Testfahrten im Motorsport sind für gewöhnlich da, um sich ans Performance-Limit heranzutasten. Dass Grenzen dabei auch einmal überschritten werden, gehört dazu. Bei den offiziellen Testfahrten der Formel E in Valencia galt allerdings als oberste Maxime: bloß nichts kaputtmachen!

Faktisch ist der Ersatzteilbestand für die neuen Autos höchst beschränkt. War das Teilelager von Chassisbauer Spark Technologies in der Vergangenheit stets gut gefüllt, wurde es in Valencia immer leerer. "Das ist eine Herausforderung momentan, das ist kein Geheimnis", sagte McLaren-Teamchef Ian James zu Motorsport-Magazin.com. "Aber wir sind hier gefahren, das ist oberste Priorität. Jetzt müssen wir die Vorbereitung für Mexiko hinbekommen, da brauchen wir die Unterstützung der Teile-Lieferanten."

Deshalb war es auch kein Wunder, dass für Sebastien Buemi nach seinem Unfall am Freitagmorgen vorzeitig Feierabend war. Kommende Woche werden alle Autos nach Mexiko-City transportiert, wo bereits am 14. Januar der Saisonauftakt steigt. Buemis Team Envision hat also keine Möglichkeit mehr, das reparierte Auto in der Teamfabrik durchzuchecken.

Der Envision-Neuzugang war im Verlauf der vier Testtage der einzige Fahrer, der mit seinem Auto in die Streckenbegrenzung einschlug. An einen Fahrfehler des früheren Formel-1-Fahrers, Formel-E-Champions und vierfachen Le-Mans-Siegers glauben im Fahrerlager nur die wenigsten. Es wäre zumindest nicht das erste Mal in der Geschichte der Formel E, dass die Technik bzw. die Software nicht mitspielte und der Fahrer nur noch Passagier war...

Foto: LAT Images
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Die Gründe für den Buemi-Crash waren in Valencia zunächst nicht bekannt und müssen erst im Detail analysiert werden. Buemi wollte oder durfte sich auf Nachfrage nicht äußern. Einige Vertreter anderer Teams forderten die FIA umgehend auf, Klarheit in diesem Fall zu schaffen und mit absoluter Transparenz vorzugehen. Mögliche Probleme mit Einheitsbauteilen betreffen schließlich das gesamte Fahrerlager.

Obwohl die meisten Teams bei den einzigen Testfahrten vor dem nahenden Saisonstart deutlich mehr fahren konnten als erwartet, bleibt eine gewisse Nervosität auf dem Weg hin zum ersten Rennen mit den neuen Gen3-Autos spürbar. Alle Teams dürften zum Abschluss der Testfahrten aufatmen, dass es mit Ausnahme von Buemi keine weiteren starken Beschädigungen gab.

Berechtigte Frage: Wäre einem Fahrer Derartiges früher in dieser Woche passiert, hätte er dann überhaupt noch ins Testgeschehen eingreifen können? Einige Fahrerlager-Insider beschrieben die Ersatzteile-Lage im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com als durchaus dramatisch. Dabei ist jeder Kilometer auf der Strecke Gold wert, nachdem es während der privaten Hersteller-Testfahrten zu zahlreichen Problemen vor allem mit der Einheits-Batterie gekommen war und die Kundenteams wegen Lieferproblemen ohnehin kaum testen konnten.

"Wir sind bei unserer Vorbereitung sechs bis acht Wochen hinten dran", sagte etwa Abt-Teamchef Thomas Biermaier in Valencia zu Motorsport-Magazin.com - und das nur einen Monat vor dem ersten Rennen! "Mit diesen Autos sind wir vorher keinen Meter gefahren. Sie wurden erst hier in Valencia komplettiert. Nicos Rennauto hat hier zum ersten Mal die Räder ans Auto bekommen - in Kempten (Abt-Teamsitz) hatten wir nicht mal die Räder am Auto gehabt."

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Ein Test-Unfall hätte die Vorbereitungen bei jedem Team also praktisch um Lichtjahre zurückgeworfen. Nicht ohne Grund sollen beim Testrennen am Mittwoch im Zuge einer kompletten Renntag-Simulation Überholmanöver strikt verboten gewesen sein.

Porsche-Teamchef Florian Modlinger zu Motorsport-Magazin.com: "Es gab eine ganz klare Ansage: Wir fahren hier unser Testprogramm und gehen kein Risiko ein. Egal, ob in der Renn-Simulation ober bei Push-Runden. Nichts zu beschädigen, ist die oberste Maxime hier in Valencia dieses Jahr. Wir sind so gefahren, dass wir keine Schäden haben, es landete auch niemand im Kiesbett."

Motorsport-Magazin.com beobachtete während der Testwoche in Valencia immer wieder, wie Teammitarbeiter bis spät abends damit beschäftigt waren, lädierte Autoteile zu richten. Vor allem Unterböden wurden ständig in Eigenarbeit repariert, wohl, weil nicht ausreichend Ersatzteile zur Verfügung standen. Porsche-Leiter Modlinger: "Früher sind wir mit vollen Containern von Valencia zum ersten Rennen aufgebrochen. Jetzt sind die Container fast leer. Das heißt, dass wir einen Großteil erst in Mexiko bekommen."

Noch ging es in der neuen Ära der Formel E mit dem Gen3-Auto um nichts Zählbares. Ab Mexiko geht es dann um die Wurst - und auf dem Formel-1-Kurs stehen die Mauern deutlich näher als es auf dem Circuit Ricardo Tormo der Fall ist... Die Teams können nur hoffen, dass im Bedarfsfall ausreichend Ersatz parat steht.