Katar? Check. Austin? Check. Jerez? Check. Le Mans? Check. Barcelona? Check. Mugello? Check. Assen? Check. Der Sachsenring? Check. Neun Grands Prix trug die MotoGP vor der einmonatigen Sommerpause im Jahr 2024 aus. Bei acht dieser neun Rennwochenenden wurde in der Königsklasse ein neuer Rundenrekord aufgestellt. Einzig in Portimao fiel der bisherige Bestwert nicht. Ein Ausreißer, denn auf der Algarven-Achterbahn verhinderten Ende März einzig schlechte Bedingungen schnelle Rundenzeiten. Regen und Sand hatten für schlechte Gripverhältnisse gesorgt, die Strecke musste zunächst 'freigefahren' werden. Als dies bis zum Grand Prix am Sonntag geschehen war, fiel auch in Portugal immerhin noch der bisherige Rennrundenrekord von Aleix Espargaro aus dem Jahr 2023 - so, wie bei allen anderen acht Hauptrennen auch.

Und nach Ende der Sommerpause machten die MotoGP-Stars in Silverstone auch direkt dort weiter, wo sie zuvor aufgehört hatten. Im Qualifying fuhren gleich vier Piloten unter dem bisherigen Rundenrekord über die Linie, vier weitere scheiterten nur hauchdünn. Im Grand Prix legte Francesco Bagnaia gleich im zweiten Umlauf mit Rekord-Rennpace los, Jorge Martin und Aleix Espargaro drückten den neuen Bestwert wenig später sogar noch weiter in den Keller. Das zeigt: Die Königsklasse des Zweiradsports ist 2024 noch einmal schneller geworden als je zuvor. Besonders beeindruckend sind dabei die gigantischen Zeitsprünge, die MotoGP-Fans in diesem Jahr regelmäßig zu sehen bekommen. Denn die Bestmarken werden in dieser Saison nicht nur um wenige Hundertstel unterboten. Im Gegenteil: Nicht selten werden Rundenrekorde aus den letzten ein oder zwei Jahren um mehr als eine halbe Sekunde unterboten. In Austin pulverisierte Maverick Vinales auf seinem Weg zur Pole Position den bestehenden Rundenrekord von Bagnaia aus der Vorsaison sogar um ganze 1,028 Sekunden und in Assen unterbot Letztgenannter 2023-Polesitter Marco Bezzecchi um 0,932 Sekunden. Unfassbare Werte, die in einem solch kurzen Zeitraum von ein bis zwei Jahren eigentlich nicht zu erreichen sein sollten. Und doch schafft die MotoGP im Jahr 2024 genau das. Wieso ist dem so?

Michelin bekommt es hin: Neue Reifen halten Stand

Nun, es gibt unterschiedliche Gründe. Zum einen werden MotoGP-Maschinen natürlich von Jahr zu Jahr weiterentwickelt. Die Hersteller bringen im Verlauf der Zeit zahlreiche Updates und neue Teile, die Performance und damit Rundenzeit bringen. Daher ist es nicht unüblich, jährlich zumindest auf einigen Strecken neue Rundenrekorde zu sehen - zumal die MotoGP seit vielen Jahren über ein stabiles Reglement verfügt und nicht künstlich durch Verbote oder Einschränkungen eingebremst wurde. Das ändert sich 2027, doch bis dahin können sich die fünf aktiven Hersteller der Königsklasse im Aerodynamik- und Motorenbereich noch ordentlich austoben. Speziell die immer ausschweifenderen Aero-Pakete an den Motorrädern haben die MotoGP 2024 nochmal ein gutes Stück schneller gemacht.

