Wir schrieben den 28. September des Jahres 2003, als sich die so genannte Königsklasse des Motorsports bei ihrem vierten Auftritt im amerikanischen Motorsportmekka zu Indianapolis zum ersten Mal lächerlich machte und die so sehr angepeilte nordamerikanische Zielgruppe mit einem misslungenen Fotofinish verärgerte.

Während man damals noch über diese Tausendstelentscheidung hinwegsehen konnte, sorgten die Verantwortlichen am vergangenen Wochenende für unübersehbare 48 Stunden Chaos, Farce, Sturheit und Uneinigkeit. Der 19. Juni des Jahres 2005 wird somit als jener Tag in die F1-Geschichte eingehen, an welchem die Formel 1 in Amerika unterging.

Was geschah wirklich?

Diese schwarzen Gesellen lösten das Chaos aus., Foto: Sutton
Diese schwarzen Gesellen lösten das Chaos aus., Foto: Sutton

Normalerweise heißt es für uns an dieser Stelle in unserer Rennanalyse die wichtigsten Szenen des zurückliegenden Grand Prix zu analysieren und die Leistungen aller zehn Teams genau zu durchleuchten. Aber im Land der unbegrenzten Möglichkeiten war diesmal im wahrsten Sinne des Wortes alles unfassbar anders. Beispielsweise auch, dass nur drei der zehn Teams an den Start gingen. Aber so weit sind wir noch nicht.

Denn seinen Anfang nahm das Unheil mit einer Art schaurigem déjà-vu: Mit High-Speed krachte Ralf Schumacher in die nach seinem Vorjahresunfall erweiterten SAFER-Barrieren und sorgte damit im weiten, wenn auch leeren, Rund des Indianapolis Motor Speedway für eine allgegenwärtige Gänsehaut.

Doch obwohl der Unfall für den Deutschen glimpflich verlief und er nur aus Sicherheitsgründen nicht am restlichen Wochenende teilnahm, begann das schwarze Wochenende von Indianapolis jetzt erst richtig. Stundenlang analysierten die Michelin-Techniker vor Ort die beiden Hinterreifenschäden bei Ralf Schumacher und dessen Teamkollegen Ricardo Zonta. Reifen wurden nach Europa in die Zentrale in Clermont-Ferrand geschickt, um dort die ganze Nacht über getestet zu werden. Andere Pneus wurden in einem Labor in Nordamerika auf Lauffläche und Karkasse hin durchgecheckt.

Bis Samstagmorgen konnte man jedoch keine Ursache für die Reifenschäden finden. Während im Hintergrund also weiter fleißig analysiert und untersucht wurde, empfahl man seinen Teams mit gebrauchten Reifen nur im Infield zu fahren und die Steilwand zu meiden. Das Wochenende sah somit seine ersten absurden Szenen. Viele weitere sollten aber noch folgen...

Ralf überstand seinen Unfall unverletzt. Die F1 nicht., Foto: Sutton
Ralf überstand seinen Unfall unverletzt. Die F1 nicht., Foto: Sutton

Nachdem sich die Michelin-Teams mit neuen Pneus ganz normal für das Rennen qualifiziert hatten, begann in den Stunden nach dem Qualifying der große Verhandlungsmarathon. Die Teambosse, Reifenverantwortliche, FIA-Oberen, Promotoren und sonstigen wichtigen Leute gaben sich in den Meetingräumen die Klinke in die Hand und diskutierten bis in die Startaufstellung am Sonntagnachmittag hinein über mögliche alternative Lösungsvorschläge.

Denn mittlerweile war Michelin zumindest soweit vorgedrungen, dass man die Sicherheit der Fahrer mit den mitgebrachten Reifen nicht gewährleisten könne. Deswegen wurden Reifen der Barcelona-Spezifikation aus Europa eingeflogen, welche den Teams aber eine Strafe eingebracht hätte, da ein solcher Reifenwechsel gleich aus mehreren Gründen nicht dem Reglement entsprochen hätte.

Die Vorschläge mit reduzierter Geschwindigkeit durch die Steilwand zu fahren oder eine Schikane in selbiger zu errichten wurden derweil jeweils von der anderen Seite abgelehnt. Somit standen die Teamchefs wild gestikulierend und noch immer mit Bernie Ecclestone verhandelnd in der Startaufstellung und wiesen ihre Fahrer nach der Einführungsrunde dazu an in die Box zurückzukommen. Während die Formel Farce geboren war und damit absolut nicht die Entscheidung zu Gunsten der Sicherheit der Fahrer, sondern die Unfähigkeit aller Beteiligten eine Lösung für die 120.000 Zuschauer zu finden, gemeint ist, starteten nur sechs Fahrzeuge in den Grand Prix der Lächerlichkeit.

