Pirelli erklärt die neuen Formel 1-Reifen: (10:18 Min.)

Auf die Formel 1 kommt in der Saison 2017 etwas richtig Großes zu: Die neuen Reifen von Pirelli wirbeln die bekannten Muster komplett durcheinander. Die breiten Schlappen des Reifenlieferanten wirken sich auf die Entwicklung der Autos aus, auf Geschwindigkeiten, Renn-Strategien - und könnten für faustdicke Überraschungen in der F1 sorgen.

Wie groß der Einfluss der Breit-Reifen tatsächlich sein wird, ist noch unklar. Ein genaueres Bild sollten die kommenden Testfahrten in Barcelona liefern. Dass sich in der Formel 1 aber einiges ändern wird, darüber erhielten Medienvertreter bei der Präsentation von Pirelli einen guten Überblick. Motorsport-Magazin.com war beim Reifen-Launch in Turin dabei und hat die wichtigsten Veränderungen zusammengestellt.

1. - Die neuen Geschwindigkeiten

Fakt ist: Die Rundenzeiten werden dank neuer Autos und Reifen fallen. Über genaue Zahlen rätseln die Experten aktuell. Der erhöhte Abtrieb sorgt zwar für langsamere Geschwindigkeiten auf den Geraden, doch in den Kurven legen die Autos mächtig zu. Rund 40 km/h sollen die Autos dort schneller fahren. Das führt zu einem Zeitgewinn von etwa drei Sekunden pro Runde im Vergleich zum Vorjahr. Verglichen mit 2015, sollen die Zeiten um 5 Sekunden auf einer Runde fallen - je nach Streckencharakteristik.

"Als ich mit unseren Jungs gesprochen habe, waren es zwischen 2 und 6 Sekunden je nach Strecke", sagte Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery. Die Rechnung: Je mehr Kurven und weniger Geraden, desto schneller werden die Rundenzeiten. Hembery: "Strecken wie Silverstone werden sehr interessant wegen der vielen Vollgas-Kurven." Für die Fahrer wird es jedenfalls hart: In den Kurven sollen jetzt etwa 1G mehr auf den Körper einwirken als in der vergangenen Saison.

Pirelli stellte in Turin die neuen Reifen für 2017 vor, Foto: Motorsport-Magazin.com
Pirelli stellte in Turin die neuen Reifen für 2017 vor, Foto: Motorsport-Magazin.com

2. - Die neuen Reifenmischungen

Auch in der Saison 2017 bringt Pirelli wieder unterschiedliche Reifenmischungen an den Start. Sie werden sich in ihrem Verhalten unterscheiden - allerdings nicht mehr so stark wie bisher. "Sie werden in Sachen Performance näher aneinander liegen", erklärte Hembery. "Wir werden keine Unterschiede von 1,3 oder 1,4 Sekunden sehen. Wir erwarten weniger als eine Sekunde."

Auch der allgemeine Verschleiß der Reifen - erst gewünscht, dann gehasst - soll abnehmen. Mischungen, die nach zwei Runden komplett einbrechen, wird es vermutlich nicht mehr geben. Über den Vergleich zum Vorjahr sagte Hembery: "Wenn die Autos so schnell fahren, wie wir es anhand der Daten erwarten, wird es eine erhebliche Verringerung. Aber wir haben noch nicht gesehen, wie viel Energie jetzt mit den neuen Autos auf die Reifen einwirkt."

Aufgrund vieler Unabwägbarkeiten gibt Pirelli die genauen Reifenkontingente bei den ersten fünf Rennen der kommenden Saison vor. Die neuen Reifen konnten bislang noch nicht auf den 2017er-Boliden getestet werden, deshalb möchte der Reifenhersteller böse Überraschungen vermeiden. Hembery gab zu bedenken: "Was letztes Jahr in Monaco konservativ aussah, könnte bei einem Zeitengewinn von 5 Sekunden jetzt sehr aggressiv sein. 5 Sekunden und 40 km/h sind riesig!"

Die Reifenmischungen in der Übersicht

Ultrasoft SupersoftSoftMediumHard
AustralienQRR
China QRR
Bahrain QRR
Russland QRR

Q: Von Pirelli nominierter Qualifying-Reifen
R: Zwei von Pirelli festgelegte Reifensätze fürs Rennen

3. - Die neuen Renn-Strategien

Die neuen Reifen wirken sich natürlich auf die Renn-Strategien der Teams aus. Vermutlich wird es die großen Reifen-Poker künftig nicht mehr geben - weil die Reifen weniger verschleißen und die unterschiedlichen Mischungen nicht mehr so weit auseinanderliegen. Künstliche Überholmanöver mittels Taktik-Spielchen sollen abnehmen. "Es wird einfacher", glaubte Hembery. "Wir glauben, dass es durch weniger Verschleiß weniger Spielraum für die Teams gibt, mit einem Reifenwechsel einen Positionsgewinn zu schaffen."

Die genauen Werte über Verschleiß und Abbau der Reifen liegen noch nicht vor. Einen ersten Eindruck erhielten die Pirelli-Ingenieure durch die Tests mit den umgebauten Autos, die die Kräfte der 2017er-Boliden simulieren sollten. "Während der Tests mit den Mule Cars, die allerdings langsamer sind, haben wir deutliche Unterschiede zwischen 2016 und der neuen Generation gesehen", sagte Hembery.

