Ayrton Senna, Emerson Fittipaldi, Nelson Piquet oder auch der bis dato letzte Rennsieger Rubens Barrichello (2009, Italien GP): Brasilien blickt auf eine glorreiche Vergangenheit in der Formel 1 zurück. Die Erfolge und insgesamt acht WM-Titel für brasilianische Piloten sind allerdings schon eine ganze Weile her. Und angesichts dieser Historie ist es fast unvorstellbar, dass Felipe Massa 2017 der letzte F1-Vollzeitfahrer aus dem größten Land Südamerikas war!

Brasilianische Motorsport-Fans werden sich die guten, alten Zeiten ihrer Nationalhelden sicherlich ins Gedächtnis rufen, wenn die Formel E an diesem Wochenende zum ersten Mal zu Gast ist. Nach langen Bemühungen hat es endlich geklappt, am Samstag geht der Sao Paulo ePrix über die Bühne.

Der Weg nach Brasilien gestaltete sich für die Elektro-Rennserie ähnlich mühsam wie die Suche nach dem nächsten Formel-1-Brasilianer: Schon in ihrer Debütsaison 2014/15 war ein Rennen in Rio de Janeiro geplant, konnte aber nicht realisiert werden. Ein für März 2018 vorgesehenes Rennen in Sao Paulo musste nach Unstimmigkeiten mit dem Veranstalter kurzfristig abgesagt werden. Punta del Este in Uruguay sprang damals als Südamerika-Alternative ein.

Als großer Favorit galt im Jahr 2021 ein ePrix in Rio de Janeiro. Geplant war eine Austragung auf einem neuen Rennkurs im Stadtteil Deodoro, unweit entfernt vom Stadtteil Jacarepagua, in dem die MotoGP bis 2004 ihre Rennen austrug. Auch dieses Vorhaben zerschlug sich im politisch oftmals schwierigen Brasilien. Nicht zu vergessen: Die Formel E ist wie keine andere Rennserie auf der Welt abhängig von politischen Einflüssen in einer Stadt.

Formel E zu Gast in der Millionen-Metropole Sao Paulo, Foto: LAT Images
Formel E zu Gast in der Millionen-Metropole Sao Paulo, Foto: LAT Images

Formel E zu Gast auf der Samba-Meile

Im vierten Anlauf hat es nun endlich funktioniert, und die Formel E gastiert auf einem knapp 3 Kilometer langen Stadtkurs in Sao Paulo, der durch das Anhembi Sambadrome führt, in dem zur Karnevalszeit mehr als 100.000 Zuschauer den berühmten Umzug der Sambaschulen verfolgen. Die temporäre Strecke, die Platz für mehr als 20.000 Tribünenplätze bietet, liegt rund 40 Kilometer nördlich vom Formel-1-Kurs in Interlagos, wo die Königsklasse seit 1972 gastiert und Fittipaldi, Carlos Pace, Piquet, Senna sowie Massa Siege beim Heimrennen feiern konnten.

Gelingt dieses Kunststück auch beim Formel-E-Rennen in Sao Paulo? Mit Mahindra-Pilot Lucas di Grassi und Sergio Sette Camara (NIO) tummeln sich aktuell zwei Brasilianer im Starterfeld, die sich mehr oder aktuell eher weniger große Siegchancen ausrechnen dürfen. Vor der Brasilien-Premiere blickt Motorsport-Magazin.com auf die illustre wie bewegte Vergangenheit brasilianischer Rennfahrer in der Formel E zurück.

Lucas di Grassi, 104 Rennen seit 2014

Der ewige Lucas: Di Grassi ist der einzige Fahrer, der alle bisherigen 104 Rennen in der Geschichte der Formel E bestritten hat. Der 38-Jährge, der sich über die Jahre enorm für ein Rennen in seiner Heimat eingesetzt und jetzt endlich sein Ziel erreicht hat, war nicht nur der erste Rennsieger (Peking 2014), sondern auch der erste und bisher einzige Fahrer, der die Schallmauer von 1.000 Punkten knacken konnte.

Di Grassi hat die meisten Podestplätze (40) in der Formel E erobert und teilt sich in der Sieger-Statistik den ersten Platz mit Sebastien Buemi (beide 13 Siege). Seine größten Erfolge, darunter den Gewinn der Meisterschaft 2016/17, feierte der Mann aus Sao Paulo mit Abt Sportsline/Audi.

Knapp sechs Saisons ging di Grassi mit Teamkollege Daniel Abt für den Rennstall aus Kempten an den Start, bevor er im Zuge des Audi-Werksaustieges für ein Jahr zu Venturi wechselte. Nur eine Übergangsstation auf dem Weg zum aktuellen Arbeitgeber Mahindra, der gleichzeitig die Antriebsstränge für das neue Kundenteam Abt-Cupra liefert.

Mit den Äbten war di Grassi seit jeher auch menschlich eng verbunden, was zu zwei DTM-Gaststarts 2021 in seinem Formel-E-Meister-Design auf dem Audi R8 LMS GT3 führte. Di Grassi, 2010 Teamkollege von Timo Glock beim Formel-1-Team Virgin, war der erste Entwicklungsfahrer der Formel E, gilt als Sprachrohr der Serie und wird im Fahrerlager auch gerne mal als 'zukünftiger FIA-Präsident' bezeichnet.