Quo-Vadis FIA?

Über achtundvierzig Stunden hatten die Teamchefs und die FIA Zeit eine Lösung für das Reifenproblem von Michelin zu finden oder sich auf einen Kompromiss zu einigen, welcher den zahlenden Fans an der Rennstrecke und den Millionen Fernsehzuschauern zumindest ein richtiges Rennen und nicht nur ein 'Rennen' geboten hätte.

Aber 48 Stunden reichten für eine Gruppe erwachsener Menschen nicht aus, um das Fiasko vom Sonntag abzuwenden. So diskutierte man zwar noch fünf Minuten vor dem Start in die Einführungsrunde, doch betonte B·A·R-Boss Nick Fry: "Am Ende lief uns die Zeit davon - und die Optionen..."

Sie diskutierten, aber sie kamen zu keinem Ergebnis., Foto: Sutton
Sie diskutierten, aber sie kamen zu keinem Ergebnis., Foto: Sutton

48 Stunden waren also nicht genug. Nicht nur für Fry ein Armutszeugnis für die Verantwortlichen: "Wenn man etwas so schlecht regelt wie wir das heute gemacht haben, dann sollte man nicht überrascht sein, wenn es nie wieder einen US Grand Prix geben sollte."

Den verprellten Fans spricht Fry damit aus der nach Wiedergutmachung schreienden und mit Bierdosen werfenden Seele. "Die Formel 1 hat heute ihr Gesicht vor dem Weltsport verloren."

Entsprechend interessierte sich ein sichtlich niedergeschlagener Paul Stoddart noch nicht einmal für das beste Ergebnis seines Teams seit 16 Jahren. "Das ist mir egal. In jedem anderen Geschäft würde die verantwortliche Person zum Rücktritt gezwungen werden", schoss der Australier für jedermann ersichtlich in Richtung seines Lieblingsbrieffreundes: FIA-Präsident Max Mosley.

Denn während die indifferente Haltung der Scuderia Ferrari, die als einziges Team nicht für eine Schikanen-Lösung in den Turns 12 und 13 votierte und dies alles der FIA überließ, und der wie ein Löwe um seine F1 kämpfende Bernie Ecclestone weitgehend positive Kritiken seitens des Fahrerlagers ernteten, wurde der ohnehin ungeliebte Präsident des Weltverbandes öffentlich an den Pranger gestellt.

Und ganz Unrecht hat Stoddart damit nicht. Schließlich waren neun von zehn Teams, und mit Zustimmung der FIA sogar zehn von zehn Rennställen, dazu bereit mit einer Schikane in Turn 13 das Rennen zu bestreiten. Die Michelin-Teams wollten sogar eine Zurückversetzung in der Startaufstellung hinter die Bridgestone Teams - welche natürlich nicht wirklich lange angehalten hätte, da zumindest die Minardi und Jordan schon bald wieder am Ende des Feldes anzutreffen gewesen wären - sowie einen Nicht-WM-Lauf in Kauf nehmen, bloß um den Fans eine korrekte Show zu bieten.

Turn 13 - Wahrlich eine Unglückszahl..., Foto: Sutton
Turn 13 - Wahrlich eine Unglückszahl..., Foto: Sutton

Aber Charlie Whiting und Max Mosley sagten rigoros nein. Eine Schikane stände "außer Frage" und die Teams hätten von der FIA drei praktikable Lösungsvorschläge präsentiert bekommen. Der erste dieser äußerst 'praktikablen' Vorschläge riet den Teams dazu alle zehn Runden die Reifen zu wechseln - jedenfalls so lange diese sichtbar beschädigt waren, sonst hätte es natürlich gegen die Regeln verstoßen. Die Tatsache, dass die Teams gar nicht so viele Reifensätze zur Verfügung hatten und dass die FIA damit ihrem eigenen Sicherheitsbestreben widersprach schien zu diesem Zeitpunkt niemanden zu interessieren.

Allerdings behielt man sich bei der zweiten Variante (welche eine Geschwindigkeitsreduzierung der Michelin-Fahrer in der Steilkurve vorsah) vor, zu langsame Fahrzeuge, die eine Behinderung oder ein Sicherheitsrisiko darstellen zu disqualifizieren. Also ebenfalls ein äußerst 'praktikabler' und 'akzeptabler' Vorschlag. Von jenem einen Regelbruch zu begehen und dafür eine unbekannte, aber abschreckende Strafe zu kassieren, einmal ganz abgesehen.

