Wachablösung in der Formel 1? Zum Start der F1-Saison 2018 deutet einiges darauf hin. Noch in Australien schockte Mercedes Konkurrenz und Experten mit einem unfassbar starken Qualifying. Doch wer genau hinsah, erkannte bereits: Der gewaltige Vorsprung von sechseinhalb Zehnteln war nicht die Realität. Mehr eine Kombination aus dem Faktor Lewis Hamilton und kleinen Patzern von Sebastian Vettel und Max Verstappen.

Umso mehr bestätigte sich dieser Eindruck zuletzt in Bahrain und China. Nicht nur Lewis Hamilton fuhr plötzlich seiner Form hinterher, auch Mercedes insgesamt kam nicht in Tritt. Selbst im Qualifying, Mercedes' Paradedisziplin (vor allem in China mit zuvor sechs Poles in Serie), nahm Ferrari den Silberpfeilen die Butter vom Brot. Deutlich. Zweimal in Folge eine reine rote Startreihe eins. In Bahrain fehlte Mercedes 0,166, in Shanghai sogar unfassbare 0,53 Sekunden auf Ferrari.

Von Mercedes zu Ferrari: Blatt wendet sich

"Mercedes ist geschockt von der Pace von Ferrari. Lewis scheint ein wenig von der Rolle. Ich weiß nicht, ob das kommt, weil das Auto nicht abliefert. Aber er wird auch von Valtteri übertrumpft, der konstante Performances abgeliefert hat", sagt Sky-UK-Experte Damon Hill. "Lewis hat ein paar Dinge, über die er sich Sorgen machen muss. Vettel hat einen Finger am fünften Titel, er wird von seinem Teamkollegen ausqualifiziert und sein Auto ist nicht so schnell wie gewohnt. Das ist nicht gut für Lewis."

Vor allem der letzte Aspekt lässt den Formel-1-Weltmeister von 1996 staunen. "Mercedes hatte Probleme und es sieht so aus, als hätte sich das Blatt gewendet. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit - in dieser ganzen Turbo-Hybrid-Ära. Es wie aufsteigende und fallende Reiche und vielleicht schwindet Mercedes, während die Ferrari-Ära zurückkommt", sagt Hill.

Die Scuderia beeindruckt den Briten ohne Abstriche. "Sie haben das Qualifying dominiert, beide Autos sahen absolut fantastisch aus. Es sah nicht so aus, als hätte eines der Autos nur im Mindesten zu kämpfen gehabt. Wenn man sich nur den Abstand nach hinten ansieht - da musst du vier Zehntel zurückschauen", redet Hill Ferrari stark.

Formel 1 2018: Rennanalyse Bahrain GP (25:11 Min.)

Ross Brawn: Mercedes-Gegner stärker und zahlreicher denn je

Alleine steht er mit seiner Einschätzung nicht. "Hamilton steckt in einer Krise und verliert Punkte für die WM. Aber ich denke, dass ganz Mercedes in der Krise steckt. Jetzt müssen sie auf Bottas setzen, der kein Titelfahrer ist", mahnt Hills Nachfolger als F1-Weltmeister und Sky-Italia-Experte Jacques Villeneuve. "In unserem Sport ist es unvermeidlich, dass es irgendwann schwieriger wird, Rennen zu gewinnen oder du für eine Weile damit aufhörst. Generell ist unser Sport ziemlich zyklisch", meint Red Bulls Teamchef Christian Horner.

"Die amtierenden Weltmeister Mercedes kamen als Favoriten nach China, aber Ferrari hat bewiesen, dass auch auf eine ganz anderen Strecke als Bahrain, bei ganz anderem Wetter, die Oberhand hatten", sagt Ross Brawn, Sportchef bei Liberty Media. "Zum ersten Mal seit die Formel 1 V6-Hybrid-Power Units einsetzt hat der dreizackige Stern drei Rennen hintereinander und auch zum ersten Mal in dieser Zeit in Shanghai nicht gewonnen."