Die neuen Gummis machen die MotoGP deutlich schneller, Foto: LAT Images
Die neuen Gummis machen die MotoGP deutlich schneller, Foto: LAT Images

Doch das allein sollte keine solch großen Zeitsprünge ermöglichen. Es gibt also noch einen weiteren Faktor, den wohl nur die Wenigsten auf dem Zettel haben: Die neuen Reifen von Einheitshersteller Michelin. "Die Motorräder verbessern sich jedes Jahr enorm. Bei der neuen Aerodynamik können schon kleine Veränderungen große Unterschiede bewirken. Und dann sind da noch diese neuen Reifen. Sie bringen so viel mehr Performance [als in den vergangenen Jahren]. Wir haben das schon beim Sepang-Test in Malaysia gesehen, sind dort 1:56er-Zeiten gefahren. Das ist unglaublich. Danach haben wir es in Katar und Austin gesehen", erkannte Bagnaia bereits am Rande des vierten Rennwochenendes in Jerez und sprach Michelin damit ein großes Lob aus.

Jahre des Reifenkrieges: Fahrer & Teams gegen Lieferant

Worte, die so in den zurückliegenden Jahren nur selten zu hören waren. Im Gegenteil. Vielmehr fand sich das französische Unternehmen mit Hauptsitz in Clermont-Ferrand zumeist im Mittelpunkt zahlreicher Reifendramen wieder. Etwa im November 2023, als Jorge Martin nach dem Katar Grand Prix sogar von einer ihm gestohlenen Weltmeisterschaft sprach. Der Pramac-Pilot hatte damals den Sprint in dominanter Art und Weise gewonnen. Im Hauptrennen einen Tag später ging er trotz identischem Setup und identischer Reifenwahl jedoch komplett unter und überquerte die Ziellinie nur als Zehnter. Die offensichtliche Erklärung: Er hatte einen defekten Hinterreifen erwischt, welcher ihm nicht den nötigen Grip bieten konnte. Bereits beim Start hatte dieser durchgedreht, wodurch Martin mehrere Positionen verlor und überhaupt Glück hatte, nicht inmitten des Feldes zu Sturz gekommen zu sein.

Jorge Martin im Katar-GP
Jorge Martin wurde in Katar 2023 durchgereicht, Foto: MotoGP.com

Michelin wehrte sich im Anschluss gegen jegliche Kritik: Eine Analyse habe ergeben, dass der betroffene Hinterreifen keine Probleme zeige. Es folgte ein kleiner Rosenkrieg zwischen dem französischen Unternehmen, Martin und dem Pramac-Team. Mittlerweile scheint das aber vergessen. Denn nun findet auch die Startnummer 89 ganz andere Worte für das Michelin-Gummi: "Sicherlich haben sich die Motorräder etwas verbessert, aber ich glaube, dass diese Saison vor allem die Reifen in ihrer neuen Generation einfach viel besser geworden sind. Dadurch haben wir sogar ein paar Probleme mit dem Bike, weil sie zu viel Grip bieten." Ducati-Kollege Enea Bastianini stimmt zu: "Die Reifen haben sich dieses Jahr stark verbessert. Du kannst die Front jetzt viel stärker belasten." Und dann ist da noch Vinales, der weiß: "Die neue Reifentechnologie ist viel konkurrenzfähiger. Kombiniert mit den Verbesserungen im Aerodynamikbereich kannst du die Kurven jetzt viel stärker attackieren und später bremsen."

Speziell Michelins Vorderreifen hatte in der MotoGP in den vergangenen Jahren für viel Frust und Gesprächsstoff gesorgt. Die Piloten klagten regelmäßig, dass das Gummi viel zu temperaturanfällig sei und der Luftdruck beim Fahren in der 'Dirty Air' eines Vordermanns zu stark ansteige. Das wiederum führte nicht nur zu schlechterem Racing, weil Überholen immer schwerer wurde, sondern auch zu einem schwammigen Gefühl für die Front, was die Sturzgefahr erhöhte. Durch die im Spätsommer 2023 eingeführte Reifen-Mindestdruckregel wurde dieses Problem zusätzlich verschärft. Zur Saison 2024 reagierte Michelin allerdings und brachte in einem ersten Schritt eine neue Gummimischung, die besser an die Herausforderungen der modernen MotoGP angepasst wurde. Die vorherige Variante kam bereits seit 2017 zum Einsatz, als die Bikes noch gänzlich anders aussahen und funktionierten. 2025 sollte im zweiten Schritt dann auch noch eine neue Karkasse folgen, um die Temperaturanfälligkeit endgültig in den Griff zu bekommen. Das wird nun aber voraussichtlich erst 2026 der Fall sein.

