Ein Meeting jagt das nächste. Hier die Teams der Formel E, dort die FIA: Jamie Reigle kämpft bei den Testfahrten der Elektro-Rennserie in Valencia an allen Fronten. Der Geschäftsführer der Formel E ist beim einzigen Kollektiv-Test vor dem Saisonstart in Mexiko-City am 14. Januar 2023 ein gefragter Mann. Keine Überraschung, schließlich betritt die Formel E mit dem Gen3-Auto technologisches Neuland.

Der Weg hin zur dritten Ära begann nicht ohne Schwierigkeiten. Hersteller klagten bei privaten Testfahrten immer wieder über technische Schwierigkeiten vor allem mit Einheitsbauteilen wie der Batterie von Williams Advanced Engineering. Die teils schlimmen Befürchtungen, mit denen viele nach Valencia gereist waren, bewahrheiteten sich jedoch nicht: Am Dienstag und Mittwoch konnten die meisten Fahrer mit ihren Autos deutlich mehr Runden drehen als erwartet.

Eine zusätzliche Teststunde am eigentlich fahrfreien Medien-Donnerstag zeigt allerdings, wie groß der Druck ist, weitere Kilometer auf die bis zu 350 kW starken Rennwagen zu schrauben. Trotz vollem Terminkalender nahm sich Reigle am Donnerstagvormittag für Motorsport-Magazin.com die Zeit, über die aktuell heißesten Themen zu sprechen.

Jamie, wie fällt deine Zwischenbilanz zu den Formel-E-Testfahrten hier in Valencia aus?
Jamie Reigle: Bislang ziemlich gut. Ich habe mit einem Teamchef gesprochen, der mir sagte, dass vor den Testfahrten große Sorgen herrschten. Bislang konnten sie sich nur mit sich selbst messen, hatten ihre eigenen Herausforderungen und wie ja bekannt ist, gab es auch Herausforderungen bezüglich der Batterie. Jetzt können die Teams besser einschätzen, wo sie stehen. Manche hatten das Schlimmste befürchtet, das hat sich aber nicht bewahrheitet. Alle scheinen jetzt zumindest etwas entspannter zu sein. Ein anderer Teamchef sagte mir, dass es viel besser laufe als erwartet. Als ich wissen wollte, was er erwartet hatte, sagte er: "Wir hatten wirklich Angst!" Die Autos sehen cool aus, sie klingen gut und sind schon schneller als die Gen2-Autos.

Jamie Reigle im Interview mit MSM-Reporter Robert Seiwert, Foto: Andreas Beil
Jamie Reigle im Interview mit MSM-Reporter Robert Seiwert, Foto: Andreas Beil

Bislang waren die Gen3-Fahrzeuge aber nur vier Zehntelsekunden schneller als ihre Vorgänger. Im Vorfeld gab es Spekulationen über einen Zeitenvorteil von bis zu vier Sekunden pro Runde...
Jamie Reigle: Ich selbst habe nie von drei Sekunden oder Ähnlichem gesprochen. Es gab nur die Erwartungshaltung, dass die Autos schneller sein würden. Viele Faktoren spielen eine Rolle bei der Rundenzeit - und es geht ja auch nicht nur um die Zeiten. Wie wird das Racing sein? Wie sehen die Autos zusammen auf der Strecke aus? Ich hätte mir Sorgen gemacht, wenn die Autos eine halbe Sekunde langsamer als die Gen2-Wagen gewesen wären. Jetzt am zweiten Tag der Testfahrten eine halbe Sekunde schneller zu sein als Autos, die nach vier Jahren perfekt optimiert waren, finde ich okay. Dazu eine kleine Anekdote...

Ja, bitte?
Jamie Reigle: Alejandro (Agag; Formel-E-Gründer) erzählte uns, dass damals beim allerersten Test der Formel E 20 Autos dabei waren, aber nur ein einziges eine Runde drehen konnte. Das ist extrem! Ich erzähle das nicht, um die Sorgen der heutigen Teams herunterzuspielen. Natürlich sind die Einsätze und Erwartungen heutzutage sehr hoch. Aber: Es wird in Ordnung sein. Ich kann diese Sorgen nachvollziehen, schließlich sind wir eine Weltmeisterschaft, haben viele Hersteller an Bord und die Erwartungshaltung ist bei ihnen aus sportlicher Sicht ebenso hoch wie der Druck. Aber genau das wollen wir ja auch, denn wir wollen ja kein zweitklassiger Sport, sondern eine Weltmeisterschaft sein.

