In vielen Formel-Rennserien bedeutet der erste Startplatz bereits die halbe Miete auf dem Weg zum späteren Rennsieg. In der Formel E sieht die Angelegenheit etwas anders aus: In den bisherigen fünf Rennen der Saison 2023 ist es noch keinem Pole-Setter gelungen, die Ziellinie im wenige Stunden darauffolgenden Rennen als Erster zu überqueren.

Die theoretischen Chancen auf ein Ende dieser Serie stehen vor dem sechsten Saisonrennen in Sao Paulo (Samstag, 25. März, 18:00 Uhr live im TV bei ProSieben) eher schlecht. Der neue Kurs im Kalender der Formel E mit seinen 2,933 Kilometern Länge und 11 Kurven dürfte wie keine andere Strecke zuvor ein großes Dilemma der Gen3-Autos aufzeigen: Wer vorne fährt, verliert!

'Drag-Racing' in der Formel E 2023

Nie zuvor war der Nachteil, ein Rennen anzuführen, größer in der Geschichte der Formel E. Das Problem: Die bis zu 350 kW (476 PS) starken und 780 Kilogramm schweren Gen3-Autos erzeugen einen enorm hohen Luftwiderstand, auch 'Drag' genannt. Von Spark Technologies entwickelt, kämpfen die Boliden mit ihren hohen Nasen und der breit auslaufenden Heckpartie am Ende des keilförmigen Einheitschassis stark mit dem Fahrtwind.

"Auf den Geraden sind wir deutlich schneller geworden, in den Kurven aber ein bisschen langsamer", erklärte der Meisterschafts-Führende Pascal Wehrlein (Porsche) die Eigenheiten der leistungsstärkeren Fahrzeuge. "Die Autos haben sehr wenig Downforce, das ist kein Geheimnis - und vermutlich weniger als man gedacht hatte. Gleichzeitig haben sie sehr viel Drag."

Da die Aerodynamik absichtlich noch nie eine besondere Rolle bei den Formel-E-Autos gespielt hat und das Abtriebniveau unterhalb eines alten Formel-3-Modells angesiedelt sein dürfte, sind die Fahrer größtenteils auf mechanischen Grip angewiesen. Das etwa aus der Formel 1 bekannte Phänomen der 'Dirty Air' - Luftverwirbelungen hinter dem Auto - ist in der Formel E zu vernachlässigen, sodass ein Fahrer seinem Vordermann nah folgen kann, ohne größere Nachteile zu erfahren.

Bedeutet konkret: Der Windschatten spielt bei den neuen Gen3-Autos eine immens wichtige Rolle. Nicht aber unbedingt, weil sich der Hintermann aus dem Windschatten 'heraussaugen' kann, um dann mit besserem Topspeed am Ende einer Geraden zu überholen. Sondern vielmehr, weil der Führende gegen den vollen Luftwiderstand ankämpfen und dafür deutlich mehr Energie verbrauchen muss als seine Verfolger. Die Energiemenge ist in der Formel E bekanntermaßen per Reglement beschränkt und das Energie-Management ausschlaggebend für den Erfolg.

Pascal Wehrlein führt die Gesamtwertung in der Formel E an, Foto: Porsche AG
Pascal Wehrlein führt die Gesamtwertung in der Formel E an, Foto: Porsche AG

Vergne: "Windschatten-Effekt zwei- bis dreimal stärker als letztes Jahr"

So macht es für die Fahrer aus strategischer Sicht oftmals nur wenig Sinn, früh im Rennen nach der Führung zu greifen. Zweikämpfe kosten unnötig viel Energie - vergleichbar mit dem Reifenverschleiß in anderen Serien - und erzeugen wenig Mehrwert. Erst in der Schlussphase wird der erste Platz lukrativ, wenn die Piloten ihre verbleibende Energie haarklein einteilen müssen und sich durch die Kurven verteidigen können, um die Track-Position zu halten.

"Ich hätte gerne Autos mit weniger Drag, das würde die Rennen offener gestalten und alle müssten mehr Energie sparen", sagte der zweifache Formel-E-Champion Jean-Eric Vergne (DS Penske). "Der Windschatten-Effekt ist zwei- bis dreimal stärker als letztes Jahr! In Indien bin ich vorne gestartet und die Fahrer hinter mir mussten nichts machen, weil der Windschatten so stark ist und sich dadurch die Energie-Ziele ändern."

Heißt: Während Vergne durch den Drag-Effekt an der Spitze mehr Energie verbraucht als im Vorfeld des Rennens errechnet, können die Konkurrenten unterhalb der pro Runde vorgegebenen Energy-Targets bleiben. Dadurch profitieren sie im späteren Verlauf des Rennens, wenn sie eine größere Energiemenge pro Runde abrufen können als eigentlich von der Software als optimaler Verbrauch errechnet worden ist.