Es chattert wieder in der MotoGP

Allein das Update zur Saison 2024 entpuppte sich aber schon als voller Erfolg, das zeigt ein Blick auf die Rundenzeiten der Rennwochenenden bis zur Sommerpause. Dort wurde, wie bereits angesprochen, bei neun von zehn Grands Prix ein neuer Rundenrekord aufgestellt. Doch das neue Michelin-Gummi kann nicht nur schneller, es kann die verbesserte Performance auch über die gesamte Renndistanz aufrechterhalten. So fiel bislang auch an jedem einzelnen Rennwochenende der Saison 2024 der bestehende Rennrundenrekord. Die MotoGP-Sprints sind im Jahr 2024 im Schnitt um sieben Sekunden schneller geworden, die Hauptrennen sogar um knapp zehn Sekunden - und das trotz zahlreicher packender Duelle an der Spitze, die die Piloten einiges an Rennzeit gekostet haben. Kann der Rennsieger einmal befreit auffahren, kommen dann unvorstellbare Werte wie in Mugello oder Assen zustande. Dort fuhr Bagnaia mal eben 25 bzw. 30 Sekunden schneller als im Vorjahr. "Das ist wirklich unglaublich", staunt auch der Ducati-Star. Doch mit der verbesserten Performance der Michelin-Reifen gehen auch dunkle Seiten einher. Zum Beispiel das sogenannte Chattering.

Dabei handelt es sich um ein altbekanntes MotoGP-Phänomen, das wohl jeder Fan der Königsklasse irgendwann schon einmal gehört hat. Speziell seit Saisonbeginn 2024 ist es jedoch wieder in aller Munde. Jorge Martin wurde beim letzten Wintertest in Katar als erster Pilot davon getroffen. Hatte er sich zuvor noch in starker Frühform präsentiert und die ersten vier Testtage schlechtesten Falls auf Platz zwei mit maximal 0,220 Sekunden Rückstand beendet, kam er am finalen Testtag plötzlich nicht mehr über Rang sieben und happige 0,514 Sekunden Rückstand auf Spitzenreiter Bagnaia hinaus. Und auch in den Longrun-Simulationen hinkte der Pramac-Pilot den Topfahrern plötzlich deutlich hinterher. Als Ursache hatte er schnell das Chattering ausgemacht, welches ihm in den folgenden zwei Wochen bis zum Saisonstart große Kopfschmerzen bereitete.

Am ersten Trainingstag der neuen Saison atmete er zunächst auf, doch im Sprint folgte dann der Rückfall. Das Chattering war zurück und hatte nun sogar die gesamte Ducati-Armada erreicht. "Ich hatte viel Chattering am Hinterreifen. Sobald ich nah hinter Binder war, hat sich das Bike noch mehr bewegt. Ich hatte überhaupt keine Traktion im ersten Teil der Beschleunigung", berichtete etwa Bagnaia seinerzeit. Probleme, die im weiteren Saisonverlauf speziell im Ducati-Lager und bei den GP24-Piloten immer wieder auftreten sollten. Aber auch andere Hersteller blieben davon nicht verschont, in Jerez erwischte es beispielsweise KTM und Jack Miller.

Doch was ist dieses Chattering überhaupt genau? Ganz einfach: Prinzipiell handelt es sich beim Chattering um nichts anderes als heftige Vibrationen des Rades. Sie können an Front, Heck und auch an beiden Rädern gleichzeitig auftreten. Aber unabhängig davon, wo Chattering genau auftritt: Es stellt ein großes Problem für den Fahrer dar. Denn diese leichten Vibrationen (ca. 20 Hertz) übertragen sich vom Reifen auf das gesamte Motorrad und somit auch auf den Piloten. Sie stören ihn in seinem Fahrgefühl, er kann weniger stark attackieren und muss Tempo rausnehmen oder einen Sturz riskieren. Auf eine Runde lassen sich diese Vibrationen zwar durchaus ausblenden, wodurch schnelle Runden im Qualifying machbar bleiben, über eine gesamte Renndistanz von mehr als 100 Kilometern ist das jedoch unmöglich. Vielmehr sorgen die Vibrationen auf Dauer sogar für Taubheit und eine schnellere Ermüdung der Hände und Muskeln, da sie stärker strapaziert werden. Leidet ein Fahrer unter Chattering, ist es ihm also unmöglich, sein Leistungspotenzial zu 100 Prozent abzurufen. Er wird eingebremst.