Deshalb sieht auch der ehemalige Technische Direktor sowohl von Ferrari als auch Mercedes eine neue Realität in der Formel 1. "Die Gegnerschaft ist stärker, hat an Zahl zugenommen und scheint den technischen Vorsprung, den Mercedes in den vergangenen vier Jahren aufrecht erhalten hat, dramatisch verringert zu haben", sagt Brawn.

Ist Ferrari die neue Macht der Formel 1?

Was passiert also mit der dominanten Kraft der (noch?) aktuellen Formel-1-Ära? Kann Mercedes das Ruder herumreißen? Und wie? "Drastische Maßnahmen sind nicht notwendig", meint Brawn. "In allen drei Saisonrennen bisher hatten sie ja eine Chance zu gewinnen, aber sie sind jedes Mal gescheitert", erinnert Brawn. "Mercedes hat ein sehr schnelles Auto, da ist es schon erstaunlich, dass sie keines dieser Rennen gewonnen haben", sagt Horner.

Brawn: "Sie müssen einfach zusammenstehen und all die kleinen Probleme beheben, die sich angesammelt und dazu geführt haben, diese Rennen zu verlieren. Sie sind ja noch immer dasselbe Team, das so dominant war. Sie haben nicht vergessen, was zu tun ist."

Kurzum: Abschreiben sollte man Mercedes jetzt noch längst nicht. Doch selbst deren 2016er Weltmeister Nico Rosberg, jetzt RTL-Experte, fragte sich schon vor dem Rennstart in Shanghai: "Es ist eine ganze neue Situation. Es ist nicht ohne. Es ist wirklich die Frage: Ist Ferrari die neue Macht in der Formel 1? Darauf müssen wir im Rennen heute schauen. Das wäre echt der Wahnsinn."

Formel 1 2018: Rennanalyse China GP (35:19 Min.)

Auch Red Bull, nicht nur Ferrari, heizt Mercedes ein

Tatsächlich zeigte sich im China GP – bei wieder wärmeren Temperaturen gegenüber der Qualifikation - jedoch etwas anderes. Nicht das komplette Gegenteil, also Mercedes-Dominanz, doch zumindest eine Art Normalisierung. Ferrari zog Mercedes nicht auch im Rennen 0,5 Sekunden je Runde weg, die Silberpfeile vermochten mit einem perfekten Undercut trotz sofortiger Reaktion Ferraris, die Führung zu übernehmen.

Das schnellere Rennauto war der Mercedes-AMG F1 W09 EQ Power+ gegenüber dem Ferrari SF71H in Shanghai jedoch nicht. Vettel konnte Druck machen, wirkte stärker, als könnte er schneller. Track Position rettete Bottas vor dem Deutschen. "Gegen Ferrari, die geistig unsere Erzfeinde waren, wäre meiner Meinung nach die Rechnung aufgegangen", meint deshalb Chefaufseher Niki Lauda im Interview mit Motorsport-Magazin.com.

"Nur mit Red Bull, dass die jetzt so losgezogen sind, da habe ich nicht damit gerechnet. Red Bull war in der letzten Phase mit oder ohne Reifenwechsel unglaublich schnell, und die haben das Rennen deswegen gewonnen", ergänzt Lauda jedoch einen wichtigen Aspekt, sieht sich Mercedes, wie schon Brawn touchierte, jetzt gleich zwei Gegnern ausgesetzt.

Jetzt muss auch bei Mercedes alles passen

Gegnern auf Augenhöhe. Wenn nicht sogar eine Spur voraus, läuft bei Mercedes nicht selbst alles optimal. Aufgehende Rechnungen, von denen Lauda spricht, hatte es in den vergangenen Jahren bei den Silberpfeilen meist gar nicht erst geben müssen. Mercedes lag ohnehin vorne, auch wenn mal nicht alles glatt ging, nicht jedes Arbeitsfenster der Reifen, jeder Sweetspot, getroffen wurde. Genau das ist 2018 anders.

