Wenn die sonst so besonnene Susie Wolff die Verbal-Keule auspackt, muss mächtig Ärger in der Luft liegen. So geschehen beim vorletzten Rennwochenende der Formel-E-Saison 2022 in London. Die frühere DTM-Pilotin und heutige Geschäftsführerin beim monegassischen Rennstall Venturi ließ ihrem Unmut auf Twitter freien Lauf.

So schrieb die Ehefrau von Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff nach dem Samstagsrennen: "Die heutigen Entscheidungen lassen uns völlig sprachlos zurück. Ein unglaublicher Job von Lucas, im Rennen vom 22. auf den neunten Platz zu fahren. Wir geben diesen Titel nicht kampflos auf und lassen uns durch Ungerechtigkeit nicht aufhalten."

Was Susie Wolff derart ärgerte, war eine vorangegangene Strafe für Venturi-Pilot di Grassi im Qualifying am Mittag. Weil der Brasilianer zwei andere Fahrer während des Gruppen-Qualifyings auf der Strecke blockiert haben soll, wurden ihm alle Rundenzeiten gestrichen. Damit fiel di Grassi auf den letzten Startplatz zurück, statt das Rennen aus den Top-8 der Startaufstellung in Angriff zu nehmen.

Der Formel-E-Champion von 2017 war fuchsteufelswild und trat noch während des Qualifyings gegen die Tür der Venturi-Teamgarage. Wenig später wandte auch er sich via Twitter an die Öffentlichkeit: "Im Qualifying habe ich die absurdeste Strafe kassiert, die ich jemals in der Formel E gesehen habe. Alle Runden gestrichen, weil ich Evans 'blockiert' habe, der Purple in dem Abschnitt fährt, in dem ich ihn 'blockiert' habe, nur ein paar Tausendstel entfernt von der Bestzeit. Die Daten sind sehr, sehr eindeutig."

Früher Rennfahrerin und Teamchefin, heute CEO: Susie Wolff, Foto: LAT Images
Früher Rennfahrerin und Teamchefin, heute CEO: Susie Wolff, Foto: LAT Images

immerhin betrieb di Grassi Schadensbegrenzung auf hohem Niveau. Auf dem Kurs im Osten der britischen Hauptstadt, der in der Theorie nur wenige Überholmöglichkeiten bietet und auf dem angesichts des niedrigen Energie-Verbrauchs Prozessionsfahrten drohen, stürmte er mit mächtig Wut im Bauch vom letzten Startplatz bis in die Punkteränge auf P9 nach vorne. Ein Trostpflaster für die Venturi-Truppe, die zuvor hatte mitansehen müssen, wie Titelanwärter Edoardo Mortara nach einer Startkollision aus den Punkten fiel.

Ohnehin zählt jeder Punkt: In der Team-Wertung macht sich Venturi weiter Hoffnungen auf die erste Meisterschaft. Vor dem Sonntagsrennen in London (16:00 Uhr live bei ProSieben) belegt der Rennstall hinter Mercedes (264 Punkte) und DS Techeetah (234 Punkte) mit 230 Zählern den dritten Rang. Di Grassi: "Ich habe nie zuvor in meiner Karriere so hart für zwei Punkte gekämpft. Mein einziges Ziel ist jetzt, für Venturi die verdiente Meisterschaft zu holen."

Die von Wolff angesprochene "Ungerechtigkeit" wollte Venturi schon nach dem Qualifying so nicht stehen lassen und wandte sich mit einem Antrag auf Überprüfung an die Rennleitung. Dabei legten Teammanagerin Delphine Biscaye und Teamchef/Ex-Rennfahrer Jerome D'Ambrosio unter anderem Daten mit 'Mini-Schleifen' vor, die zeigen sollten, dass di Grassi den Jaguar-Piloten Mitch Evans nicht blockiert habe.

Die Rennleitung winkte nach Ansicht des Materials ab, die vorgelegten Elemente seien nicht relevant und signifikant genug, um die Entscheidung der aberkannten Rundenzeiten abzuerkennen. Di Grassi nach dem Rennen beim Medien-Gespräch: "Ich tat mein Bestes, um aus dem Weg zu fahren, obwohl das nicht in meiner Macht lag. In jedem Segment, in dem mich Fahrer überholten, schafften sie es, sich danach zu verbessern oder keine Zeit zu verlieren. Das ist hässlich!"

Di Grassi weiter mit einem direkten Appell an die FIA, die am Samstag in London so einiges über den Tag verteilt zu tun hatte - darunter die nachträgliche Zeitstrafe gegen Nyck de Vries, die den Weltmeister Stunden nach dem Rennende einen Podestplatz kostete - "Ich will nur, dass die Konstanz und die Abläufe besser und fairer werden. Für mich sind sie im Moment nicht fair."

Über di Grassis Vorgehen während des Qualifyings alles andere als begeistert war das Jaguar-Werksteam rund um Titelanwärter Mitch Evans. Der Neuseeländer kam in der Gruppe A nicht über den siebten Platz hinaus und musste das Rennen vom 14. Startplatz aufnehmen.

Jaguar-Teamchef James Barclay: "Sehr unglücklich. Lucas di Grassi hat Mitch in der Schikane blockiert, deshalb war sein erster Run nicht repräsentativ. Der Druck lag dann voll auf der zweiten schnellen Runde, weil wir wegen des Blockierens keine Zeit mehr hatten. Dann ist Mitch leider ein kleiner Fehler passiert. Das war frustrierend."

Auch hier ein kleines Trostpflaster aus Sicht des britischen Autobauers: Evans gewann durch de Vries' Strafe im Nachgang immerhin eine Position und wurde im Rennen als Fünfter direkt vor dem Mercedes-Weltmeister gewertet. In der Gesamtwertung belegt Evans bei noch drei ausstehenden Rennen den zweiten Platz mit 24 Punkten Rückstand auf Spitzenreiter Stoffel Vandoorne (Mercedes).