Kein Chattering ist nicht gleich kein Problem

Das große Problem: Chattering kann viele verschiedene Ursachen haben und lässt sich somit nur schwer lösen. Die Vibrationen können ihren Ausgang etwa im Motor, im Fahrwerk oder im Rahmen eines Motorrads nehmen oder auch externe Ursachen haben, beispielsweise die Asphaltbeschaffenheit. Im Jahr 2024 allerdings scheinbar unweigerlich damit verbunden: Das neue Gummi von Michelin. "Es scheint an den neuen Hinterreifen zu liegen", vermutet auch Miller und erklärt: "Du leidest jetzt mehr unter Twitching [Zuckungen] und kannst nicht mehr in die Kurven sliden. Vielmehr drückt der Reifen gegen deine Lenkbewegungen oder hakt sich im Asphalt fest und beginnt dann zu springen. So bekommst du am Kurveneingang Vibrationen. Sobald ich das Motorrad in die Kurven werfen oder reinrollen lassen wollte, hatte ich starke Vibrationen. Du musst dann warten, bis die Vibrationen wieder abgeklungen sind, ehe du fahren kannst, wie du das eigentlich möchtest."

Einfach zusammengefasst: Die neuen Michelin-Hinterreifen bieten also zu viel Grip und neigen dadurch zum Chattering. Eigentlich werden die Reifen vom Hersteller so konstruiert, dass sie alle Kräfte, die beim Fahren auf der Kontaktfläche zwischen Reifen und Asphalt entstehen, absorbieren können. Im Fachjargon wird dabei dann vom 'Tyre self damping effect' gesprochen. Doch das klappt eben nicht immer. Gut möglich also, dass die Stars der Königsklasse noch einige Zeit vom Chattering begleitet werden. Doch nicht nur das. Hat ein MotoGP-Pilot einmal das passende Setup gefunden, um Vibrationen zu vermeiden, droht ihm noch ein anderes Problem. Die verbesserte Bodenhaftung des neuen Hinterreifens erhöht nämlich auch den Druck auf die Front. Immer wieder waren dadurch in den vergangenen Monaten Stürze zu sehen.

Durch hartes Anbremsen und hohen Luftdruck ist die Belastung auf den Vorderreifen in der modernen MotoGP ohnehin gewaltig. Kommt dann noch zusätzliche Belastung hinzu, weil der Hinterreifen die Front nach vorne drückt, kann sie irgendwann nicht mehr standhalten und gibt nach. "Die neuen Hinterreifen sind fantastisch, aber sie lassen uns häufiger stürzen, weil das Heck die Front zu sehr pusht", hielt Bagnaia nach seinem Sturz im Silverstone-Sprint fest. Ebenfalls ein Problem, dass sich so schnell wohl nicht in den Griff bekommen lassen wird. "Wir sind jetzt schon zehn Rennen damit gefahren und wissen eigentlich Bescheid, vergessen es aber trotzdem immer wieder. Wir denken nur ans Attackieren", unterstreicht der Ex-Champion scherzhaft.

Armpump noch und nöcher: Die MotoGP treibt ihre Fahrer an die körperliche Grenze

Ganz andere Probleme haben derweil die Yamaha-Piloten. Diese kämpfen in der laufenden Saison nicht nur mit fehlender Pace, sondern auch dem Motorrad selbst. Denn die M1 des Jahrgangs 2024 fordert Fabio Quartararo und Alex Rins körperlich so sehr, dass sie es immer wieder mit Armpump zu tun bekommen. Negativer Höhepunkt: Der Spanien Grand Prix in Jerez. Dort litten beide Fahrer unter der altbekannten MotoGP-Krankheit. Das ist in Jerez zunächst nichts Ungewöhnliches, gilt der Circuito de Jerez Angel Nieto doch als einer der Hotspots für die unter GP-Fahrern gefürchtete Unterarmverhärtung. 2021 erwischte es Quartararo dort schon einmal, er verlor einen bereits sicher geglaubten Sieg an Miller. Doch diesmal war es nicht das Layout der Strecke, welches die Beschwerden auslöste, sondern das Motorrad.