So sieht der Kurs fürs Formel-E-Rennen in Sao Paulo 2023 aus, Foto: Formula E
So sieht der Kurs fürs Formel-E-Rennen in Sao Paulo 2023 aus, Foto: Formula E

Schema E: So funktioniert ein Formel-E-Rennen

Deshalb laufen die meisten Formel-E-Rennen nach dem gleichen Schema ab: In der Startphase wird es oftmals turbulent, weil sich im engen Feld die meisten Positionen ohne übermäßigen Energieaufwand gewinnen lassen. Zur Rennmitte positionieren sich die Piloten im Feld und machen vor allem über gute Strategien mit dem Attack Mode Plätze gut. Im Schlussstint wird es dann wieder wild, wenn Autos mit unterschiedlich großen verbleibenden Energie-Restmengen aufeinandertreffen.

Ausnahmen gibt es zwei: In dieser Saison die vier Autos mit einem Porsche-Antriebsstrang, die mit ihrer Energie aus noch unbekannten Gründen besser haushalten können als ein Großteil der Konkurrenz. Nicht umsonst gewann Porsche-Werksfahrer Pascal Wehrlein beide Rennen in Saudi-Arabien von den Startplätzen 9 und 5, während Teamkollege Antonio Felix da Costa zuletzt in Kapstadt sogar von Platz 11 zum Sieg fuhr. Die andere Ausnahme: Kleine Teams wie NIO, die beim Energie-Management unterlegen sind, nach dem Rennstart nach vorne stürmen und auf ein Safety-Car hoffen, durch das sich die Energie-Ziele deutlich verringern.

Sao Paulo: Windschatten-Schlachten wie in Monza

Zurück zum bevorstehenden Drag-Dilemma auf dem Stadtkurs in Sao Paulo, der durch das Anhembi Sambadrome führt, in dem zur Karnevalszeit mehr als 100.000 Zuschauer den berühmten Umzug der Sambaschulen verfolgen. Mit vielen langsamen 90-Grad-Kurven wirkt Sao Paulo wie eine ur-typische Formel-E-Strecke, gleichzeitig bilden die vier langen Geraden eine Besonderheit.

In Brasilien können sich die Teams auf Windschatten-Schlachten im besten Monza-Stil gefasst machen. Und die sind mit den Gen3-Autos noch wichtiger, weil die Fahrer auf den Geraden praktisch keine Energie zurückgewinnen können. Das passiert stattdessen in den starken Bremszonen, wodurch sich eine Vielzahl guter Überholmöglichkeiten ergeben sollte.

"Das Überholen ist schwieriger geworden", sagte Kelvin van der Linde, der in Sao Paulo sein Abt-Cockpit wieder für Stammfahrer Robin Frijns räumt. "Mit dem neuen Frontmotor sind die Coasting-Phasen viel kürzer. Teilweise hast du 150 bis 200 Meter gecoastet. Dieses Jahr sind es vielleicht 50 bis 100 Meter, wenn überhaupt. Es gibt nicht so viele Möglichkeiten, mit dem Energie-Management etwas rauszuholen."

Andretti-Ass Jake Dennis bestätigte: "Die neuen Front-Motoren reduzieren die Lift-Profile. Die Fahrer können viel mehr pushen." Dennoch könnte es auf dem unbekannten Brasilien-Kurs - rund 40 Kilometer nördlich von der Formel-1-Strecke in Interlagos gelegen - wegen des Energie-'Nachteils' durch die vielen Geraden schwierig werden, die Energie-Ziele pro Runde zu erreichen.

"Windschattenfahren war bisher ein Schlüsselfaktor in der Gen3-Ära der Formel E und wird an diesem Wochenende von großer Bedeutung sein", erklärte der der Formel-E-erfahrene Maserati-Renndirektor Jeremy Colancon. "Die hohe Anzahl von Geraden in Sao Paulo wird die Stärke des Windschattens erhöhen - nicht nur in Bezug auf Geschwindigkeit, sondern auch in Bezug auf Energieeinsparung - und es wird aus strategischer Sicht von entscheidender Bedeutung sein, dies sorgfältig zu überwachen, zu nutzen und zu steuern."

Formel E 2023: Rennkalender Saison 9

RennenAustragungsortDatum
1Mexiko-City14. Januar 2023
2Saudi-Arabien I27. Januar 2023
3Saudi-Arabien II28. Januar 2023
4Hyderabad11. Februar 2023
5Kapstadt25. Februar 2023
6Sao Paulo25. März 2023
7Berlin I22. April 2023
8Berlin II23. April 2023
9Monaco06. Mai 2023
10Jakarta I03. Juni 2023
11Jakarta II04. Juni 2023
12Portland24. Juni 2023
13Rom I15. Juli 2023
14Rom II16. Juli 2023
15London I29. Juli 2023
16London II30. Juli 2023