Der Stoff, aus dem Träume gemacht sind: Beim Tschechien-GP in Brünn starten am Sonntag sämtliche WM-Favoriten aus der ersten Startreihe. Jorge Lorenzo entschied das MotoGP-Qualifying mit neuem Fabelrekord von 1:54.989 Minuten hauchdünn vor Marc Marquez für sich. Platz drei sicherte sich WM-Leader Valentino Rossi, der erst zum zweiten Mal in der Saison 2015 unter die ersten Drei der Qualifikation vordrang. Sein Rückstand von knapp 0,4 Sekunden auf Lorenzo darf dabei nicht überbewertet werden: Rossi ist der ultimative "Sonntags-Fahrer".

Nachdem die Weltmeisterschaft über große Teile der ersten Saisonhälfte in Richtung Yamaha-interner Machtkampf steuerte, kämpfte sich Marquez mithilfe der stetig verbesserten Honda RC213V zurück ins Fenster des Titelkampfs. Siege in Deutschland und Indianapolis ließen Rossis gigantischen Vorsprung auf MM93 bei noch acht verbleibenden Rennen binnen zwei Grands Prix blitzartig von 74 auf 56 Punkte schrumpfen. Lorenzo seinerseits nahm dem Teamkollegen in Indianapolis ebenfalls vier wichtige Zähler ab, liegt nur noch neun Punkte zurück auf Gesamt-Rang zwei.

Bereits bei der Pressekonferenz am Donnerstag kamen sich die drei Superstars nahe, Foto: Tobias Linke
Bereits bei der Pressekonferenz am Donnerstag kamen sich die drei Superstars nahe, Foto: Tobias Linke

Die Ausgangslage vor dem Rennen auf der Traditionsstrecke in Brünn könnte nicht brisanter sein – und das nicht nur aufgrund des Stelldicheins der WM-Anwärter in Startreihe eins. Gewinnt Lorenzo das Rennen und Marquez landet vor Rossi auf Platz zwei, wäre der Doktor trotz Punktgleichheit an der Spitze erstmals in dieser Saison die Gesamtführung los. Doch nicht nur Rossi muss einen Lorenzo-Triumph verhindern. Mit Platz zwei würde Marquez seinen Rückstand auf die Spitze zwar um weitere vier Zähler verringern, in sieben Rennen jeweils auf 52 Punkte auf Rossi und Lorenzo aufzuholen, sollte allerdings auch für den "Außerirdischen" eine zu harte Prüfung darstellen.

Lorenzo und Marquez hingegen müssen ihrerseits mit aller Macht verhindern, dass Rossi mit einem Sieg an der Spitze der WM weiter Luft zwischen sich und seine Verfolger bringt. Vor allem an einem Wochenende, an dem der Doktor bislang klar nur dritte Kraft war, würde ein Rückschlag im Rennen Lorenzo und Marquez wohl noch mehr schmerzen als ohnehin. Doch wie stehen die Siegchancen der MotoGP-Superstars in Brünn tatsächlich? Motorsport-Magazin.com wagt nach vier Freien Trainings und dem Qualifying eine Prognose…

Die Brünn-Favoriten

Jorge Lorenzo: Der Yamaha-Star scheint auf einer Mission und drückte dem bisherigen Brünn-Wochenende mit aller Brutalität seinen Stempel auf. Drei von vier Freien Trainings entschied Lorenzo für sich, unterbot dabei bereits in FP3 am Samstagmorgen den Pole-Position-Rekord von Marquez aus dem Jahr 2014 um über 0,2 Sekunden. Im Qualifying selbst sicherte sich Lorenzo mit Startplatz eins dann auch passenderweise die beste Ausgangslage für den Sonntags-Gipfel.

