Seit mindestens zwei Jahren wird es intern diskutiert, jetzt ist es wohl amtlich: In der Formel E steht der Fanboost vor dem Aus. Mit dem Beginn der Gen3-Ära und den neuen Autos könnte Feierabend sein für den stets kontrovers diskutierten Zusatz-Boost, der die Elektro-Rennserie seit ihrem Seriendebüt im Jahr 2014 begleitete.

Bei einer Abstimmung sollen sich alle Teamvertreter gegen eine Fortführung des Fanboost-Systems entschieden haben, berichtet The Race. Offiziell ist das noch nicht, weil es bislang kein Sportliches Reglement für die Saison 2023, die am 14. Januar in Mexiko-City beginnt, gibt. Der Fanboost ist wie die noch nicht sichere Einführung von Schnelllade-Boxenstopps eine von zahlreichen Baustellen, die schnellstens geklärt werden müssen.

Foto: LAT Images
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Die Idee hinter dem Fanboost, die Fans per Abstimmungsmöglichkeit interaktiv in die Rennen einzubinden, war seit jeher ein gefundenes Fressen für Kritiker dieser im Motorsport einzigartigen Herangehensweise. Externe Stimmen ließen Formel-E-Gründer Alejandro Agag und Geschäftsführer Jamie Reigle für gewöhnlich ziemlich kalt, doch spätestens seit dem Puebla-Vorfall rund um Porsche in der Saison 2021 krachte es auch von innen heraus.

Fanboost in der Kritik: Der Puebla-Vorfall

Beim damaligen Rennen auf dem eher unbekannten mexikanischen Kurs verlor Porsche-Werksfahrer Pascal Wehrlein nachträglich den zweiten Platz wegen eines Regelverstoßes bei der Verwendung seines Fanboost: Der frühere DTM-Champion und Formel-1-Fahrer aktivierte die kurzzeitige Zusatzleistung erst in der letzten Rennrunde. Dumm nur, dass zu diesem späten Zeitpunkt im Rennen die Batterie in seinem Porsche nicht mehr die per Reglement definierte Mindestenergie von 240 kW erreichen konnte.

Was nur Insider wissen: Der Fanboost musste im Gegensatz zur anderen Überholhilfe, dem Attack Mode, in einem Rennen nicht zwingend genutzt werden. Wird er jedoch aktiviert, greift das Reglement: Die zusätzlich freigegebene Energie aus der Batterie beträgt 100 Kilojoule bei einer Mindestleistung von 240 kW sowie maximal 250 kW, wobei der Fahrer über die Dauer der Zusatzleistung frei entscheiden kann. Diese Mindestleistung war bei Wehrleins Batterie zur Zeit der Aktivierung nicht mehr vorhanden.

Ewige Formel-E-Statistik: Fanboost-Sieger (Top-10)

Pos. FahrerFanboostRennen gesamt
1Stoffel Vandoorne5555 seit 2018
2Antonio Felix da Costa5396 seit 2014
3Lucas di Grassi51100 seit 2014
4Sebastien Buemi4198 seit 2014
5Daniel Abt3769 seit 2014
6Nyck de Vries3242 seit 2019
7Jean-Eric Vergne2698 seit 2014
8Sam Bird1598 seit 2014
9Mitch Evans1079 seit 2016
10Nick Heidfeld844 seit 2014
10Nelson Piquet851 seit 2014

Fanboost: Relikt aus alten Formel-E-Zeiten

Wer das Regelbuch der Formel E nicht auswendig kennt, weiß natürlich nichts von alledem. In der Öffentlichkeit kam nur rüber: Wehrlein verlor einen Podestplatz, weil er den Fanboost genutzt hatte... Dieser Vorfall ereignete sich zu einem höchst unglücklichen Zeitpunkt, denn im Puebla-Rennen am Vortag hatte Wehrlein den ersten Sieg von Porsche in der Formel E nachträglich wegen falsch registrierter Reifen verloren. Serienboss Agag war stinksauer, wohlwissend um die Außenwirkung.

Es war eine Phase, in der faktisch mehr über Strafen und Regeln als über den Sport selbst berichtet wurde. Höchst unglücklich für eine Serie, die sich Werte wie Klimaschutz und Familienfreundlichkeit groß auf die Fahne schreibt. Mit der stetigen Professionalisierung und Kommerzialisierung wirkte der Fanboost wie ein Relikt aus alten Zeiten, in denen die Formel E als neue Rennserie um Aufmerksamkeit haschen musste und sich vom traditionellen Formelsport abgrenzen wollte.

"Unter Umständen machen wir mit dem Fanboost vielleicht nicht mehr weiter, sondern konzentrieren uns voll und ganz auf den Attack Mode", sagte Agag Mitte des Jahres 2021. "Wir wollen die Fans einfach nicht mit zu vielen verschiedenen Dingen verwirren." Später stimmte CEO Reigle mit ein: "Man muss darüber nachdenken, ob auch neue Zuschauer verstehen, was da vor sich geht." Für die Saison 2022 - die letzte mit den Gen2-Autos - überlebte der Fanboost im Reglement. Mit dem neuen Auto ab 2023 bietet sich eine passende Gelegenheit für die Abschaffung.

