McLaren befindet sich in der Formel-1-Saison 2019 endlich wieder im Aufwind. Nach fünf Rennen ist die in den letzten Jahren krisengebeutelte Truppe in der Weltmeisterschaft als Vierter der erste Verfolger der Top-Teams. Die im vergangenen Sommer begonnene Umstrukturierung haben gefruchtet und wurde in Barcelona mit dem Einstand von Andreas Seidl als Teamchef komplettiert. Der Deutsche stand in Spanien Rede und Antwort zu seiner Rolle in Woking.

"Erst einmal bin ich nicht der Typ für große Reden, oder dafür, vorschnell Schlüsse zu ziehen. Ich denke, es ist wichtig mir jetzt Zeit zu nehmen, mich in alle Details in Woking einzuarbeiten", lässt sich Porsches ehemaliger LMP1-Teamchef nicht zu großen Kampfansagen oder ambitionierten Zielsetzungen hinreißen. Letztendlich einer der Gründe, weshalb McLaren CEO Zak Brown im vergangenen Jahr auf ihn zukam.

"Die Qualitäten die ich in Andreas gesehen habe sind folgende: er ist ein Racer, und bei McLaren geht es um Racing. Er ist sehr technisch und hat ein wirklich gutes tiefes Verständnis von Motorsport, dem Rennauto und den Ingenieuren. Und drittens, und das ist wohl genauso wichtig wie die zwei ersten Punkte: er ist ein sehr großer Teamplayer", erklärt Brown, der 2018 bei den 24 Stunden von Le Mans den Kontakt zu Seidl herstellte.

Seid trotz McLaren-Krise sofort Feuer und Flamme für Job

"Ich wusste auf jeden Fall schon länger von Andreas, als ich ihn kenne. Aber wenn du eine so wichtige Position im Team mit ihm besetzen willst, redest du natürlich mit den Leuten, die mit ihm gearbeitet haben, gegen ihm angetreten sind oder für ihn gefahren sind. Und all diese Zeugnisse waren hervorragend."

Seidl leitete von 2014 bis 2018 das LMP1-Team von Porsche in der WEC. Das Resultat waren drei Herstellertitel in der WEC sowie drei Siege bei den 24 Stunden von Le Mans. Die Formel 1 ist für den 43-Jährigen jedoch kein Neuland. Von 2000 bis 2009 war er in leitenden Positionen in das Formel-1-Projekt von BMW involviert.

Als das Angebot von McLaren kam, musste Seidl über die Chance auf eine Rückkehr in die F1 nicht zweimal überlegen. "Ich bin ein zielstrebiger Typ und ein Racer. Es war immer klar, dass ich zurück in die Königsklasse wollte, wenn sich die richtige Möglichkeit ergibt", sagt er. "Als Zak mich letztes Jahr in Le Mans ansprach, war diese Chance für mich sofort sehr attraktiv."

McLaren machte Seidl die Entscheidung leicht

Etwas, das sich in Anbetracht der aktuellen Situation durchaus nachvollziehen lässt. Vor einem Jahr sah es bei McLaren aber noch ganz anders aus. Das Team war am Boden, selbst ein Fernando Alonso war mit dem MCL33 chancenlos. Obendrein wurde Woking durch einige dubiose Skandale erschüttert, welche der Trennung von Racing Director Eric Boullier vorauseilten.

"Ich hatte weitere Gespräche mit Zak und den Anteilseignern. Ihre Einsatzbereitschaft, weiter in das Team zu investieren um zurück an die Spitze zu gelangen oder zumindest den Abstand nach vorne zu verringern, hat mir die Entscheidung leicht gemacht", erklärt Seidl, mit dem der Teamchef bei McLaren erstmals seit langer Zeit auch wieder den Titel des Teamchefs trägt.

Bei der Bekanntgabe wurde er zunächst als Racing Director vorgestellt. "Das war zu der Zeit etwas vage", so Brown gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Aber Teamchef versteht jeder. Das bedeutet, dass er das Formel-1-Team leitet. Deshalb haben wir das noch einmal angepasst. Es war nur, um alles klarzustellen."

Brown erteilt Seidl volle Entscheidungshoheit

Gleichzeitig wird Seidl auch mehr Verantwortung als seinen Vorgängern zuteil. "Es ist sein Rennteam und er wird es leiten", stellt Brown klar. "Also hat er freie Hand, zu machen was er will. Er hat meine einhundertprozentige Unterstützung dabei. Ich habe persönlich jetzt das Gefühl, dass wir unser Team komplett aufgestellt haben. Ich bin mir sicher, dass Andreas sich, sobald er sich eingelebt hat, einen Namen machen wird."

Dass Seidl nach zehn Jahren Abstinenz von der Formel 1 eine gewisse Eingewöhnungszeit brauchen wird, scheint logisch. Schließlich hat sich in der vergangenen Dekade viel getan. "Es ist klar, dass der Abstand zwischen den Top-Teams und dem Rest heute riesig ist", so Seidl. "Als ich die F1 vor zehn Jahren verließ waren insbesondere die Top-Teams dabei, ihre Budgets immer weiter zu erhöhen, ebenso die Mitarbeiter und die Infrastruktur."

"Es ist klar, dass die Formel 1 so wie sie heute ist nicht aufrechtzuerhalten ist, denn wenn du konkurrenzfähig sein willst, musst du viel Geld ausgeben", macht er sich keine Illusionen, dass McLaren unter den derzeit herrschenden Bedingungen eher nicht an die Erfolge alter Tage anknüpfen wird: "Wir sind aber optimistisch, dass aus dem Dialog zwischen Teams, Formel 1 und FIA einige gute Änderungen ab 2021 hervorgehen werden. Dann würde ich sagen, dass es möglich ist wieder konkurrenzfähig zu sein - sowohl sportlich als auch kommerziell."

Seidl will bei Rennen im Hintergrund bleiben

Als Teamchef wird es seine Aufgabe sein, an der Rennstrecke die Abläufe zu koordinieren. Am Kommandostand wird er den Strategen allerdings nicht dazwischenfunken. "Natürlich bin ich immer da, wenn es im Rennen schwierige Entscheidungen zu treffen gibt. Aber das ist mehr, um meinen Jungs dort Rückendeckung zu geben", erklärt Seidl.

"Wie wir alle wissen, gibt es gute und schlechte Zeiten. Es ist also leicht, im Eifer des Gefechts eine falsche Entscheidung zu treffen. Aber ich sehe meine Rolle so, dass ich meine Jungs unterstütze, ihren Job optimal auszuführen." Dass er seinen Führungsstil beim Wechsel von der WEC in die Formel 1 grundlegend ändern muss, erwartet er nicht.

Seidl sieht keinen grundlegenden Unterschied zwischen WEC und F1

"Zunächst einmal ist es schwierig, zwei unterschiedliche Rennserien miteinander zu vergleichen", sagt er zu Motorsport-Magazin.com. "Besonders wenn es um Langstreckensport und Formel 1 geht. Die Natur der Rennen, die Anzahl Rennen pro Jahr, wie viele Updates per Reglement erlaubt sind, all das ist anders."

"Auf der anderen Seite denke ich aber, dass es keine Rolle spielt, in welcher Rennserie du dich befindest. Ob es Sportwagen, Prototypen oder die Formel 1 ist. Ich denke, dass überall dieselben Prinzipien gelten, um eine erfolgreiche Organisationsstruktur zu schaffen."