Bitter für die Konkurrenz: Lorenzo ist ohnehin bereits der beste Starter im Feld. Von Startplatz eins könnte er daher schnell eine Lücke reißen, das Rennen in überlegener Manier seiner vier Siege in Serie in dieser Saison von der Spitze hinweg kontrollieren. Zwar fällt es an diesem Wochenende aufgrund der Experimentierfreudigkeit der Top-Piloten mit den verschiedenen Reifentypen sowie der unterschiedlichen Wetter- und Gripbedingungen während der Sessions schwer, die Longrun-Zeiten zu vergleichen, allerdings scheint "Metronom" Lorenzo auch auf die Distanz und in Sachen Konstanz die Messlatte für Brünn gelegt zu haben.

Jorge Lorenzo ist Topfavorit auf den Sieg in Brünn, Foto: Milagro
Jorge Lorenzo ist Topfavorit auf den Sieg in Brünn, Foto: Milagro

Für die Konkurrenz an der Spitze ist allerdings noch längst nicht alles verloren: Zwar ist Lorenzo nach eigener Aussage sowohl auf den harten als auch den Medium-Reifen maximal konkurrenzfähig, jedoch kann die "falsche" Wahl während des Rennens durchaus Nuancen in positive oder negative Richtung ausmachen – vor allem auf die Distanz.

Zudem wäre da vor allem noch die Performance von Marquez und Rossi selbst: In Indianapolis folgte Marquez Lorenzo scheinbar problemlos mehr als 24 Runden, um dann im drittletzten Umlauf erstmals die Führung zu übernehmen. Lorenzo verfügt also auch bei früher Führung in Rennen nicht jedes Mal über den Freifahrtschein zum Sieg. Rossi seinerseits zeigte sich in den meisten Grands Prix hinsichtlich des reinen Rennspeeds stärker als Lorenzo, hatte sich durch schwache Startpositionen jedoch zuvor zu oft schon eine große Hypothek in Form deutlichen Rückstands auferlegt, den er bis zum Zielstrich nicht mehr wettmachen konnte. Steigert sich der Doktor in altbekannter Manier zum Sonntag hin, scheint ein absolutes Top-Ergebnis durchaus möglich.

Trotz aller Eventualitäten: Stand jetzt ist Lorenzo der große Favorit auf den Sieg.

Marc Marquez: Der "Außerirdische" ist noch nicht zurück in der Ausnahmeform der ersten Saisonhälfte 2014, nähert sich jedoch wieder der allgemein bereits fast schon vorausgesetzten Dominanz. Nachdem Honda Mittel und Wege gefunden hat, die zu große und aggressive Energiebereitstellung seines mächtigen Antriebsaggregats zu bändigen, vermittelt die RC213V-Rennmaschine wieder annehmbare Fahrbarkeit. Dies reichte "Grenzwandler" Marquez in den letzten drei Rennen bereits aus, statt Harakiri-Fahrten ins Kiesbett zwei Triumphe und einen zweiten Platz einzuheimsen.

Rast Marc Marquez zum dritten Sieg in Serie?, Foto: Repsol Honda
Rast Marc Marquez zum dritten Sieg in Serie?, Foto: Repsol Honda

"Meine Mentalität ist und bleibt die gleiche. Ich wurde hart für meine Fehler kritisiert, weil ich mich nicht mit Niederlagen zufriedengeben wollte. Jetzt, wo mein Motorrad wieder absolut annehmbar läuft, ist es aber genau diese Mentalität, die mir das Comeback und somit die Siege ermöglicht hat", feuerte Marquez am Samstag einen kleinen Revanche-Pfeil in Richtung seiner Kritiker. Auch in Brünn zeigt sich der Repsol-Honda-Star bislang von seiner besten Seite, war sowohl bei den Longruns als auch auf die eine schnelle Runde Lorenzos erster – und durchaus hautenger – Verfolger.

Seine Devise für das Rennen ist einfach. "Ich denke nicht an die WM, habe auch nichts zu verlieren – im Gegensatz zu den anderen Beiden. Ich werde voll auf Sieg fahren, und vielleicht hilft mir das dabei." Marquez-Triumph Nummer drei in Serie auszuschließen, scheint in der Tat alles andere als eine gute Idee…

Valentino Rossi: Dass der Doktor in Startreihe eins steht, dürfte die Konkurrenz wohl mächtig zum Nachdenken anregen. Das "Kuriosum Rossi" ist mit normaler Logik nämlich schon längst nicht mehr zu erklären. Selbst nach zwei Tagen voller Pleiten, Pech, Pannen und Schwächen ist der 36-jährige WM-Leader noch in der Lage, Podien und Siege herauszufahren – erstere gar am Fließband.