"Das Bike ist jetzt viel aggressiver, ich muss mich also stärker am Motorrad festhalten und bin nicht wirklich entspannt beim Fahren. Wenn wir einlenken, muss ich das Bike sehr stark drücken", berichtete der ausgelaugte Franzose damals. Teamkollege Rins pflichtete bei: "Ich habe schon seit dem ersten Rennen in Katar Probleme mit Armpump. Weil das Bike nicht gut funktioniert, probiere ich es mit meinem Fahrstil zu kompensieren. Das ist schwer und anstrengend." Nach einem einfacheren Wochenende auf dem körperlich weniger fordernden Bugatti Circuit bei Le Mans folgte Anfang Juni in Mugello die nächste Härteprobe - diesmal allerdings nicht nur für die Yamaha-Jungs, sondern für alle MotoGP-Stars. Die dortigen 5,245 Kilometer gelten aufgrund der zahlreichen Richtungswechsel bei Highspeed - knapp 180 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit - mitunter als die körperlich anstrengendsten im gesamten MotoGP-Kalender.

Die Piloten werden extrem gefordert, müssen ihre Motorräder wortwörtlich um die Strecke wuchten. Eine Aufgabe, die durch die komplexen Aero-Anbauten in den letzten Jahren immer schwerer, immer anstrengender geworden ist. Kombiniert mit den immer schneller werdenden Rundenzeiten - Rennsieger Bagnaia fuhr 2024 im Schnitt 1,1 Sekunden pro Runde schneller als im Vorjahr - geraten die MotoGP-Stars dadurch schlicht an ihr körperliches Leistungslimit. Nicht nur Quartararo klagte nach dem Italien Grand Prix erneut über Armpump-Probleme, sondern auch Raul Fernandez und Pol Espargaro auf Seiten Aprilias bzw. KTMs. Das zeigt: Alle Fahrer sind betroffen, nicht nur die eines bestimmten Herstellers. Aleix Espargaro verriet in Mugello sogar, dass er hätte aufgeben müssen, wenn auch nur eine Runde mehr zu fahren gewesen wäre. So sehr hatte ihn die RS-GP des Jahrgangs 2024 seiner Kräfte beraubt. Die letzten 10 der insgesamt 23 Runden musste der Katalane sogar mit nur einem Finger bremsen, um sich überhaupt noch am Lenker festhalten zu können. Kein Wunder also, dass er anschließend von einem Desaster sprach und warnte: "Mit diesem Maß an Downforce sind die MotoGP-Bikes einfach zu viel für den menschlichen Körper."

Gefährliche MotoGP der Gegenwart lockt Zuschauermassen an

Weitere gute Gründe also, um die Aerodynamik in der MotoGP ab 2027 mit dem neuen Reglement einzugrenzen. Schließlich war schlechteres Racing schon länger als Folge der immer komplexeren Flügelelemente und Co. bekannt. Dass nun aber auch noch nahezu unmenschliche körperliche Belastungen hinzukommen, ist neu und besorgniserregend. Dennoch muss festgehalten werden: Die Königsklasse ist 2024 beliebter denn je und befindet sich tatsächlich in dem Boom, der überall propagiert wird. Das zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Zuschauerzahlen in den vergangenen 18 Monaten. Dort ist zu erkennen, dass die Königsklasse im Jahr 2024 fast ausschließlich gestiegene Zuschauerzahlen vorweisen kann, nachdem schon die vorangegangene Saison rekordverdächtig geendet hatte. Beim Frankreich Grand Prix in Le Mans konnte mit 297.471 Besuchern sogar ein neuer Allzeit-Rekord für die Motorrad-WM aufgestellt werden. Aber auch beim Deutschland GP am Sachsenring wurde zum dritten Mal in Folge ein neuer Bestwert aufgestellt und viele weitere Kurse erzielten ihre höchsten Werte seit langem. In den Niederlanden wurde bei der Dutch TT etwa der höchste Zuschauerwert seit 1995 gemessen.

