Sommerpause in der Formel-1-Saison 2022. Motorsport-Magazin.com nutzt die rennfreie Zeit, um einen Blick auf die erste Saisonhälfte der Teams aus der Königsklasse zu werfe. Heute: Ferrari. Wie gut sind die Roten im Vergleich zum letzten Jahr und wieso sind sie dennoch nicht im WM-Kampf vertreten?

Ziel vs. Realität
Für ein Team wie Ferrari gibt es in der Formel 1 eigentlich naturgemäß kein anderes realistisches Ziel als die Weltmeisterschaft, vor allem nachdem aufgrund des Regelumbruchs im Winter die Karten neu gemischt wurden. Doch obwohl der F1-75 definitiv eines der, wenn nicht das beste Auto im Feld ist, ist der Titel-Zug wohl schon abgefahren. Es bräuchte für die Scuderia wohl ein Wunder oder eine Verletzung von WM-Leader Max Verstappen, um den Rückstand aufzuholen. Insofern muss man Ferraris Saison wohl als Enttäuschung abhaken.

Ferrari: Fehlerserie stoppt Titelambitionen

Das Maximum des Möglichen ist derzeit sowohl bei den Konstrukteuren als auch in der Fahrer-Weltmeisterschaft der Vize-Titel. Bei beidem liegt man derzeit auf Kurs, wenn auch Mercedes im Team-Titelkampf und bei den Fahrern Red-Bull-Pilot Sergio Perez nur knapp dahinter liegen. Das große Problem bei Ferrari in dieser Saison war die Zuverlässigkeit und die Umsetzung der Pace in ein gutes Renn-Resultat.

Motorschäden bei Leclerc in Spanien und Aserbaidschan, sowie bei Sainz in Österreich, und eine Reihe weiterer Defekte kosteten empfindlich viele Punkte. Dazu kamen noch Unfälle: Leclerc warf in Frankreich einen möglichen Sieg - mindestens aber P2 - weg und ließ in Imola ein sicheres Podium liegen, Sainz verunfallte beim Australien-GP in der ersten Runde und wurde von Daniel Ricciardo beim Emilia-Romagna GP abgeräumt. Die strategischen Patzer der Scuderia in Monaco, Silverstone und Ungarn leisteten auch ihren Beitrag zum Punkte-Defizit.

Entwicklung:
Wenn man die derzeitige Position von Ferrari an den letzten Jahren misst und nicht an ihren eigenen Ansprüchen, sieht die Welt in Maranello schon deutlich besser aus. Während man 2021 nur dritte Kraft war und lediglich ab und zu ein Podium abstauben konnte, ist man dieses Jahr performance-technisch an der Spitze angekommen, was sich auch in der Punktetabelle wiederspiegelt.

Im Jahr 2020 war man sogar noch weiter hinten anzutreffen, damals belegte die Scuderia den sechsten Platz in der Konstrukteurs-WM. Die Richtung passt also bei der Scuderia und das gilt nicht nur für die Platzierungen am Ende der Formel-1-Saison sondern auch für die Entwicklung in diesem Jahr: Seit Upgrades in Kanada hat man den Rückstand auf der Geraden gegen Red Bull stark dezimiert und hatte performance-technisch in den Sommermonaten die Nase vorne.

Formel 1 2022: Pleitenserie nach Top-Start

Der Höhepunkt:
Das Beste kommt am Anfang! So lässt sich die erste Saisonhälfte der Scuderia am besten beschreiben. Denn nach dem Bahrain-GP erstrahlte die WM-Wertung nach dem Sieg von Charles Leclerc noch ganz in rot - dem ersten seit 2019 - und gleichzeitig war es dank dem Red-Bull-Drama auf den letzten Runden auch ein Doppelsieg. Besser kann man nicht in eine WM starten.

Natürlich könnte hier auch der Australien-GP stehen, der im Falle von Leclerc die WM-Ambitionen klar untermauerte, weil sich der Ferrari leistungsmäßig dem restlichen Feld im Rennen um Welten überlegen zeigte und der Vorsprung in der Fahrer-WM so groß wie nie wieder war. Doch der Unfall von Carlos Sainz auf der ersten Runde versetzte diesem Rennen einen Makel.

