Die Vorentscheidung im Kampf um den Weltmeistertitel in der Formel 1 schien schon gefallen. Mit einem unangetasteten Sieg vergrößerte Max Verstappen in Mexiko seinen WM-Vorsprung auf Lewis Hamilton auf 19 Zähler. Bei nur noch vier zu fahrenden Rennen hätte sich der Niederländer beim folgenden Brasilien-GP bereits in eine Position bringen können, die einen WM-Gewinn Hamiltons aus eigener Kraft unmöglich machen würde.

In Sao Paulo deutete schnell alles genau darauf hin. Erst wechselte Mercedes bei Hamilton erneut den Motor, der Brite musste die zweite Motorenstrafe des Jahres verdauen. Dann kam es noch dicker: Ein unglücklicher technischer Defekt am DRS-System - Mercedes fühlte sich von der FIA unfair behandelt - sorgte für einen illegalen Flügel, Hamilton wurde vom Qualifying ausgeschlossen und musste den Sprint statt von der Pole Position vom letzten Startplatz in Angriff nehmen.

Lewis Hamilton kämpft sich Brasilien & Katar zurück

Dann wendete sich das Blatt. Vom letzten Startplatz stürmte Hamilton im Sprint binnen 24 Runden auf den fünften Platz. Wegen der Motorenstrafe wurde daraus wieder Startplatz zehn. Doch obwohl Verstappen gleich am Start Polesitter Valtteri Bottas abschüttelte, war gegen Hamilton, trotz Starts aus dem Mittelfeld, kein Kraut gewachsen. In einem harten Duell rang der Brite seinen Rivalen nieder und gewann letztlich mit großem Vorsprung.

Der Rückstand in der WM schmolz auf 14 Punkte zusammen, sofort folgte der Katar-GP. Diesmal brannte nichts an. Hamilton feierte einen hoch überlegenen Start-Ziel-Sieg. Einzig die schnellste Rennrunde entriss Verstappen dem Briten. Rückstand in der WM: nur noch acht Punkte. Bei zwei noch zu fahrenden Grands Prix hat Hamilton das Ruder also herumgerissen. Nicht nur das Momentum ist auf seiner Seite, auch die kommende Strecke in Saudi-Arabien soll dem Mercedes-Paket viel besser liegen.

Wolff: Brasilien-Unglück hat den Löwen in Lewis entfesselt

Doch so sehr Hamilton selbst vor allem sein Team und die kleinen Fortschritte lobt, die in Summe einen riesigen Schritt gebracht haben sollen, sieht sein Chef vor allem einen Faktor in der Verantwortung: Hamilton selbst. Oder besser gesagt das, was schon immer im statistisch längst erfolgreichsten Fahrer der Sportgeschichte schlummerte.

"Wenn Widrigkeiten auftreten, dann bringt ihn das in eine Lage, in der er fähig ist, Superhelden-Kräfte zu mobilisieren", sagt Toto Wolff. "Und es waren die Widrigkeiten, die das in Interlagos ausgelöst haben." An diesem Samstag habe sich mit der aus Mercedes-Sicht ungerechtfertigten Disqualifikation in Hamilton etwas verändert, so Wolff. Der Kämpfer kam zum Vorschein.

In Brasilien kam auch bei Wolff selbst der Löwe zum Vorschein, Foto: LAT Images
In Brasilien kam auch bei Wolff selbst der Löwe zum Vorschein, Foto: LAT Images

Toto Wolff: Hamilton ist brutal und kaltblütig

Wolff: "Sie haben an diesem Samstag in Interlagos den Löwen geweckt. Er ist absolut voll da, brutal und kaltblütig. Das ist das Beste in Lewis, und das haben wir schon in der Vergangenheit gesehen." Etwa in Singapur 2018. Damals schüttelte Hamilton im Qualifying - alles andere als Favorit - wie aus dem nichts eine Zauberrunde aus dem Ärmel. "Sternstaub", kommentierte Wolff damals. Hamilton sprach von Magie.