Einzig beim Katar Grand Prix gelang der MotoGP im Vergleich zum Vorjahr keine Steigerung der Zuschauerzahlen. Zum Saisonauftakt auf dem Losail International Circuit kamen sogar knapp 15.000 weniger Menschen an die Strecke. Doch das lässt sich wohl einfach erklären: Denn 2023 fand das Nachtrennen in der Wüste aufgrund von Umbauten erst Mitte November statt. Somit lagen zwischen den beiden Events keine vier Monate Pause, wodurch der 'Hunger' vieler Kataris auf einen weiteren MotoGP-Besuch wohl noch ziemlich gesättigt gewesen sein dürfte. Zudem tobte im Vorjahr in Katar noch ein packender WM-Kampf zwischen Bagnaia und Martin, der für zusätzliches Interesse gesorgt haben dürfte, welches 2024 beim Saisonstart aber logischerweise fehlte. Bei den knapp 40.000 Zuschauern handelte es sich dennoch um den zweithöchsten Wert, der in Katar je gemessen wurde - getoppt einzig von der Vorsaison.

Ein Boom der MotoGP ist im Jahr 2024 also tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, das Zuschauerinteresse ist zumindest vor Ort an der Strecke weiter angestiegen. Das zeigt auch ein Blick auf die gesamten Zuschauerzahlen: 2024 besuchten die Königsklasse auf zwei Rädern 3.033.255 Fans, während es 2023 'nur' 2.857.925 Zuschauer waren. Das entspricht einem Zuschauerplus von 8.766 pro Rennwochenende. Die größte Steigerung gegenüber 2023 gelang dabei dem Portugal Grand Prix. Dieser wurde im Jahr 2024 von mehr als 50.000 zusätzlichen MotoGP-Fans besucht. Auch in Barcelona und Mugello konnten mehr als 20.000 zusätzliche Zuschauer verzeichnet werden, der Sachsenring, Le Mans und Jerez scheiterten nur knapp an dieser Marke.

Fantastische Vorzeichen also für die neue Ära der Motorrad-WM, die 2027 beginnen soll. Dann nämlich bekommt die MotoGP ihr lange ersehntes neues Reglement. Der Hubraum der Triebwerke wird von 1.000 auf 850 Kubikzentimeter reduziert, die Zylinderbohrung von 81 auf 75 Millimeter. Die Tanks schrumpfen von zwölf auf elf Liter im Sprint bzw. von 22 auf 20 Liter im Grand Prix. Zu 100 Prozent nachhaltige Kraftstoffe werden eingeführt. Aerodynamische Anbauten werden eingeschränkt und verkleinert, Ride-Height-Devices vollständig verboten. Die MotoGP-Maschinen werden sich also gänzlich verändern und all das mit dem Ziel, den Sport sicherer und unterhaltsamer zu machen. Die Spitzengeschwindigkeiten werden sinken, Aprilia-Rennchef Paolo Bonora rechnet durch die Reduktion des Hubraums und den Wegfall der Ride-Height-Devices etwa mit rund 20 km/h weniger Topspeed. Kombiniert mit den restlichen Reglementänderungen kalkulieren Hersteller und Teams derzeit mit Rundenzeiten, die je nach Rennstrecke etwa ein bis zwei Sekunden über den aktuellen Werten liegen dürften.

