Selten herrscht im MotoGP-Feld so große Einigkeit, wie wenn es um die Mindestreifendruckregel geht. Diese wurde ja zur Saisonhalbzeit eingeführt, nachdem eine Umsetzung an den ersten Rennwochenenden noch aufgrund zu ungenauer Sensoren gescheitert war. Seither geht in der Königsklasse die Angst um: Die Angst davor, für zu geringen Druck Strafen zu kassieren. Oder das Motorrad mit zu hohem Druck unfahrbar zu machen.

Denn für Fahrer und Teams ist es praktisch unmöglich vorherzusagen, wie sich der Druck der temperaturempfindlichen Michelin-Pneus im Rennen entwickelt, vor allem am Vorderrad. Hat man freie Fahrt und bekommt dementsprechend frische Luft auf den Reifen, bleiben Temperatur und Druck im Rahmen. Befindet man sich hingegen im Windschatten eines Vordermannes und kassiert so noch die heiße Abluft eines anderen Motorrads, sprengt der Druck schnell alle Limits.

Dass die Michelin-Reifen von den modernen MotoGP-Bikes mit ihrer ausufernden Aerodynamik und den Ride-Height-Devices an ihre Leitungsgrenzen gebracht werden, ist nur am Rande die Schuld des französischen Ausrüsters. In einer Serie mit Einheitslieferant ist es Aufgabe der Motorradbauer, ihre Maschinen so zu konstruieren, dass sie mit dem zur Verfügung stehenden Reifen bestmöglich funktionieren. Hier kann Michelin also kein Vorwurf gemacht werden.

Sehr wohl aber bei der Wahl der Mindestgrenzen, speziell am Vorderrad. 1,88 bar sind hier vorgeschrieben. Deutlich zu viel, da ist man sich im MotoGP-Paddock einig. Rennen wurden in den vergangenen Jahren, bevor es zu Bestrafungen kam, regelmäßig mit Drücken im Bereich von 1,75 bar gewonnen. Und das ohne jegliche Probleme. Somit fehlt Michelins Rechtfertigung, man hätte die Mindestdruckregelung aus Sicherheitsgründen eingeführt, jegliche Grundlage. Sinn ergibt diese im Bereich der Hinterreifen, wo es in der Vergangenheit brandgefährliche Defekte gab. Doch Reifenschäden am Vorderrad sucht man in den letzten MotoGP-Jahren vergeblich, obwohl Fahrer und Teams regelmäßig die Empfehlungen von Michelin missachteten.

In Silverstone kam die Reifendruckregel erstmals zur Anwendung, Foto: LAT Images
In Silverstone kam die Reifendruckregel erstmals zur Anwendung, Foto: LAT Images

Die Reifendruckregel bringt somit nicht nur kein Sicherheitsplus, sie wird sogar zum Sicherheitsrisiko für die Königsklasse. Denn in dieser Saison passierten bereits unzählige Stürze, die einzig und allein auf zu großen Reifendruck zurückzuführen waren, weil Fahrer und Teams aus Angst vor Strafen bereits mit hohem Druck in die Rennen gegangen waren.

Wozu dann also das gesamte Theater? Ein Engagement wie jenes von Michelin als Reifenlieferant der MotoGP hat wenig mit Leidenschaft für den Rennsport zu tun. Es dient in erster Linie als Werbeträger für den Verkauf von Reifen an die breite Masse. Und um diese Werbewirkung nicht zu stören, tut man alles, um Defekte am eigenen Produkt zu vermeiden. Auch wenn das übertriebene Vorsicht mit sich bringt und man damit den Sport massiv schädigt.

Defekte gehören im Rennsport dazu. Ducati, KTM, Aprilia, Yamaha oder Honda müssen damit leben, dass hin und wieder einer ihrer Motoren vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Rauch aufgeht. Brembo muss es aushalten, dass in seltenen Fällen ein Millionenpublikum Zeuge davon wird, wie ein Fahrer aufgrund eines Bremsversagens von seiner Maschine abspringen muss. Und Michelin muss es verkraften, dass der unwahrscheinliche Fall eintreten könnte und einer ihrer Vorderreifen aufgrund zu geringen Drucks beschädigt wird. Wem das nicht passt, der hat im Rennsport nichts zu suchen. Dann müssen das Michelin-Männchen und seine Freunde eben zuhause in der Fabrik in Clermont-Ferrand bleiben.

Michelin-Männchen Bibendum hat viele Sympathien eingebüßt, Foto: LAT Images
Michelin-Männchen Bibendum hat viele Sympathien eingebüßt, Foto: LAT Images

Das wird in absehbarer Zeit aber nicht passieren. Bis mindestens 2026 rüstet Michelin die MotoGP exklusiv aus. Eine Lösung muss gefunden werden, doch diese ist momentan nicht in Sicht. Rennwochenende für Rennwochenende betteln die Fahrer in ihrer Sicherheitskommission Michelin und die Regelhüter um eine Herabsetzung des Drucklimits an - vergeblich. Im kommenden Jahr wird sich die Situation wohl sogar noch massiv verschärfen: Denn dann will man eine Nulltoleranzpolitik fahren und statt Verwarnungen und Zeitstrafen für jedes Vergehen sofort eine Disqualifikation aussprechen. Ein hervorragender Plan, wenn man die MotoGP zu Grunde richten will.