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Fanboost-Spitzenreiter Vandoorne: "Aus sportlicher Sicht nicht richtig"

Ein Fahrer dürfte zumindest in der Theorie nicht allzu glücklich sein über diese Entscheidung: Stoffel Vandoorne, amtierender Formel-E-Weltmeister und nach dem Ausstieg von Mercedes nun in Diensten der neu geschaffenen Team-Kollaboration DS Penske. Dem Belgier gelang es als einzigem Fahrer, in all seinen Rennen - 55 ePrix seit 2018 - in der Gunst der Fans vorne zu liegen und den Fanboost abzugreifen. Damit ist Vandoorne gleichzeitig Spitzenreiter in der ewigen Fanboost-Statistik, in der Antonio Felix da Costa (53 Fanboosts), Lucas di Grassi (51), Sebastien Buemi (41) und Daniel Abt (37) auf den Plätzen zwei bis fünf folgen.

"Ich bin da vielleicht nicht der beste Ansprechpartner", sagte Vandoorne während einer DS-Medienrunde mit einem Grinsen im Gesicht. "Manchmal half es mir, manchmal bedeutete es nicht so viel. Es war schön, eine Interaktion mit den Fans zu haben. Vielleicht war es aus sportlicher Sicht aber nicht richtig, einen Vorteil gegenüber dem Wettbewerb zu haben. Für die langfristige Sicht der Meisterschaft mit Blick auf die Professionalität gibt es sicherlich andere Wege, es für alle gleich zu machen."

Gleichzeitig wünschte sich Vandoorne auch in Zukunft einen direkten Austausch mit den Fans, "vielleicht so, dass es keinen massiven Einfluss auf den sportlichen Ablauf hat". Dabei - auch das ist nur den wenigsten Zuschauern bewusst - war der Fanboost meist nicht mehr als ein Zeitgewinnungs-Werkszeug mit überschaubarem Einfluss. Die Zusatzpower effektiv nur für wenige Sekunden sorgte nur in seltenen Fällen tatsächlich für ein Überholmanöver.

Fanboost, oder in der Szene auch genannt: VANboost..., Foto: Jaguar
Fanboost, oder in der Szene auch genannt: VANboost..., Foto: Jaguar

Fun Fact: Kein Fanboost-Einsatz beim ersten Formel-E-Rennen

Dass manche Fahrer den Boost nicht einmal nutzten, aus Sorge, das höchst aufwendig kalkulierte Energie-Management über Maß zu strapazieren, setzte dem Ganzen die Krone auf. Fun Fact: Beim allerersten Rennen der Formel E am 13. September 2014 im Olympiastadion von Peking verwendete keiner der drei Voting-Gewinner - Lucas di Grassi, Bruno Senna und Katherine Legge - den erhaltenen Fanboost, der damals eine 30-kW-Zusatzleistung für die Dauer von fünf Sekunden vorsah.

"Aus sportlicher Sicht wäre es gut, den Fanboost einzustellen", sagte Vandoorne. "Die Meisterschaft könnte aber eine andere Lösung finden, um die Fans auf eine Art zu inkludieren. Nichts mehr zu machen, ist auch keine Lösung." Übrigens gehörte selbst Vandoorne einmal zu den 'Verlierern' eines Fanboost-Gewinns: 2021 beim Saisonauftakt in Saudi-Arabien verlor er den Meisterschaftspunkt für die schnellste Rennrunde, weil er in diesem Umlauf seinen Fanboost gezündet hatte.

Denn: Laut dem Sportlichen Reglement wird die schnellste Rennrunde nicht angerechnet, wenn dabei der Fanboost genutzt wurde. Einen derartigen Fall hatte es in der Geschichte der Formel E seit der 2017 eingeführten Top-10-Punkteregelung für die schnellste Rennrunde unseres Wissens nach nie zuvor gegeben.

Foto: FIA Formula E
Foto: FIA Formula E

Abt: "Fahrer, die ein bisschen bescheißen"

Der Fanboost bot nicht nur Motorsport-Fans immer wieder Anlass zur Kritik, auch einige Fahrer waren in der Vergangenheit höchst skeptisch. Dazu zählte der frühere Audi-Werksfahrer Daniel Abt, der sich in den Anfangsjahren immer wieder ulkige Aktionen einfallen ließ, um Fans zu überzeugen, für ihn zu stimmen. 2018 platzte Abt dann der Kragen und er sprach öffentlich aus, was viele Insider vermuteten, sich aber nie belegen ließ: dass das Abstimmungs-System manipuliert sein könnte, etwa durch bezahlte Bots.

Abt damals in einem seiner YouTube-Videos, in denen er den Fans die Formel E näherbrachte: "Ich reiße mir den Arsch auf, um euch zu aktivieren. Und dann gibt es leider Fahrer, die dort ein bisschen bescheißen. Da ist definitiv was faul und auf einmal über Nacht kommen Fahrer aus dem Nichts heraus und kriegen mega viele Votes. Komischerweise sind die alle aus zwölf verschiedenen Städten in China. Also da haben die eine richtig geile Fanbase..."

Auf anhaltende Betrugs-Vorwürfe reagierte die Formel E mit Änderungen am Abstimmungssystem und dem Ablauf. Zuletzt konnten Fans ihre Stimme noch während des Rennstarts abgeben. Unter anderem holten die Serienverantwortlichen das unabhängige Unternehmen Telescope an Bord, um einen rechtmäßigen Ablauf zu gewährleisten. Telescope ist erfahren auf diesem Gebiet und betreut die Real-Time-Votings bei zahlreichen TV-Shows im US-amerikanischen Fernsehen.