Saisonübergreifend stand Rossi bereits 14 Mal in Serie bei der Champagnerdusche. Die zahlreichen mittelmäßigen Leistungen und Platzierungen in den insgesamt 84 Sessions vor den Rennen in dieser Zeit hatten keinerlei Bewandtnis. Als Rossis WM-Führung erstmals in dieser Saison in Gefahr geriet, konterte der Doktor mit Pole-Position und Sieg in Assen. Nun, da sich Lorenzo abermals anschickt, die Spitze der Gesamtwertung zu erklimmen, antwortet Rossi mit Startplatz drei, sowie Platz zwei in der "Rennsimulation" FP4.

Der Doktor will beim zweiten Besuch in Startreihe eins den zweiten Sieg, Foto: Tobias Linke
Der Doktor will beim zweiten Besuch in Startreihe eins den zweiten Sieg, Foto: Tobias Linke

Rossi scheint ob der derzeitigen Ausnahmeform Lorenzos und Marquez‘ am Sonntag derzeit tatsächlich leichter Außenseiter zu sein, er wäre allerdings nicht Rossi, würde er die Motorrad-Welt nicht zum x-ten Mal eines Besseren belehren…

Die Favoriten der Redaktion

Samy Abdel Aal: Die Aufgabe, bei dieser Konstellation einen treffenden Tipp abzugeben, erscheint mir schlicht und einfach zu schwierig. Ich wähle daher die "Fanboy-Variante", da ich bis zum Saison-Finale in Valencia einen Dreikampf auf des Messers Schneide sehen will. Marquez macht in Brünn seinen dritten Sieg in Folge perfekt und verkürzt den Rückstand auf Rossi um weitere neuen Punkte. Dieser behält mit Platz drei seine WM-Führung, da ihm Lorenzo als Zweiter wie auch in Indianapolis nur vier Zähler abluchst.

Samys Top-3-Tipp: 1. Marquez, 2. Lorenzo, 3. Rossi

Tobias Ebner: Die Ausgangslage schreit förmlich nach einem Dreikampf im Rennen. Jorge Lorenzo, Marc Marquez und Valentino Rossi werden sich nichts schenken. Eine Entscheidung dürfte kurz vor Schluss oder gar erst mit der Zielflagge fallen. Am Ende hat Rossi den größten Biss und wird hauchdünn gewinnen. Dahinter setzt sich Lorenzo gegen Marquez auch nur ganz knapp durch. Sollte einer der großen Drei ausfallen, staubt Andrea Iannone den dritten Platz auf dem Treppchen ab.

Tobias' Top-3-Tipp: 1. Rossi, 2. Lorenzo, 3. Marquez

Michael Höller: Rossi gewinnt! Weil erstens alles nur über Lorenzo und Marquez spricht und zweitens ein Rossi aus Reihe eins dreimal so gefährlich ist wie aus Reihe drei. Hoffentlich erleben wir ein so knappes Finish wie in Assen. Vielleicht sogar zu dritt?

Michaels Top-3-Tipp: 1. Rossi, 2. Lorenzo, 3. Marquez

Heiko Stritzke: Marc Marquez hat im Qualifying mal wieder alle Regeln der Physik außer Kraft gesetzt, doch über die Distanz kann selbst er Yamaha hier nichts entgegensetzen. Wir werden einen packenden Kampf zwischen Lorenzo und Rossi sehen. Wer ihn gewinnt? Das zeigt sich wohl erst in der letzten Kurve. Setzen wir unser Geld mal auf den Doktor.

Heikos Top-3-Tipp: 1. Rossi 2. Lorenzo 3. Marquez