Wenn es nach den Fahrern gegangen wäre, besonders jenen die in den Trainings keine Reifenprobleme hatten, dann wären diese auf alle Fälle angetreten. So machte nicht nur David Coulthard deutlich, dass er bei einer freien Entscheidung in die Startaufstellung gefahren wäre. "Ich bin einer Racer", so der enttäuschte Schotte. "Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre ich gefahren."

Doch es ging nicht nach ihm oder einem der anderen Piloten. Und es ging auch nicht nach dem großen Bigboss Bernie Ecclestone, der stocksauer durch sein kleines Imperium stapfte und trotz nervenaufreibender Verhandlungen keine Ergebnisse erzielen konnte.

"Ich bin außer mir", fluchte der klein gewachsene weißhaarige Impresario, der die Teams "in den guten alten Tagen" zum Start gezwungen hätte. "Dieser Kerl versucht einfach alles möglich zu machen", lobte ihn Pierre Dupasquier, dessen fehlerhafte Reifen das ganze Schlamassel ausgelöst hatten. "Er ist eine positive Person und er versucht immer die beste Lösung zu finden."

Geschlagen verließ Bernie den Ort des Geschehens., Foto: Sutton
Geschlagen verließ Bernie den Ort des Geschehens., Foto: Sutton

Aber weiter als bis in die Startaufstellung brachte Bernie, der noch am Vortag angekündigt hatte, dass es "zu 100%" ein volles Starterfeld geben werde, die Teamchefs gegen deren Willen nicht. Aber obwohl Ecclestone damit einen seiner schwersten Kämpfe verloren hat, steht ihm für das kommende Jahr wohl noch ein viel größerer Kampf ins Haus: "Wenn wir zurückkommen sollten, dann wird das die Hälfte der Zuschauer von heute nicht mehr", prognostizierte David Coulthard, dass Bernie die Fans für einen weiteren US Grand Prix wohl eigenhändig auf die Tribünen zerren und dort fest ketten müsste.

"Ich bin mir nicht sicher, ob sich die F1 in Amerika jemals wieder erholen wird", sieht auch Jacques Villeneuve schwarz. Und was sagt Bernie über die Zukunft seines Lebenswerks in den USA? "Wir haben gerade erst begonnen, ein großartiges Image bei den amerikanischen Fans und TV-Zuschauern aufzubauen. Und das ist jetzt alles ruiniert worden."

Der Auslöser und die Schuldigen

Während eine Schuldfrage nur schwer zu beantworten ist, da hier jeder der Beteiligten seinen Teil zur letztendlichen Farce beigetragen hat, ist der Auslöser des Debakels schnell ausgemacht: Michelin.

"Wir haben es verbockt", gab Pierre Dupasquier ehrlich zu. "Wir haben eine Vorstellung dessen was passiert ist und wir werden weitere Untersuchungen durchführen."

Bislang gestand der Franzose nur ein, dass es sich um eine "mit dem Reifendruck zusammenhängende Ursache" handele, wobei auch die "neue Streckenoberfläche" eine Rolle gespielt habe.

Dupasquier erlebte die schwierigsten Stunden seiner Karriere., Foto: Sutton
Dupasquier erlebte die schwierigsten Stunden seiner Karriere., Foto: Sutton

Zwar fühle sich Dupasquier etwas peinlich berührt von den Ausmaßen der Reifenwahlfehler seines Unternehmens, doch ist er zugleich über die uneingeschränkte Rückendeckung seitens seiner Partnerteams erfreut. Und während die Michelin-Aktien in den Keller rauschten, glaubt der Deputy Director of Competition, Frederic Henry-Biabaud, nicht daran, dass die Reifenaffäre einen "Einfluss auf die F1-Zukunft von Michelin" haben wird.

Angesichts der vehementen Forderungen von (Noch?)-FIA-Präsident Max Mosley nach einem Einheitsreifen, bleibt dies aber noch zu bezweifeln. Besonders da auch Bernie Ecclestone über die Zukunft der F1 in den USA und von Michelin in der Königsklasse wenig zuversichtlich eingestand: "Es sieht nicht gut aus - für beide."

Hätte das Debakel verhindert werden können?

Beinahe ebenso interessant wie die nicht überprüfbare Frage nach der Schuld, ist jene - ebenso wenig überprüfbare - Frage danach, ob das Debakel hätte abgewendet werden können?

Wer sich dieser Frage annimmt, der stellt schnell fest, dass es durchaus akzeptable Gründe aller Parteien für die Ablehnung der Alternativvorschläge gab.

So lehnte FIA-Präsident Max Mosley den Einsatz einer Zusatzschikane oder gänzlich neuer Reifen ab, da Michelin entsprechend dem geltenden Reglement pro Team zwei verschieden harte Mischungen hätte mitbringen dürfen, von welcher normalerweise eine als härtere Backup-Mischung angesehen wird.