Der Tiefpunkt:
Die Achterbahnfahrt der Scuderia in der ersten Saisonhälfte war voller Tiefpunkte. Moralisch saß der Stachel wohl bei den Rennen in Monaco und Ungarn besonders tief. Beide Male ging Ferrari als haushoher Favorit in die Startaufstellung und bei beiden GPs verspielte man anschließend an der Boxengasse den Sieg. Auch der GP in Imola sticht hier hervor mit nur sechs Punkten im Sonntagsrennen, einem Patzer von Leclerc sowie zwei Unfällen von Carlos Sainz.

Doch die größte sportliche Blamage ereignete sich für Ferrari beim Großen Preis von Aserbaidschan, wo keiner der roten Boliden auch nur bis zur Hälfte durchhielt. Auf Sainz' Hydraulik-Defekt in der achten Runde folgte ein kapitaler Motorschaden am in Führung liegenden Boliden von Charles Leclerc. Der einzige Nuller der Saison hat nicht nur mathematisch die WM-Aussichten von Ferrari um Meilen zurückgeworfen, sondern auch endgültig die Technik-Schwächen des F1-75 offenbart.

Qualifying-Bestie Charles Leclerc

Charles Leclerc:
Charles Leclerc performte in den ersten 13 Rennen der Formel-1-Saison vor allem auf eine Runde auf Weltklasse-Niveau. 7 Poles sprechen für sich und dass der Monegasse trotz seiner relativ kurzen Zeit bei der Scuderia schon auf der dritten Stelle der ewigen Pole-Statistik in Maranello steht, spricht Bände. Nicht nur auf eine Runde, sondern auch im Rennen war Leclerc Carlos Sainz klarer voraus, als das der Punktestand in der Formel-1-WM wiedergibt. Dennoch war die bisherige Saison alles andere als perfekt: Die beiden Fahrfehler in Imola und vor allem in Frankreich kosteten wertvolle Punkte. In Kombination mit Ferraris Zuverlässigkeits- und Strategie-Fauxpas muss Leclerc so wohl noch mindestens ein Jahr auf eine Weltmeisterschafts-Chance warten.
Durchschnittsnote MSM-Fahrerranking: 1,98 (P2)

Carlos Sainz:
In der letzten Saison landete Carlos Sainz in der Endabrechnung noch knapp vor Leclerc - wenn auch mit etwas Glück. Dieses Jahr geht die Schere zwischen den beiden Ferrari-Piloten weiter auseinander. Im Qualifying verliert Sainz durchschnittlich knapp unter 0,3 Sekunden und konnte Leclerc dabei nur zweimal im direkten Kampf hinter sich lassen. Im Rennen kann er ebenfalls häufig nicht die Leclerc-Pace mitgehen. Obwohl Sainz in Großbritannien sowohl seine erste Pole als auch seinen ersten Sieg einfahren konnte, hat er offenkundig mit der neuen Auto-Generation mehr Probleme als sein Stallgefährte. Dazu kamen noch einige Fahrfehler früh in der Saison wie im Imola-Qualifying, in Australien oder in Barcelona.
Durchschnittsnote MSM-Fahrerranking: 2,57 (P9)

Kommentar: Lieber inkonstant als langsam

Motorsport-Magazin.com glaubt, Ferrari hat die Weltmeisterschaft 2022 allem Anschein nach schon jetzt verloren. Aber sie haben sie immerhin auf der Strecke verloren und nicht wie in den letzten Jahren bereits vor dem Saisonstart mit einem viel zu langsamen Boliden. Die Scuderia muss noch in einigen Bereichen aufräumen, um wieder WM-fähig zu sein, allen voran in der Strategie-Abteilung und bei der Zuverlässigkeit. Aber - und das ist das wichtigste - in Maranello steht schon mal ein Auto, auf das man aufbauen und das mit der richtigen Entwicklung in Zukunft um Weltmeisterschaften kämpfen kann. Das ist zwar nicht der ultimative Anspruch der Scuderia, aber es ist immerhin ein Anfang nach mehreren düsteren Jahren.