Drei Jahre später staunt ernetu nicht nicht nur Toto Wolff. Auch die Mercedes-Ingenieure können sich Hamiltons aktuelles Leistungsvermögen kaum erklären. Der riesige Vorsprung von einer halben Sekunde im Qualifying in Katar war so nicht erwartet. "Wir dachten nie, dass es so viel werden würde", sagt Andrew Shovlin, leitender Strecken-Ingenieur bei Mercedes.

Mercedes staunt: Hamilton-Faktor übertrifft Simulationen

Gerechnet hatte man nur mit ein bis zwei Zehnteln - was noch immer ordentlich gewesen wäre, so der Brite. "Aber dann war das einfach dieser letzte Run. Seine erste Kurve war gut und dann war er einfach im Fluss. Er ist gerade einfach voll in seinem Element. Wir können unsere Simulationen anstellen, aber nichts erklärt, warum er so weit vor Max war. Das ist fundamental. Das ist nur er", schwärmt Shovlin.

Auch Brasilien sei der Wahnsinn gewesen. "Brasilien war das beste Rennen, was ich je von ihm gesehen habe", sagt Shovlin. "Und hier war das Qualifying unglaublich, wenn man bedenkt, wie nah Red Bull eigentlich an uns dran ist. Er hat es vom Start bis ins Ziel kontrolliert. Wir mussten nicht so hart arbeiten wie erwartet."

Mercedes strotzt vor Selbstbewusstsein: Saudi-Sieg eingeplant

Genau dieser Hamilton-Faktor, die "Superkraft", mit dem Rücken zur Wand umso stärker zurückzuschlagen, soll nun zurück sein - und Verstappen nun keine Chance mehr lassen. Neuen Mut hat Mercedes spätestens seit Brasilien geschöpft. "In der Türkei waren wir so stark und sind dann in Austin und Mexiko unter den Erwartungen geblieben. Aber jeder bei uns im Team weigert sich, aufzugeben", erinnert sich Wolff. "Und ich bin dankbar, wie sich die Meisterschaft gedreht hat.

Das gelte gerade nach Red Bull starker Frühform zu Saisonstart. In Bahrain schien der RB16B dem W12 haushoch überlegen. Nur durch taktisches Kalkül und dank Hamiltons Cleverness siegte der Brite beim Saisonauftakt. "Wenn du mir zu Saisonbeginn gesagt hättest, dass wir in Saudi-Arabien und Abu Dhabi voll im Kampf sind, dann hätte ich es angekommen", sagt Wolff. "Ich hoffe, es geht ganz bis zum Ende. Wer auch immer gewinnt, verdient den Sieg."

Eine Entscheidung erwartet Wolff sogar deutlich erst beim letzten Rennen. In Saudi-Arabien sieht der Teamchef Mercedes inzwischen auch selbst zu gut aufgestellt, als dass man Boden verlieren würde. Im Gegenteil. In Jeddah müsse man fast nur durchkommen, so Wolff. Helfen soll dort nämlich wieder Hamiltons neuer Brasilien-Motor. In Katar schonte Mercedes seinen jüngsten Verbrenner noch, fuhr mit einem älteren Antrieb, wie Wolff bei Sky verriet. Doch in Saudi-Arabien und Abu Dhabi soll die "Granate", so Wollf, zurückkehren.

Mercedes: "Granaten"-Motor aus Brasilien in Saudi zurück

Wolff weiter: "Ich glaube, wenn wir in Saudi-Arabien durchkommen und hoffentlich beide vorne sind, dann kommt die Entscheidung im allerletzten Rennen", sagt Wolff. "Wer dann gewinnt, gewinnt die Meisterschaft." Die Zeiten des Understatements sind ein für alle Mal gezählt. Jetzt herrscht Aggressivität. Der Löwe ist geweckt.