Es waren 97.500 Zuschauer da. Fast 30.000 mehr als bei der Formel 1 vor wenigen Wochen. Und fast alle 97.500 schrien kollektiv auf, als die Startnummer 93 schon wieder im Kies strandete. Ein Land im Schockzustand, weil der König strauchelt. Der Aufschrei dürfte wahrscheinlich vom Circuit de Catalunya in Montmelo, vor den Toren der Stadt gelegen, bis zur Rambla in Downtown zu hören gewesen sein. Verständlich. Ein derartiges Scheitern des Dominators der letzten zwei Jahre hätte keiner, aber auch wirklich keiner, vorhersagen können. Und diese Krise tut dem Sport gut. Denn die befürchtete Langeweile, die durch einen erneuten Durchmarsch von Marc Marquez aufgekommen wäre, ist erstmal abgewendet. Und das ist gut für den Faktor Entertainment. Weil es Abwechslung bringt. Und weil es den immer noch weltweit beliebtesten Fahrer, nämlich Valentino Rossi, in Titelnähe bringt. Nach Assen reist Il Dottore immer noch als WM-Führender. Aber nur mit einem Punkt Vorsprung. Jorge Lorenzo ist nämlich ebenfalls gewillt, die überraschende Schwächephase von Marc Marquez zu nutzen.

Marc Marquez also in seiner ersten Krise? Nein. Es ist nämlich nicht der Fahrer, der ein Problem hat. Es ist das Arbeitsgerät. Honda hat eine MotoGP-Rakete in eine MotoGP-Gurke verwandelt. Und anscheinend nicht richtig hingehört. Denn schon nach den ersten Testfahrten mit dem neuen Bike bemängelten die Werksfahrer Pedrosa und Marquez die Aggressivität, die Motorbremse und vor allen Dingen das Gefühl für das Vorderrad. Schnell ist die Honda nach wie vor, aber bestenfalls auf eine Quali-Runde. Der Abstand vom Barcelona-Dritten Dani Pedrosa auf den Sieger Jorge Lorenzo spiegelt das momentane Kräfteverhältnis wohl am besten wieder. 19,455 Sekunden - eine schallende Ohrfeige für die verantwortlichen Entwickler dieser Maschine. Marquez muss deren Fehler ausbaden und bezahlte beim Heimrennen mit dem zweiten Rennsturz in Folge. Jorge Lorenzo dagegen sorgte für seinen vierten Sieg in Reihe. Das hat der Mallorquiner in seiner Karriere noch nie geschafft.

Während Marquez im Kies landete, durfte Lorenzo feiern, Foto: Yamaha
Während Marquez im Kies landete, durfte Lorenzo feiern, Foto: Yamaha

Nach sieben Rennen kommen bei Yamaha sagenhafte elf Podestplätze zusammen. Honda hat nur vier. Den Markentitel 2015 kann Yamaha schon fest für das neue Briefpapier einplanen. Weil nämlich auch die Honda-Kundenteam-Fahrer Crutchlow und Redding ordentlich straucheln und auf keinen Fall besser da stehen als der vom Werk nicht mehr geliebte Stefan Bradl im Jahr 2014 zum gleichen Zeitpunkt der Saison. Das Ergebnis dieser Honda-Krise? Beste Unterhaltung für die neutral eingestellten Fans. Bei jedem Rennen mehr Zuschauer. Eine packende Stimmung. Mitreissende Atmosphäre. Es sei denn, man geht in eine Repsol-Honda-Hospitality. Da fühlt man sich sehr schnell wie in einer begehbaren Kühltruhe.

Bescheidene Ergebisse, aber unglaubliche Show

Die Marquez-Fans sollten sich trotzdem nicht zu sehr grämen. Zwar ist durch die Tatsache, dass per Reglement die fünf Motoren für 2015 verplombt sind, im Moment nicht allzu viel zu machen, aber keine Sorge: Honda und Marquez werden schon wieder aufstehen. Das hat auch einen ungeheuren Reiz. Denn Marc Marquez hat immer noch beste Laune und ein gewinnendes Wesen. Weil er weiß, dass es nicht an ihm liegt. Er ist immer noch beeindruckend, draußen auf der Strecke. Während Rossi und Lorenzo sanft und smooth wie von einer Schnur gezogen ihre Linien fahren können, kämpft Marquez mit dem Biest unter ihm. Und wie. In Mugello und Barcelona war eigentlich in jeder Sitzung zu beobachten, dass die 93 fightet wie ein Löwe. Sowohl in Italien als auch in Barcelona waren Runden mit teilweise fünf Verbremsern dabei. Das, was er mit seinem launischen Arbeitsgerät so aufführt, ist großes Kino.

Marquez' Fahrstil begeistert die Massen, Foto: Milagro
Marquez' Fahrstil begeistert die Massen, Foto: Milagro

Und schnell ist der vierfache Weltmeister damit immer noch. Faszinierend. Und eben sehr unterhaltsam. Denn wenn die Saison so weitergeht, wird vielleicht Marc Marquez im Zweikampf zwischen Rossi und Lorenzo das Zünglein an der Waage sein. Im Marquez-Lager hat man nach Barcelona die Titelverteidigung abgehakt. Bedeutet, es geht ab sofort nur noch um Einzelergebnisse und um Schadensbegrenzung. Ein Sieg nur in sieben Rennen - puh, das stachelt die Honda-Nummer-eins an. Im Fahrerlager werden unter Insidern schon Wetten abgeschlossen. Nicht, wie sonst, auf das Resultat. Sondern darauf, wie lange die 93 sitzen bleibt.

Warten wir also voller Vorfreude auf die nächsten Rennen. Freuen wir uns auf seine Versuche, die Yamaha-Überlegenheit umzudrehen. Lächeln wir gespannt beim Gedanken an das Saisonfinale, wenn Marquez als Störenfried zwischen den beiden Yamaha-Fahrern für Unruhe sorgt. Weiter geht es schon nächste Woche. Beim von Deutschland aus leicht zu erreichenden Kultrennen in Assen. Dort sind die Eintrittspreise übrigens extrem günstig. Also, hinfahren. Und staunen. Über die beste MotoGP-Saison aller Zeiten? Vielleicht. Aber Achtung. Assen? Da war doch was. Das Wetter zum Beispiel. Denn in den Niederlanden hat Lorenzo 2013 seinen Titel verspielt, durch Sturz und Schlüsselbeinbruch. Obwohl er im Rennen nach Blitzoperation trotzdem punktete.

In Assen haben sie Rossi gefeiert. Nach dem Ducati-Desaster war dort sein erster Sieg nach langer Durststrecke fällig und die Massen haben dabei getobt. Auch diesmal wird die Dutch TT, das älteste Rennen im Kalender, wieder eine einmalige MotoGP-Party. Vor allen Dingen dank der von Honda herbei konstruierten Krise. Danke dafür. Wie gesagt, eine Krise die (fast)allen gut tut.