Ist die MotoGP-Saison 2020 verrückt? Ja, natürlich. Ist das Niveau durch die Abwesenheit von Marc Marquez gesunken? Gut möglich. Sehen wir seither nur noch Fahrer, die es durch ihre Leistungen eigentlich nicht verdient haben, sich die Krone der Königsklasse aufzusetzen? Mitnichten.

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Die jüngsten Leistungen von Titelanwärtern wie Fabio Quartararo, Maverick Vinales oder Andrea Dovizioso sind tatsächlich enttäuschend. Entweder sind ihre Ergebnisse wie im Fall der beiden Yamaha-Piloten zu inkonstant, oder es fehlt wie bei Andrea Dovizioso schlicht und ergreifend völlig der Speed.

Joan Mir: Keine Spur von Leistungsschwankung

Doch es gibt einen Mann, der sich die Schmähungen der MotoGP-Fans definitiv nicht verdient hat: Joan Mir. Ein Blick auf die Fakten beweist, dass seine Performance in der MotoGP-Saison 2020 alles andere als schwach ist. Er konnte zwar noch kein Rennen gewinnen, stand aber in sechs der bislang elf Grands Prix auf dem Podium. Der Steiermark-GP hätte ihm wohl den ersten Sieg eingebracht, wäre das Rennen nach dem Bremsversagen von Maverick Vinales nicht abgebrochen worden. Mir wurde dennoch Vierter. Im zweiten Jerez-Rennen holte er P5. In Le Mans ging er in sein allererstes Regenrennen in der MotoGP, wurde durch den Sturz von Valentino Rossi in Kurve drei massiv beeinträchtigt und fuhr praktisch ohne Erfahrung im Nassen immerhin noch auf Platz elf. In Brünn war ein Top-Five-Resultat möglich, doch Mir wurde von Iker Lecuona unverschuldet abgeräumt.

Somit kann man Mir exakt in einem der bislang elf Saisonrennen einen Aussetzer attestieren. Beim Auftakt in Jerez kam er nur zwei Runden weit, ehe er zu Boden ging und so eine Nullnummer schrieb. Was gerne vergessen wird: Mir hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eine volle Saison in der Königsklasse auf dem Buckel. In seinem Rookie-Jahr 2019 verpasste er nach einem schlimmen Sturz beim Brünn-Test mehrere Rennen und kämpfte bis zum Saisonende mit den erlittenen Lungenverletzungen.

Mir und seine Suzuki GSX-RR bilden 2020 ein hervorragendes Paket, Foto: gp-photo.de / Ronny Lekl
Mir und seine Suzuki GSX-RR bilden 2020 ein hervorragendes Paket, Foto: gp-photo.de / Ronny Lekl

Setzt man diesen bescheidenen Erfahrungsschatz in Verbindung mit den außergewöhnlichen Rahmenbedingungen der Saison 2020, wertet das Mirs Leistungen zusätzlich auf. Fast fünf Monate saßen der Suzuki-Mann und seine MotoGP-Kollegen vor dem Auftakt in Jerez nicht auf ihren Maschinen, ein schwer zu berechnender neuer Hinterreifen von Michelin erschwerte ihnen die Arbeit zusätzlich.

Mir in einer Liga mit Dovizioso und Rossi

Unter diesen Umständen sind die 12,45 Punkte, die Mir 2020 bisher im Schnitt sammelte, eine absolut respektable Ausbeute. Denn mit Ausnahme von Überflieger Marc Marquez war in der aktuellen MotoGP-Ära mit Michelin-Reifen und Einheitselektronik niemand je wirklich stärker. Andrea Dovizioso kam in seinen drei Vizeweltmeisterjahren von 2017 bis 2019 auf 14,5, dann auf 14,16 und schließlich auf 13,61 Zähler. Valentino Rossi holte 2016 als Marquez' erster Verfolger 13,83 Punkte pro Rennen. Werte, die Mir mit seiner aktuellen Form in dieser Saison durchaus noch erreichen könnte.

Also hören wir auf, die Leistung des 23-Jährigen kleinzureden. Mir wäre ein absolut verdienter Weltmeister, der sich zurecht in die Liste der MotoGP-Champions einreiht. Ohne Sternchen, ohne Randbemerkung. Einfach nur der beste Fahrer des Jahres 2020.