Unser Christian hat sich die Reifen vor Ort ganz genau angeschaut, Foto: Motorsport-Magazin.com
Unser Christian hat sich die Reifen vor Ort ganz genau angeschaut, Foto: Motorsport-Magazin.com

4. - Die neuen Fahrstile

Nicht nur die Ingenieure, auch die Fahrer müssen sich an die neuen Regeln anpassen. Es wird erwartet, dass die 2017er-Autos physisch wieder zur echten Herausforderung werden. Wegen der stärkeren Fliehkräfte in den Kurven - bis zu 1G Unterschied - mussten die Fahrer ihr Training intensivieren. Die Kurven auf den einzelnen Strecken bieten nun viel mehr Potenzial, fordern die Piloten allerdings wesentlich stärker.

Hembery dazu: "Die Fahrer haben nach Simulator-Einheiten gesagt, dass die Anzahl der Vollgas-Kurven nun viel höher ist. Alle haben Silverstone als Beispiel herausgestellt. Aus Sicht der Fahrer sollte es auf jeden Fall eine neue Herausforderung werden." Das neue Fahrgefühl wird sich schon in Barcelona zeigen. Als Paradekurve gilt Turn 3, die langgezogene Rechtskurve. "Die werden wir zum ersten Mal seit Jahren wieder mit Vollgas durchfahren", war Hembery sicher.

Die Regeländerungen für 2017:

20162017
Reifen245mm (vorne)
325mm (hinten)
305mm (vorne)
405mm (hinten)
Radaufhängung1800mm2000mm
Frontflügel1650mm1800mm
Heckflügel750mm Breite/ 950mm Höhe950mm Breite/ 800mm Höhe
Diffusor125mm Höhe/ 1000mm Breite
(beginnt an der Hinterachse)
175mm Höhe/ 1050 mm Breite
(beginnt 175mm vor der Hinterachse)
Bodywork1400mm Maximalbreite
1300mm Minimalbreite
1600 mm Maximalbreite
1400mm Minimalbreite
Gewicht702kg 722kg + ca. 5kg Reifen

5. - Die Unbekannten für die Teams

Paul Hembery kündigte es vollmundig an. Seine Worte: "Ich will keine Märchen erzählen, aber das wird eine der bedeutendsten Änderungen für die Formel 1." Neue Autos, neue Reifen - selten zuvor wurden die Teams mit größeren Unbekannten konfrontiert - abgesehen von der Einführung der Power Units. Ein Problem, das sich durch die Saison ziehen wird: Die Rennställe können kaum auf bestehende Datensätze zurückgreifen.

Jede Strecke wird zur neuen Herausforderung, die Trainings noch wesentlich wichtiger, um neue Daten zu sammeln. "Alle Daten, die sie hatten, können sie über Bord werfen", sagte Hembery. "Sie haben keine Streckendaten und wissen nicht, wie ein individuelles Auto auf einem bestimmten Untergrund funktioniert."

Im Verlauf der Saison können sich die Teams mittels Simulationen zwar einen Vorteil verschaffen, doch gerade die erste Saisonhälfte dürfte besonders spannend werden. Hembery: "Es ist eine riesige Änderung. Es ist aber auch eine Veränderung, die jedem Team das Potenzial bringt, um sich einen Vorteil zu erarbeiten und es an die Spitze zu schaffen. Ich glaube, dass vier bis fünf Teams aus dem Mittelfeld dazu in der Lage sind. Es könnte ein paar Leute geben, denen etwas Schlaues eingefallen ist und was uns alle überraschen könnte. Bei solchen Änderungen gibt es üblicherweise Überraschungen."

Vorne werden die Reifen 6cm, hinten sogar 8 cm breiter, Foto: Sutton
Vorne werden die Reifen 6cm, hinten sogar 8 cm breiter, Foto: Sutton

6. - Die Unbekannten für Pirelli

40 km/h mehr Kurvenspeed, rund 3 Sekunden Zeitgewinn pro Runde, weniger Boxenstopps, weniger Reifenverschleiß, weniger überhitzende Reifen - das sind die Reifen-Grundpfeiler der neuen Formel 1. Aber: Pirelli ist genau wie Teams und Experten mit zahlreichen Unbekannten konfrontiert. Zwar konnten die neuen Reifen in der vergangenen Saison ausgiebig getestet werden, allerdings unter unzureichenden Bedingungen - auf einem Auto der neuen Generation wurde noch kein einziger Kilometer zurückgelegt.

Dass die 2016/17er-Hybridautos nicht an die erwarteten Werte herankommen, ist längst bekannt. Simulationen am Rechner helfen ebenfalls nur bedingt und lassen lediglich erahnen, was auf die Teams zukommt. "Wir hatten kein wirkliches Auto, um die finale Entwicklungsarbeit durchzuführen", sagte Hembery. "Die Mule Cars haben geholfen, waren aber 5 Sekunden entfernt von der wirklichen Pace. Das ist, als ob man mit GP2-Autos für die Formel 1 testen würde."

Die Barcelona-Testfahrten werden weitere Hinweise über das Verhalten der Reifen liefern. Genaue Daten werden allerdings erst beim Saisonstart in Australien erwartet. Niki Lauda sagte kürzlich, dass die Teams ihre Karten diesmal ausnahmsweise schon beim Testen auf den Tisch legen würden. Doch daran glaubte Hembery nur bedingt: "Natürlich erhalten wir Werte aus Barcelona, aber wir haben eine Meisterschaft des Tiefstapelns."

Hembery abschließend: "Es könnte sich in den Regeln etwas finden, was einem Team oder einer Gruppe von Autos bei der technischen Entwicklung hilft. Niemand, der in der Formel 1 arbeitet, sollte davon ausgehen, dass es keine Überraschungen geben wird. Wir haben hier schließlich die talentiertesten Ingenieure der Welt. Mit den neuen Reifengrößen gibt es einen größeren Spielraum."