Andererseits ist die ablehnende Haltung der Teams gegenüber den nicht praktizierbaren FIA-Vorschlägen (s. oben) ebenfalls verständlich. Aber auch die als Allheilmittel gepriesene Schikanen-Variante hätte man nicht bedenkenlos nutzen können: Schließlich hätten die Folgen eines Unfalls in einer schludrig dahin gezimmerten Schikane, deren Aussehen ohnehin nur schwer vorzustellen ist, noch schlimmer sein können, als jene eines Abflugs in der Steilkurve.

Die Fans hatten eine klare Meinung., Foto: Sutton
Die Fans hatten eine klare Meinung., Foto: Sutton

Aber auch Rubens Barrichellos Lösungsvorschlag, dass die Michelin-Teams einfach - wie im Freien Training - durch die Boxengasse hätten fahren sollen, womit zwei von ihnen sogar noch Punkte bekommen hätten, erscheint als nicht machbar. Denn das wäre eine beinahe noch größere Farce gewesen, als nur sechs Autos starten zu sehen.

Letztlich erscheint es auch einen Tag nach dem Wahnsinn von Indianapolis noch immer so, als ob dies eine jener wenigen Situationen im Leben gewesen ist, für welche es überhaupt keine für alle Beteiligten halbwegs sinnvolle Lösung gegeben hat und für die es vielleicht nur einen korrekten Ausweg gegeben hätte: Eine Absage des USA GP und die Abhaltung eines Showrennens, bei welchem die Teams die Barcelona-Reifen in einem Zusatztraining am Sonntagmorgen hätten testen dürfen.

Dafür hätten die Herren im Indy-Paddock und am Place de la Concorde aber über ihren eigenen Schatten springen müssen. Und letzten Endes scheint in der Formel 1 Welt wohl tatsächlich zu gelten: Wenn selbst Bernie keine Lösung finden oder erzwingen kann, dann kann dies niemand...

Der Kleine Preis der USA

Die Geschichte des 73 Runden langen 'Rennens' ist unterdessen schnell erzählt: Nachdem sich die beiden Ferrari schnell vom Rest des Mini-Feldes abgesetzt hatten, übernahm Rubens Barrichello nach dem ersten Boxenstopp die Führung. In den Folgerunden entwickelte sich tatsächlich das, was man Ferrari selbst in den am meisten überlegenen Tagen ihrer Dominanz nicht zugetraut hätte: Die beiden roten Boliden bekämpften sich gegenseitig an der Spitze und schossen sich beinahe nach Schumachers zweitem Boxenstopp ab.

Ein gellendes Pfeifkonzert empfing den Sieger., Foto: Sutton
Ein gellendes Pfeifkonzert empfing den Sieger., Foto: Sutton

Am Ende lautete das Ergebnis aber wie gewohnt: Die Startnummer 1 kam vor der Startnummer 2 ins Ziel. Den Kampf um den letzten Podestplatz entschied derweil der Portugiese Tiago Monteiro für sich, der sowohl die beiden Minardi als auch seinen Teamkollegen klar distanzierte und damit seinen Aufwärtstrend der letzten Rennen fortsetzte. Letztlich sagen Michael Schumachers Worte über den ersten Ferrari-Triumph des Jahres alles aus: "Es war nicht gerade schön, mein erstes Saisonrennen auf diese Weise zu gewinnen..."

Der WM-Ausblick

Und obwohl die Nachbeben des katastrophalen Indy-Wochenendes noch einige Tage, wenn nicht sogar Wochen, durch das Fahrerlager schwappen werden, heißt es auch für die seit gestern schwer angeschlagene Königsklasse des Motorsports: The Show must go on.

Und das schon in zwei Wochen bei der Rückkehr des F1-Zirkus nach Europa. Dann steht im französischen Niemandsland von Magny Cours der Große Preis von Frankreich auf dem Programm, bei welchem man unter normalen Umständen sagen würde: Dort besteht keine Gefahr von wütenden Fans überfallen zu werden. Allerdings vermeldeten die Organisatoren bereits vor Wochen ein beinahe ausverkauftes Haus...

Auf der sportlichen Seite wird sich in Frankreich der Titelkampf zwischen Kimi Räikkönen und Fernando Alonso sowie zwischen Renault und McLaren nach der Auszeit in den USA fortsetzen. Ob Michael Schumacher nach seinem ersten Saisonsieg nun tatsächlich noch einmal in den Titelkampf eingreifen kann, bleibt jedoch abzuwarten...