Die Formel-1-Welt steckt voller Geheimnisse. Eines der am besten gehüteten ist das optimale Arbeitsfenster der Reifen. Nicht zu heiß, nicht zu kalt, alles muss exakt stimmen. Um seinen Lesern das Phänomen zu erklären, holt das Motorsport-Magazin Pirelli-Motorsportdirektor Paul Hembery zur Hilfe.

Ein herzhaftes Lachen entfährt Paul Hembery, womit er problemlos das lautstarke Prasseln der Regentropfen auf dem Dach des Pirelli-Motorhomes übertönt. Der Motorsportdirektor des italienischen Reifenherstellers hat allen Grund zur Freude. Die Formel-1-Saison 2012 ist eine der spannendsten seit Jahrzehnten und seine Reifen sind nicht nur eines der heißesten Gesprächsthemen im Fahrerlager, sondern auch zum Teil für die viel diskutierte Action verantwortlich. Hembery muss also ein sehr zufriedener Mann sein. "Natürlich bin ich glücklich, allen voran für die Fans, die die Rennen genießen können", sagt er. Bescheiden macht er dies aber nicht nur an den Pneus fest, sondern an einer Kombination aus Regeländerungen und Reifen.

Das Verbot des angeblasenen Diffusors und der flexiblen Frontflügel ließ die Teams näher zusammenrücken. In der Vergangenheit lagen nur ein paar wenige Spitzenautos innerhalb einer Sekunde, in dieser Saison sind es 12 bis 14. "In so einer Situation hat jede kleine Änderung einen enormen Einfluss", betont Hembery. Der kleinste Fahrfehler kann bereits zwei oder drei Startpositionen kosten, ein Setupproblem noch mehr. Es kommt auf jedes Zehntel an. "Das wiederum lässt auch den Reifen eine wichtigere Rolle zukommen", erklärt er. "Natürlich sind die Reifen an jedem Rennfahrzeug wichtig, aber wenn man die Leistung des Pakets maximieren kann, erzielt man bessere Resultate."

Dabei finden die Teams eine größere Herausforderung vor, als sie Pirelli vor der Saison vermutete. Die Italiener verfügen bekanntlich nicht über ein aktuelles Testfahrzeug und konnten so einige Dinge nicht erahnen, denen sich die Teams in dieser Saison gegenübersehen. Der Grund dafür sind aber keine großen Veränderungen an der neuen Reifengeneration. Im Gegenteil: Hembery glaubt, dass die Herausforderung mit den letztjährigen Reifen womöglich noch größer wäre. "Einige der härteren Reifenmischungen von 2011 würden sich heute anfühlen, als ob die Fahrer auf Eis fahren. Mit den heutigen Abtriebswerten würde sie niemand ins Temperaturfenster bringen." Dieses berüchtigte Arbeitsfenster gehört zum Grundwortschatz aller Piloten. Was es genau bedeutet, können aber selbst einige Fahrer nicht so richtig in Worte fassen. Wer wäre wohl besser dazu geeignet, dies den Lesern des Motorsport-Magazins zu erklären, als der Reifenchef persönlich? Paul Hembery lacht erneut. Also dann, gehen wir dem Reifen-Phänomen auf den Grund...

Einflussfaktor: Temperatur

So sicher wie das Amen in der Kirche fällt an jedem Rennwochenende der Satz: "Ich bekam die Reifen nicht auf Temperatur." Das bedeutet allerdings nicht, dass der Fahrer mit Eisklötzen an den vier Ecken seines Fahrzeugs herumfuhr. Stattdessen war die Temperatur der Hinterreifen sehr hoch, die der Vorderreifen genügte jedoch nicht aus. "In dieser Saison haben wir schon 20 Grad Unterschied zwischen Vorder- und Hinterreifen gesehen - so etwas hatten wir vorher noch nie erlebt", erklärt Hembery. "Normalerweise liegt der Unterschied bei fünf oder sechs, nie mehr als zehn Grad." Das Ergebnis ist ein inkonstantes Fahrverhalten. "Wenn die Vorderreifen im Einklang mit den Hinterreifen sind, fühlt der Fahrer sich wohl, wenn nicht, verliert er Grip." Erschwerend kommen Temperaturschwankungen innerhalb eines Wochenendes oder Tages hinzu. Gerade bei den europäischen Rennen liegt die Spanne von 10 oder 12 Grad bis zu 40 Grad - und zwischenzeitlichen Regenschauern. "Wechselhaftes Wetter sind die schwierigsten Bedingungen in der Formel 1", weiß Hembery. "Wenn man nach Bahrain reist, weiß man, dass es heiß sein wird - egal ob 35 oder 45 Grad, es wird verdammt heiß sein. In Deutschland kann es hingegen sehr heiß, sehr kalt oder richtig nass sein. Die Europasaison ist deshalb eine große Herausforderung."