Mercedes sieht darin jedoch überhaupt keinen Grund, jetzt plötzlich Panik zu schieben. "Wenn wir jetzt glauben würden, dass das das Ende unserer Ära ist, wäre das die falsche Einstellung. Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, dass wir nach schwierigen Phasen zurückschlagen können. Eigentlich habe ich begonnen, die schwierigen Zeiten zu schätzen, da sie uns helfen, vorwärts zu kommen und das Auto besser zu verstehen", sagt Toto Wolff. "Das Team ist immer stärker geworden, weil es aus diesen Tagen gelernt hat."

Mercedes erkennt: Gerade nur zweit- bis drittschnellstes F1-Team

Mit Schönfärberei haben solche Aussagen wenig zu tun. Eher mit Realismus und Kampfbereitschaft. Mercedes verkennt die neue Realität in der Formel 1 jedenfalls mitnichten, benennt die Probleme klar. "Nach diesem Wochenende ist klar, dass wir nicht die schnellsten sind. Wir haben seit Melbourne Performance verloren. Wir sind momentan das zweit- oder drittschnellste Team", stellt Lewis Hamilton ohne Umschweife klar.

"Wir haben erwartet, mit den Reifen wegen der wärmeren Temperaturen heute [Rennen China, Anm. d. Red.] konkurrenzfähiger zu sein. Und vielleicht waren wir es auch ein bisschen. Aber wir waren noch immer nur die dritte Kraft", schließt sich Wolff seinem Fahrer an. "Sebastian hat das Rennen meiner Meinung nach am Anfang kontrolliert", erklärt Wolff das Nicht-Davonziehen des Ferrari. "Und dann hatten die Red Bull nach dem Stopp eine mächtige Pace. Uns fehlt Pace."

"Ferrari war manchmal besser, Red Bull war heute schneller, vor allem am Ende. Generell müssen wir das Auto einfach schneller machen, das Paket stärker machen, wenn wir viele Rennen gewinnen wollen", bestätigt Valtteri Bottas. "Ansonsten wird es schwierig. So ist es halt, es ist sehr eng in der Formel 1 dieses Jahr. Wir stehen vor einer großen Herausforderung."

Comeback der Mercedes-Diva - aber Kontrolle nur Frage der Zeit

Welcher? "Wir müssen uns verbessern. Das Auto ist sehr instabil. Es lenkt in vielen Kurven nicht richtig ein, da haben wir viel Performance verloren. Wenn es so weitergeht wird es sehr schwer zu gewinnen", konkretisiert Weltmeister Hamilton. Den Kampf nimmt der Brite gerne an. "Wenn sich eine Möglichkeit auftut, zu gewinnen, würde das umso mehr bedeuten, denn es ist sogar eine noch schwierigere Saison als zuvor."

Insgesamt vertraut Hamilton darauf, dass Mercedes schon sehr bald mindestens wieder auf Augenhöhe kämpfen wird. "Das ist nicht unmöglich. Das Team hat über Jahre gezeigt, dass wir großartig darin sind, vereint zu stehen und weiterzuarbeiten." Wolff sieht es ähnlich. "Die grundlegende Basis des Autos ist gut", sagt der Teamchef. Noch dazu sei der Mercedes gar nicht das wirklich Problem.

"Wenn du den Sweetspot nicht triffst, bist du einfach zu langsam, es geht einzig und allein darum, den Reifen ins richtige Fenster zu bekommen", erklärt Wolff. Das klingt stark noch 2017. Ist die Diva wieder zurück? "Ja, ein bisschen", sagt Wolff. "Aber es ist einfach so: Wenn wir beim Reifen den Nagel auf den Kopf treffen, ist unser Auto großartig. Das hast du in Melbourne gesehen. Da waren wir schnell."

Genau das muss früher oder später wieder und konstant passieren. Bottas glaubt daran: "Wir sind bereit. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis wir alles perfekt hinbekommen. Der Sieg wird kommen!"