Lucas di Grassi, Formel-E-Champion 2017, Foto: Abt Sportsline
Lucas di Grassi, Formel-E-Champion 2017, Foto: Abt Sportsline

Nelson Piquet Jr., 51 Rennen von 2014 bis 2018

An die motorsportlichen Erfolge seines Vaters (3 Formel-1-Titel) reichte Nelson Piquet Junior nie heran, doch mit dem Gewinn der ersten Meisterschaft in der Formel E 2014/15 sicherte er sich ebenso einen Platz in den Geschichtsbüchern. Der heute 37-Jährige holte den Titel damals mit dem Team Next-EV, inzwischen besser als NIO bekannt.

Das Saison-1-Finale im Londoner Battersea Park hätte kaum dramatischer verlaufen können: Piquet reichte der siebte Platz (nach P16 im Qualifying) zum Titelgewinn mit nur einem Punkt Vorsprung auf Sebastien Buemi. Verrückt: Ausgerechnet Bruno Senna hielt den heranstürmenden Schweizer beim Kampf um den titelbringenden vierten Platz in Schach! Geschichtsträchtig, schließlich verband Piquets Vater Nelson und Sennas Onkel Ayrton zu Formel-1-Zeiten eine tiefe Feindschaft.

Nach der Meisterschaft ging es für Piquet und Next-EV/NIO rapide bergab, als die Entwicklung der zunächst komplett baugleichen Autos immer weiter geöffnet wurde. Der Brasilianer suchte zur Saison 2016/17 sein Glück beim Jaguar-Werksteam. Nach einem vielversprechenden Auftakt erlebte Piquet jedoch ab der zweiten Saisonhälfte eine unfassbare Pleiten-Serie, die nach acht Ausfällen aus 13 Rennen vorzeitig während der laufenden Saison 2017/18 endete.

Für mächtig Wirbel in der Formel E und bei der FIA sorgte Piquet Junior 2018 beim Berlin ePrix, wo er Neueinsteiger Felipe Massa gegenüber Motorsport-Magazin.com mit den unsanften Worten begrüßte: "Die Formel E wollte nie große Namen, sie wollte immer ihre eigenen Stars erschaffen. Felipe Massa war offensichtlich eine politische Sache. Er wird von Nicolas Todt gemanagt, dessen Vater (Jean Todt) Alejandro Agag (Formel-E-Gründer) ja sehr nahe steht. Das ist halt Politik, der übliche Mist."

Nelson Piquet, Formel-E-Champion 2015, Foto: Sutton
Nelson Piquet, Formel-E-Champion 2015, Foto: Sutton

Sergio Sette Camara, 41 Rennen seit 2020

Der zweite Brasilianer im aktuellen Starterfeld neben Lucas di Grassi. Der NIO-Neuzugang zählt unter Formel-E-Experten zu den talentiertesten Fahrern, auch, wenn es seine bisherigen Ergebnisse nicht vermuten lassen würden. Mit den meist völlig unterlegenen Rennwagen von NIO und zuvor Dragon/Penske war es aber auch kaum möglich, beständig zu glänzen.

Der 24-Jährige hat aus seinen begrenzten Möglichkeiten oftmals das Beste gemacht und das eine oder andere Highlight gesetzt. An der Seite von Dragon-Teamkollege Antonio Giovinazzi erzielte Sette Camara 2022 die einzigen Punkte für das Team: Platz neun in London. Sette Camaras bisheriger Höhepunkt war ein völlig überraschender vierter Platz in Saudi-Arabien im Februar 2021. Er kam im August 2020 zu seinem Debüt in der Formel E, nachdem sich Brendon Hartley kurz vor dem Saisonfinale mit sechs aufeinanderfolgenden Rennen in Berlin von Dragon getrennt hatte.

Sette Camara blickt auf eine recht erfolgreiche Karriere im Formel-Nachwuchssport zurück. 2018 fuhr er in der FIA Formel 2 mit Carlin auf den sechsten Platz, 2019 ließ er Gesamtplatz vier mit DAMS folgen. Formel-1-Testfahrten absolvierte er schon 2016 (mit Toro Rosso in Silverstone) und 2019 in Barcelona für McLaren. Deutsche Motorsport-Fans kennen Sette Camara aus seiner Zeit in der Formel-3-Europameisterschaft mit dem Team Motopark um Teamchef Timo Rumpfkeil.

Sergio Sette Camara mit NIO-Teamkollege Dan Ticktum, Foto: LAT Images
Sergio Sette Camara mit NIO-Teamkollege Dan Ticktum, Foto: LAT Images

Felipe Massa, 24 Rennen von 2018 bis 2020

Mit dem im Mai 2018 verkündeten Einstieg von Felipe Massa war der Formel E um Gründer Alejandro Agag ein weiterer Paukenschlag gelungen. Der Formel-1-Vizeweltmeister von 2008 ersetzte bei Venturi um die damalige Teamchefin Susie Wolff den AMG-Fahrer Maro Engel. Massa fand sich beim Formel-E-Debüt 2018/19 besser zurecht als von vielen Experten erwartet: 36 Punkte, P15 in der Gesamtwertung, gute Qualifying-Leistungen und sogar ein Podestplatz beim Heimspiel in Monaco, der Venturi-Boss Gildo Pastor zu Tränen rührte.

