Ein kreischender V10-Motor, ohrenbetäubende Jubelschreie im Motodrom, ein Urschrei beim Sprung auf das Podium. All das würden Formel-1-Fans als Einstieg in eine Dokumentation über einen der erfolgreichsten Rennfahrer in der Geschichte des Motorsports erwarten. Von wegen. Die neue Netflix-Dokumentation "Schumacher" macht genau das Gegenteil.
Luftblasen steigen aus der Tiefe empor. Die Sonne scheint leicht durch die Meeresoberfläche. Ein Junge und ein Mädchen winken in die Unterwasserkamera. Und Schildkröten drehen unbeeindruckt ihre Runden, nichtsahnend, wer sie da gerade bestaunt. Und selbst wenn sie es wüssten, würden sie sich wohl nicht darum scheren.
Die Dokumentation beginnt unter Wasser, entschleunigt. Mit dem kompletten Gegenteil vom schnelllebigen Formel-1-Geschehen, aber auch mit genau dem Bild vom Familienmenschen Michael Schumacher, von dem seine Fans während seiner Karriere oft gehört, aber selten etwas zu sehen bekommen haben. Ein bisschen mehr davon erwartet sie in dieser Dokumentation, ein bisschen wird der Vorhang zurückgezogen.
Aber keine Angst, ein großer Teil der 112 Minuten dreht sich ums Racing. So vermischen sich die Unterwassergeräusche schon bald mit einem wohlbekannten Bild von einem roten Rennwagen, der zu den Worten von Michael Schumacher aus dem Dunkel des berühmtesten Tunnels der F1-Welt ins Tageslicht des Fürstentums saust.
Schumacher: Erinnerungen an eine einzigartige Formel-1-Karriere
Der Film blickt auf die gesamte Karriere des siebenmaligen Champions zurück und greift immer wieder wichtige Momente heraus, die jedem Formel-1-Fan ein Begriff sein werden. Die Geschichte wird von Schumachers Familie, Kollegen, Konkurrenten und Wegbegleitern erzählt.
Die Voice-Over-Passagen werden mit vielen Fotos und Archivfilmaufnahmen der Rennen, aber auch aus dem Privatarchiv der Familie unterlegt, etwa vom erwähnten Tauchgang, der Hochzeit, dem Fallschirmspringen oder Urlaub in Norwegen. Dabei wird auch Schumacher mittels Interview-Ausschnitten immer wieder eingebunden. Gerade zu Beginn fällt auf, dass der Fokus stark auf dem Footage und weniger auf den Erzählern liegt.
Dabei kommen immer wieder kleine Anekdoten zum Vorschein, aber bei weitem nicht so viele, wie man sich als Zuschauer vielleicht wünschen würde. Etwa wie Schumacher und Willi Weber am Vorabend des F1-Debüts in Spa noch Pizza essen waren. Das letzte Mal, dass sie niemand erkannt hat. Solche Momente und Erinnerungen hätten es ruhig ein paar mehr sein können. Oder Aufnahmen aus Schumachers Kartzeit, wo er bei der Siegerehrung für den Gewinn von 696 Mark gelobt wird.
Im Laufe der Dokumentation sticht das Sounddesign immer wieder hervor. Zum Beispiel bei der eingangs erwähnten Eröffnungsszene und der folgenden kompletten Runde in Monaco, bei der erst am Ende, wenn Schumachers Voice Over endet und das Auto wieder in den Tunnel eintaucht, der gewohnte Sound eines hochdrehenden Ferrari-Motors zu vernehmen ist. Oder wenn die Räder von Schumachers Ferrari nach den Ereignissen von Jerez 1997 im Kiesbett durchdrehen und Kieselsteine aufwirbeln.
Überhaupt ist es für Formel-1-Fans ein Genuss, die mittlerweile wohl schon als historisch anzusehenden Fahrzeuge und Aufnahmen aus den 90er Jahren zu sehen. Etwa die Onboard-Kamera aus Magny Cours 1992. Verglichen mit der Helmkamera von Fernando Alonso in Spa 2021 war das noch eine ganz andere Welt - und trotzdem faszinierend.
Alles, nur nicht "Drive to Survive: Schumacher Edition" - gut so!
Der eigentliche Film lässt sich ganz einfach in drei Akte unterteilen. Akt 1 erzählt Schumachers Einstieg in die Formel 1 samt den frühen Erfolgen mit Benetton. Es folgt seine Zeit bei Ferrari, die ausführlich mit der langen Durststrecke bis hin zu den Serienerfolgen der frühen 2000er Jahre behandelt wird.
Dabei liegt der Fokus vor allem auf den ersten vier Jahren der Misserfolge und dem Gewinn des ersten Titels mit der Scuderia 2000. Die weiteren WM-Titel werden relativ schnell abgehandelt, was der Geschichte dient und den Spannungsbogen aufrechterhält. Es ist der Weg zum ersehnten ersten Titel in Rot, der die Dramaturgie bestimmt.
