Loch sein, ich weiß nicht, wie tief es ist und ob ich jemals herauskommen werde, aber ich habe viel Unterstützung, viele Menschen, die mir bis hierhin geholfen haben und das auch weiterhin tun werden. Sie geben mir Ratschläge und hoffentlich treffe ich auch zukünftig die richtigen Entscheidungen, um in zehn Jahren eine bessere Version von mir selbst zu sein.« Eine Sache kann ihm seine neue Berufung nicht ersetzen: »Das Fahren schneller Autos. Das Adrenalin, die Zweikämpfe auf der Strecke. Ich habe darüber nachgedacht und es gibt wahrscheinlich keinen Ersatz dafür. Ich habe mir andere angesehen, wie sie damit umgegangen sind, ob sie sich etwas anderes gesucht haben, das ihnen den Adrenalin-Rausch beschert. Es ist weg und wird nicht mehr da sein.«
Aber für sein neues Leben, das am 20. November nach dem Abu Dhabi GP beginnen wird, ist Vettel bereit, das aufzugeben: »Wenn ich ein Rennen haben will, meine Kinder wollen das jeden Tag. Aber wenn ich ein Rennen fahren will, wird mir schon etwas einfallen. Es wäre falsch, zurückzutreten, wenn man weiß, dass man noch Rennen fahren will.« War es das also endgültig mit dem Rennfahrer Sebastian Vettel? Ein Hintertürchen lässt er sich und seinen Fans noch auf: »Es wird mein letztes F1-Rennen sein. Vom Alter her ist es kein Problem, etwas anderes zu machen. Ich bin körperlich in einer tollen Verfassung, ich habe keine Probleme, diese Autos zu fahren. An dieser Front hält mich nichts zurück. Ich kann nicht ja oder nein sagen, weil die Entscheidung, die ich jetzt getroffen habe, ist, dass dieses Kapitel endet. Ich sage nicht, dass dieses Kapitel endet, weil ein anderes direkt beginnt und ich nächstes Jahr andere Autos fahre. Das ist nicht die Entscheidung, die ich getroffen habe. Wie ich mit dieser großen Veränderung umgehen werde, weiß ich nicht. Die Zeit wird es zeigen.«
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