Einflussfaktor: Asphalt

Die Reifen sind die einzige Verbindung des Autos zur Strecke. Umso wichtiger ist es für Fahrer, Teams und Reifenhersteller, die verschiedenen Asphaltoberflächen der 20 Grand-Prix-Kurse in- und auswendig zu kennen, angefangen bei Straßenkursen über Stadtkurse bis hin zu High-Speed-Tempeln wie Monza. "Wir fertigen Computermodelle der Streckenoberflächen an, es ist praktisch wie ein Gebissabdruck", stellt Hembery die Vorgehensweise stark vereinfacht dar. "Der Asphalt verhält sich wie Sandpapier, auch davon gibt es verschiedene Stärken und Arten." Vereinfacht gesprochen ist es beim Streckenbelag ähnlich: "Wenn man die Reifen daran reibt, nutzen sie sich ab." Pirelli simuliert die Abnutzung der Reifen auf einer durchschnittlichen Runde in Computermodellen unter Berücksichtigung der möglichen Umgebungstemperatur und Streckenoberfläche. "Je nachdem wie rau die Strecke ist, nimmt der Reifen mehr oder weniger Energie auf." Der größte Faktor seien aber mit Sicherheit verschiedene Temperatureinflüsse auf den Reifen. "Das ist der Schlüssel zu dieser Saison."

Einflussfaktor: Fahrer

Der Kerl, der im Cockpit am Lenkrad dreht, hat ebenfalls einen gewissen Einfluss auf die Abnutzung der Reifen - so viel steht fest. Was Jenson Button aber in den Rang eines Reifenflüsterers erhebt, ist hingegen weniger klar. "Frag am besten Perez und Grosjean, was sie in Kanada gemacht haben", hält sich Hembery aus der Frage heraus. Besagter Sergio Perez sieht kein Geheimnis im Umgang mit den Reifen. "Du fühlst den Reifenabbau, die fehlende Traktion oder Stabilität", sagt er kurz angebunden. Nico Hülkenberg spürt weniger Grip und die schlechtere Haftung des Autos. "Für einen Normalsterblichen, der nur mit einem Straßenauto unterwegs ist, ist das nicht vorstellbar", verrät Hülkenberg. "Denn da bauen die Reifen nicht ab oder er fährt erst gar nicht so schnell durch die Kurve, dass er am Limit des Autos wäre." Ein Profirennfahrer spürt das aber sehr wohl. "Du fährst ein paar Kurven, dann merkst du, der Grip greift hinten, vorne aber noch nicht so gut." Diese Erfahrungswerte aus den Trainings werden im Qualifying und Rennen angewandt, um die Reifen auf der schnellen Runde im richtigen Fenster zu halten; die Outlap nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam anzugehen. "Alles muss stimmen", betont Hülkenberg. "Klar, die Reifen sind sehr sensibel, aber das ist auch eine Herausforderung für den Fahrer."

Sergio Perez wollte sein Geheimnis im Umgang mit den Reifen nicht verraten., Foto: Sutton
Sergio Perez wollte sein Geheimnis im Umgang mit den Reifen nicht verraten., Foto: Sutton

Einflussfaktor: Auto

Das Verbot des angeblasenen Diffusors führte zu einem enormen Abtriebsverlust an der Hinterachse. Dies bewirkt unter Umständen stärker durchdrehende Räder, besonders in langsamen Kurven. "Wenn die Reifen zu stark durchdrehen, überhitzen sie und bauen aufgrund der hohen Temperatur ab", erklärt Hembery. "Dann verlieren sie schneller an Performance." Noch gravierender ist jedoch die Veränderung der Fahrzeugbalance im Laufe eines Rennens. Beim Start ist der Tank mit rund 150 kg bis zum Rand gefüllt, bis zur Zielflagge ist er im optimalen Fall jedoch fast leer. "Das ist, als ob zwei Leute auf dem Auto sitzen, zu einem Punkt springt der eine runter und am Ende auch noch der andere", vergleicht Hembery. Das bedingt die Leistungsunterschiede zwischen dem Qualifying und Rennen. "Wenn man sein Paket im Qualifying zu aggressiv einstellt, könnte das zu Problemen im ersten Rennstint führen." Erschwert wird die Anpassung an die abnehmende Spritmenge durch die festgelegte Gewichtsverteilung. "Das ist die große Herausforderung in der Formel 1."

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