Seinen auf drei Jahre angelegten Vertrag erfüllte Massa jedoch nicht und zog sich nach der Saison 2019/20 aus der Formel E zurück. In den elf Rennen der wegen der Corona-Pandemie verkürzten Saison fuhr der heute 41-Jährige nur zweimal in die Punkte. Auch Teamkollege Edoardo Mortara, im Folgejahr Vize-Weltmeister, tat sich nach dem Venturi-Wechsel zu Mercedes-Kundenautos (praktisch belieferte Toto Wolff seine Ehefrau Susie mit Motoren) zunächst schwer.

Massas Abgang ging lautlos über die Bühne, weil beim kuriosen Corona-Saisonfinale in Berlin (6 Rennen innerhalb von 9 Tagen) keine Medien zugelassen waren. Venturi verkündete die Trennung pünktlich mit dem Fallen der Zielflagge im letzten Rennen. Massa hängte zwei Saisons in der brasilianischen Stock-Car-Serie dran und bestritt sogar ein Rennen mit Timo Glock.

Felipe Massa fuhr zwei Saisons in der Formel E, Foto: LAT Images
Felipe Massa fuhr zwei Saisons in der Formel E, Foto: LAT Images

Bruno Senna, 21 Rennen von 2014 bis 2016

Nelson Piquet Jr., Nico Prost, Marco Andretti, Matthew Brabham und Bruno Senna: Der Neffe von Formel-1-Legende Ayrton gehörte in der Debütsaison der Formel E zu einer Reihe an Fahrern mit prominentem Familiennamen. Weitere ehemalige F1-Piloten Jarno Trulli, Vitantonio Liuzzi, Takuma Sato oder auch der heute zweifache Formel-E-Meister Jean-Eric Vergne sollten der neuen Rennserie schnell zu weltweiter Bekanntheit verhelfen.

Senna bestritt seine beiden Saisons in der Formel E für Mahindra und traf beim Rennstall aus Indien zunächst auf Karun Chandhok, mit dem er schon zu GP2- und Formel-1-Zeiten ein Teamgespann gebildet hatte. In der Saison 2015/16 wurde sein neuer Teamkollege Nick Heidfeld, den Senna 2011 bei Renault während der laufenden Saison ablöste.

Senna schlug sich ordentlich in der Formel E mit den Gesamtplätzen 10 und 12, seinen einzigen Podestplatz erzielte er 2016 beim Saisonfinale in London. Im Anschluss gab es Gerüchte über einen möglichen Wechsel zu Jaguar, doch dazu sollte es nicht kommen. Senna wechselte auf die Langstrecke, gewann 2017 die LMP2-Weltmeisteraschaft in der WEC, ging 2020 letztmalig bei den 24 Stunden von Le Mans an den Start und holte mit Rebellion den zweiten Gesamtplatz.

Das berühmtete Helm-Design der Welt und Bruno Senna, Foto: Sutton
Das berühmtete Helm-Design der Welt und Bruno Senna, Foto: Sutton

Felipe Nasr, 3 Rennen 2019

Kaum jemand dürfte sich heute noch daran erinnern, dass mit Felipe Nasr ein weiterer Rennfahrer aus Brasilien auf eine - äußerst kurzlebige - Karriere in der Formel E zurückblickt. Der frühere Formel-1-Pilot (2015 und 2016 punktelos mit Sauber) ging in der Saison 2018/19 bei drei Rennen für Dragon/Penske an den Start. In Mexiko-City, Hongkong und Sanya blieb Nasr chancenlos und sah nur einmal die Zielflagge.

Bei diesen drei Rennen ersetzte Nasr den Deutschen Maximilian Günther, der überraschend sein Cockpit räumen musste und bei dem lange Zeit nicht klar war, ob er noch einmal zurückkehren würde. Der umtriebige Dragon-Boss Jay Penske - heute Teamchef von DS Penske - hatte schon immer eine Affinität für mehr oder weniger erfolgreiche Piloten mit Formel-1-Vergangenheit und griff bei Nasr spontan zu. Eine Farce, die darin endete, dass Nasr (heute Porsche-LMDh-Werksfahrer) auf die Langstrecke zurückkehrte und Günther nach der Saison zu BMW wechselte.

Kurze Formel-E-Karriere: Felipe Nasr bei Dragon-Penske, Foto: LAT Images
Kurze Formel-E-Karriere: Felipe Nasr bei Dragon-Penske, Foto: LAT Images

Statistik: Die Brasilianer in der Formel E

FahrerRennenSiegePodienPolesPunkteMeister
Lucas di Grassi104134041.0272016/17
Nelson Piquet512512372014/15
Sergio Sette Camara41---28-
Felipe Massa24-1-39-
Bruno Senna21-1-92-
Felipe Nasr3-----