Damit wäre die Rekordjagd der aktuellen Saison also vorbei. Zwei Jahre bleiben im aktuellen Regelwerk allerdings noch. Nicht unwahrscheinlich also, dass die diesjährigen Bestwerte 2025 und 2026 erneut fallen werden. Denn die MotoGP steht nie still, spätestens über den Winter werden Gigi Dall'Igna und Co. die nächsten Updates an ihre Motorräder schrauben und sie noch schneller machen. Immerhin: Es sind keine ganz so großen Sprünge zu erwarten wie 2024, da zur kommenden Saison keine neuen Reifenmischungen eingeführt werden. Die Michelin-Pneus erhalten lediglich eine neue Karkasse, die in Sachen Grip keinen spürbaren Unterschied ausmachen sollte. Im Idealfall verbessert sich jedoch das Racing, da die Reifen dadurch weniger temperaturanfällig werden sollten. Womöglich ein erster Vorgeschmack auf 2027.

Leiden bis 2027, und ein neues Problem steht schon in Haus...

Ob dies wirklich eintreffen wird, lässt sich jedoch erst beurteilen, wenn es wirklich so weit ist. Sicher gesagt werden kann hingegen: Die MotoGP-Stars müssen sich mindestens noch zwei Jahre mit diesen körperlich extrem fordernden Motorrädern 'herumschlagen', denn daran wird auch eine neue Reifenkarkasse garantiert nichts verändern können. Die komplexe Aerodynamik bleibt, wird durch Forschung und Entwicklung der Hersteller vermutlich sogar noch weiter verkompliziert, um weitere Rundenzeit zu finden. Gut möglich also, dass die Belastungen auf die Fahrer auf Strecken wie Mugello oder Austin nochmal heftiger werden. Bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht zu stark werden und die schnellsten Motorradfahrer der Welt Rennen tatsächlich frühzeitig beenden müssen, weil sie kräftemäßig schlicht nicht mehr gegenhalten können. Das wäre zweifelsohne der größte anzunehmende Unfall.

Doch wer nun glaubt, dass mit der neuen Motorradgeneration ab 2027 alles besser wird, der sieht sich getäuscht. Auf die MotoGP-Stars warten dann nämlich andere körperliche Herausforderungen. Mit 62 bis 65 Kilogramm zählen zahlreiche Piloten bereits jetzt zur absoluten Leichtgewichtsklasse. Selbst die schwersten Fahrer wie Takaaki Nakagami und Augusto Fernandez brachten 2024 nur knapp 70 Kilogramm auf die Waage. Mit Blick auf ihre Körpergrößen bewegen sich viele Fahrer seit Jahren am Rande der Unterernährung. Ein Problem, das mit dem neuen Reglement womöglich noch schlimmer werden könnte. "Wenn wir auf 850ccm reduzieren, wird es noch wichtiger werden, ein kleiner und leichter Fahrer zu sein", fürchtete MotoGP-Experte Simon Crafar bereits vor der offiziellen Verkündung des neuen Regelwerkes.

Denn je leistungsschwächer das Motorrad, desto bedeutsamer das Gewicht. Haben die MotoGP-Bikes künftig weniger PS, kostet jedes unnötige Kilogramm Körpergewicht noch mehr Performance als bislang. Um eine weitere Verschlimmerung des Hungerwahns zu verhindern, fordert Crafar deshalb die Einführung eines kombinierten Mindestgewichts für Motorrad und Fahrer. In der Superbike-WM wurde dies 2024 bereits umgesetzt, in der MotoGP haben die Regelhüter den künftigen Chefsteward jedoch noch nicht erhört - und das wird wohl auch noch einige Zeit so bleiben. Die MotoGP bleibt damit am Scheideweg: Die neue Generation Motorräder muss besseres und vor allem sichereres Racing ermöglichen, ohne dabei aber zu langsam, langweilig und unspektakulär zu werden. Wo bestehende Probleme gelöst werden, werden 2027 mit dem neuen Reglement wieder neue geschaffen werden. Es gilt, den passenden Mittelweg zu finden. Ob dies gelingt, werden die nächsten Jahre zeigen.

Diese Analyse erschien erstmals in der Ausgabe 98 unseres Print-Magazins. Wenn ihr weitere spannende Themen zur MotoGP und anderen Motorsport-Serien lesen wollt, dann könnt ihr unser Magazin hier erwerben. Geschenk-Gutscheine für eure Liebsten gibt es ebenso!