Das Comeback bei Mercedes wird derweil recht stiefmütterlich behandelt und abseits einer kurzen Erwähnung außen vorgelassen. Wer sich hier also mehr erwartet, dürfte enttäuscht werden. Allerdings ist dies auch der aktuellste Teil von Schumachers Karriere, den viele noch am besten in Erinnerung haben und der von der Storyline her mit Sicherheit am wenigsten hergibt.
Aber ein paar mehr Erinnerungen, wie jene von Sabine Kehm zu dieser Zeit, hätten vielleicht geholfen, um den Menschen Michael Schumacher in diesem Komplex darzustellen und zu zeigen, wie er sich über die Jahre verändert hat, welche neuen Schwerpunkte er setzte. Es wird erwähnt, aber hier hätte es sicherlich noch mehr Möglichkeiten gegeben, dies mit der Mercedes-Zeit zu verbinden.
Dritter Akt: Bewegende Worte von Mick Schumacher
Und dann ist da natürlich noch der letzte Akt, der sich mit dem verhängnisvollen 29. Dezember 2013 beschäftigt. Im Laufe der Dokumentation kamen mir immer wieder Gedanken, wie werden die Filmemacher das Thema behandeln? Wie wollen sie den Film angesichts der recht chronologischen Handlung abschließen? Was könnte Michael Schumacher gerecht werden? So viel vorweg: Die Bedenken waren unbegründet.
Als elf Minuten vor dem Ende schneebedeckte Berge den Bildschirm ausfüllen, kommt dennoch sofort ein mulmiges Gefühl auf. Méribel, Frankreich. Die Einblendung stellt den eigentlichen Antagonisten des Films vor. Der traurigste Teil enthält aber auch die stärksten und vor allem emotionalsten Momente. Wie sich Corinna, Gina und vor allem Mick Schumacher äußern, ist auch beim zweiten oder dritten Mal ansehen noch bewegend.
Wir werden die Worte an dieser Stelle nicht vorwegnehmen, keine Spoiler also, das sollte jeder Fan selbst erleben und für sich wirken lassen. Nur so viel sei gesagt: Die abschließenden, tief bewegenden Worte von Mick Schumacher hinterließen bei mir einen bleibenden Eindruck und zeugen von seiner Stärke und seinem Charakter.
Schumacher: Wer sollte sich die Doku ansehen?
Für wen ist "Schumacher" nun also gedacht? Hier gilt es zwei Gruppen von Formel-1-Fans zu berücksichtigen: Alle, die Schumachers Karriere komplett oder teilweise mitverfolgt haben, und all jene, die vielleicht erst später zum Sport gefunden haben (oder geboren wurden).
Wer alle Ereignisse bereits kennt, hat sich im Vorhinein vielleicht etwas mehr Neues erhofft. Aber spätestens wenn die Renn- und Jubelszenen auf dem Bildschirm erscheinen, kommen die Erinnerungen und Emotionen zurück und verpassen altgedienten Schumi- und F1-Fans die nötige Portion Nostalgie. Eine klare Empfehlung für sie.
Wer Schumachers Karriere nicht von Anfang an oder erst ab den Mercedes-Jahren miterlebt hat, darf sich ebenso angesprochen fühlen. Schließlich bekommt er oder sie mit der Dokumentation eine kleine, kurzlebige Formel-1-Geschichtsstunde im Schnelldurchgang serviert. Obwohl es noch so viel mehr denkwürdige Rennen und Momente aus dieser Ära gegeben hätte, sind die enthaltenen Grands Prix definitiv etwas, was jeder Formel-1-Zuschauer einmal gehört haben sollte.
Und dann wären da natürlich noch all jene Zuschauer, die keine Formel-1-Fans sind und sich noch nie näher mit Michael Schumacher beschäftigt haben. So unwahrscheinlich dies für uns F1-Freaks klingen mag, das dürfte wohl ein großer Teil der Abonnenten des Streamingdienstes sein. Auch diese Zuschauerinnen und Zuschauer stehen nicht verloren da. Allerdings ist es für sie unter Umständen wichtig, ihre Erwartungen vorher richtig einzuordnen.
"Schumacher" ist definitiv nicht "Drive to Survive: Schumacher Edition". Die weltweit erfolgreiche Netflix-Serie zu den vergangenen drei F1-Saisons ist ein (über)produziertes, dramatisiertes Hochglanz-Drama. Die Serie ist cineastisch inszeniert, setzt auf Bombast, Action und teilweise erzwungenes Drama. "Schumacher" ist nichts davon. Es ist für einen großen Teil der Laufzeit eine Dokumentation über Racing, aber eben auch über den Menschen Michael Schumacher. Nicht produziertes Hochglanz-Drama, sondern ein echtes Schicksal des Lebens, eine Achterbahnfahrt der Emotionen. Wie eine Runde in Monaco.
Fazit: Karriere-Rückblick bietet wenig Neues, weckt jedoch wundervolle Erinnerungen. Die großen Emotionen folgen am Ende. Bewegend und sehenswert.
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