Knapp vier Wochen ist es her, dass Jorge Martin am Sonntag im Katar Grand Prix völlig unterging und einen heftigen Rückschlag im WM-Kampf hinnehmen musste, nachdem er am Tag zuvor noch den Sprint gewonnen hatte. Der Schuldige war für ihn sofort klar: Ein defekter Hinterreifen von MotoGP-Einheitslieferant Michelin, der nicht den erwarteten Grip bot. Schon bei Zielüberfahrt hatte Martin nach hinten geblickt und auf seinen Hinterreifen gezeigt, anschließend sprach er gar von einer ihm gestohlenen Weltmeisterschaft.

Michelin ging sofort in die Defensive und leitete eine erste Analyse ein. Die Ergebnisse präsentierte der französische Hersteller vor dem Saisonfinale in Valencia zunächst dem Pramac-Team und dann auch der Weltöffentlichkeit: Es konnten keine Unregelmäßigkeiten oder Probleme mit dem betroffenen Reifen festgestellt werden. In einem weiteren Interview zu Beginn der Woche wies Michelin-Motorradsportchef Piero Taramasso dann erneut alle Kritik von sich. Vielmehr äußerte er bei der italienischen 'Gazzetta dello Sport' den Verdacht, dass Martins unerwartet schwache Performance eigens verschuldete Gründe gehabt haben muss.

WM-Vorentscheidung durch Michelin! Martin hadert mit Schicksal (07:14 Min.)

Ein Vorwurf, den sich wiederum Pramac-Teammanager Gino Borsoi im Gespräch mit 'AS' nicht gefallen lassen will. "Ich möchte mich nicht zu Dingen äußern, die wir vielleicht noch nicht herausgefunden haben, aber Martin hat am Vortag ein Rennen gewonnen, und zwar in einer besonderen Art und Weise. Von den Ausfällen abgesehen war ein fünfter Platz in Australien sein schlechtestes Ergebnis [ab Misano, Anm.]. Dort war die Wahl des Hinterreifens im Nachhinein sicher nicht die Beste, aber uns fehlte ein halber Tag und niemand wusste, was mit dem Medium passieren würde. Katar war dann aber ein merkwürdiges Rennen, weit von Jorges Potenzial entfernt", begann der Italiener und verriet anschließend, dass auch Pramac und Ducati eine eigene Analyse durchgeführt haben. Dabei stellte sich heraus, dass es in Bezug auf Handling und Setup des Motorrads keine Fehler oder Probleme gab.

Borsoi rätselt: Martin kann nicht gewinnen und dann nur Zehnter werden

Vizeweltmeister Martin hatte im Katar Grand Prix also die identischen Waffen zur Verfügung wie am Vortag im Sprint. Für Borsoi stellt sich die Frage nach dem Schuldigen daher nicht. "Martin hat in Katar natürlich nicht von einem auf den anderen Tag vergessen, wie man Rennen fährt. Wenn ein Fahrer wie er Zehnter wird, dann, weil etwas passiert ist. Er kann nicht am Samstag gewinnen und mit dem gleichen Bike-Setup am nächsten Tag Zehnter werden. Das ist unmöglich", wird der Pramac-Teammanager deutlich.

Vielmehr ist sich Borsoi sicher, dass nur etwas mit dem Hinterreifen seines Schützlings nicht gestimmt haben kann. Das habe sich schon beim Start gezeigt, bei dem Martin mit viel Wheelspin beinahe zu Sturz kam. "Am Donnerstag in Valencia war ich bei einem Meeting mit Michelin", berichtet Borsoi. "Das Ergebnis war, dass kein Problem mit dem Motorrad vorlag und die Reifentemperatur zum Zeitpunkt des Starts sogar besser als am Vortag war. Sie betrug vier Grad mehr. Auch Jorges Fahrweise war nicht das Problem. Öffnung der Drosselklappe und Nutzung der Kupplung waren exakt gleich. Jorge war am Start immer einer der besten Ducati-Fahrer am Start und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er am Sonntag in Katar plötzlich vergisst, wie man Rennen fährt", wiederholt er.

Jorge Martin
Jorge Martin klagte im Katar-GP über fehlenden Grip am Hinterreifen, Foto: LAT Images

Borsoi attackiert Michelin: Noch immer keine abgeschlossene Analyse

Borsoi hätte sich deshalb etwas mehr Respekt von Seiten Michelins und Taramassos vor den Analysen Pramacs und Ducatis erhofft. Bei 'Motorsport.com' legte der ehemalige 125ccm-Pilot nach: "Wir warten immer noch auf die Analyse der Reifenmischung. Nach dem Rennen in Katar hat Michelin den Reifen nach Frankreich gebracht, wo sie ihn für weitere Analysen öffnen wollten. Bis heute wissen wir nichts über diese Tests. Ein Monat ist vergangen und wir hoffen, dass sie uns bald Informationen darüber geben werden. Taramasso ist ein Profi mit langjähriger Erfahrung in der MotoGP. Es würde mich daher überraschen, wenn er Jorge vorschnell die Schuld für die Geschehnisse in Katar geben würde, ohne alle Beweise und Daten in der Hand zu haben."