Hat die Formel E jemals erwägt, den Saisonstart in Mexiko-City am 14. Januar 2023 angesichts der kurzen und nicht problemfreien Entwicklungszeit der Gen3-Autos nach hinten zu verschieben?
Jamie Reigle: Man kann nicht leugnen, dass wir uns alle gewünscht hätten, mehr Zeit zum Testen zu haben. Aber eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt? Nein. Wenn du einen Rennkalender veröffentlichst, ist das auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Wenn Leute Angst vor einem Ausfall ihrer Autos in Mexiko haben, dann verstehe ich, dass das ein Risiko bedeutet. Aber ist das ein angemessenes Risiko im Vergleich dazu, überhaupt kein Rennen in Mexiko zu haben? Das war für mich kein Thema. Beim Fast-Charging (Schnelllade-Boxenstopps) haben wir uns die Frage gestellt, was der richtige Zeitpunkt für die Einführung wäre. Macht es Sinn, eine weitere Variable im Januar zu bringen, selbst wenn sie schon bereit gewesen wäre? Wir haben uns dagegen entschieden. Das ist ein bisschen wie mit den Sprint-Rennen in der Formel 1, die auch nur ein paar Mal im ersten Jahr nach der Austragung durchgeführt wurden.

Die spätere Einführung dieses 'Attack-Charge' bedeutet allerdings eine Regeländerung während der laufenden Saison. Einige Teams sind nicht allzu glücklich darüber. Kannst du das nachvollziehen?
Jamie Reigle: Wir hatten drei Möglichkeiten zur Auswahl: Entweder bringst du das System zum ersten Rennen, oder erst in der Saison 2024, oder aber bei ausgewählten Rennen in der kommenden Saison. Mexiko war keine Option, weil es neben den neuen Autos und den neuen Systemen noch eine weitere Variable gewesen wäre. Es hätte keinen Sinn gemacht, dieses Risiko einzugehen. Eine Verschiebung auf 2024? Die Technologie ist ja fertig, es war mehr eine Frage der Logistik. Wenn etwas bereit ist, dann sollte man es auch bringen. Es liegen unterschiedliche Konzepte auf dem Tisch, wie wir den Attack-Charge ins Rennwochenende einbinden können. Mir ist bewusst, dass das die Gleichung ändert, und ich bin sicher, dass es nach dem ersten Einsatz große Diskussionen geben wird. Ich will nicht sagen, dass wir es von Beginn an so geplant hatten. Aber jetzt haben wir eine Option und am Saisonende schauen wir dann, wie es mit dem Attack-Charge künftig weitergeht.

Neu in der Formel E ist auch die US-Stadt Portland im Rennkalender. Es wurde allerdings nicht eindeutig kommuniziert, ob das Rennen auf der permanenten und aus der IndyCar bekannten Rennstrecke stattfindet oder auf einem Stadtkurs. Also?
Jamie Reigle: Wir nutzen für das Rennen die Strecke, die man auch von den IndyCar-Rennen kennt.

Und wie kam es zu dieser durchaus überraschenden Entscheidung, erstmals ein Formel-E-Rennen in Portland, Oregon auszutragen?
Jamie Reigle: Die USA sind ein sehr wichtiger Markt für den Motorsport und die Formel E. Für die Saison 2023 war es nicht sicher, ob wir nach New York würden zurückkehren können. Wenn es möglich gewesen wäre, dann nur mit weniger Zuschauern und nicht mehr diesem Spektakel. Eine Alternative wäre gewesen, bis 2024 nicht in den USA zu fahren, aber das fühlte sich nicht richtig an. Portland stand schon länger auf der Liste, die Gespräche waren aber nicht weit vorangeschritten. Es gab auch Diskussionen mit Tampa und Toronto. Wir haben nach permanenten Rennstrecken in den USA geschaut, weil es praktisch unmöglich ist, kurzfristig eine Genehmigung für ein Stadtrennen zu erhalten.

Motorsport-Fans fordern schon lange mehr Formel-E-Rennen auf permanenten Kursen...
Jamie Reigle: In den Planungen für die Zukunft der nächsten Gen4-Ära fragen wir uns, was der richtige Mix an Rennstrecken für die Formel E ist. Natürlich wollen wir die DNA der Serie mit Rennen in den Städten bewahren. Aber jeder wird verstehen, dass wir nicht mehr nur auf Stadtkursen fahren werden, je performanter die Autos werden. Ich wünschte, es würde mehr Strecken wie in Mexiko-City geben - eine tolle Umgebung in einer globalen Stadt. Dann haben wir noch Monaco und die Formel 1 hat Stadtkurse wie Singapur oder Baku. Indy-Kurse bieten da eine weitere Alternative. Niemand würde behaupten, dass Portland wie Los Angeles, New York oder Chicago ist. Aber in Portland ist beispielsweise Nike beheimatet, das ist ein beliebter Ort für Unternehmer und die Rennstrecke ist nur zehn Minuten von der Stadt entfernt. Wenn ich das mit der Formel 1 vergleichen würde, dann könnte Portland so etwas wie das Austin der Formel E werden, während wir zusätzlich in anderen Städten wie New York fahren. Wir wünschen uns ja mehr als ein Rennen in den USA.