Ob genial oder unsportlich, musste jedermann für sich selbst entscheiden, doch die Boxengassen-Strategie rund um Audi und Lucas di Grassi beim Formel-E-Rennen in London 2021 war das riesengroße Diskussionsthema im Fahrerlager. An diesem Wochenende kehrt die Elektro-Rennserie zurück an den Ort des Geschehens, und di Grassi - inzwischen bei Venturi - hat jenen denkwürdigen 25. Juli 2021 noch längst nicht vergessen.

"Das werde ich nie vergessen und bin immer noch sauer!", sagte der Brasilianer am Rande des diesjährigen Rennwochenendes in der britischen Hauptstadt sogar zu Motorsport-Magazin.com. "Der Unterschied darin, dieses Rennen und die Meisterschaft nach Punkten zu gewinnen oder zu verlieren, bestand ja praktisch aus einer halben Sekunde, die ich länger vor der Box hätte stehen müssen!"

Es ist schon verrückt: Di Grassi hätte allein mit seiner Fahrt durch die Boxengasse beinahe das Sonntagsrennen auf dem temporären Kurs, der mitten durch eine Messehalle führt, gewonnen - und wäre rein rechnerisch heute sogar Formel-E-Weltmeister, wenn er die 25 Punkte für den Sieg hätte behalten dürfen.

Di Grassi überquerte die Ziellinie faktisch als Erster, kassierte allerdings eine nachträgliche Zeitstrafe und obendrein eine Disqualifikation, da er schwarze Flaggen missachtet hatte - weil ihn Audi schlichtweg nicht über sein Vergehen informierte und weiterfahren ließ. Die 'Selbstjustiz' kostete am Ende 50.000 Euro Strafe, wovon 45.000 zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Foto: Audi Communications Motorsport
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"Rückblickend war das ein fantastisches Beispiel dafür, einfach mal etwas anders zu machen und mit etwas total Interessantem um die Ecke zu kommen", nahm es di Grassi einigermaßen sportlich. "Übrigens wusste ich gar nicht, dass ich disqualifiziert werde. Mein Team hat mir während des Rennens nichts gesagt."

Und das nicht ohne Grund: Das inzwischen aus der Formel E ausgestiegene Audi-Werksteam war zunächst fest davon überzeugt, innerhalb des Reglements gehandelt und alles richtig gemacht zu haben. Fans der Elektro-Rennserie erinnern sich noch heute an den ungeheuren Sprint des damaligen Teamchefs Allan McNish in der Richtung der Rennleitung, um das drohende Übel in Form einer Strafe noch irgendwie abzuwenden. Der beherzte Einsatz des Schotten und der clevere Regel-Schachzug der Äbte wurden allerdings nicht belohnt.

Was war eigentlich passiert? Während der zweiten Safety-Car-Phase rief das Team den auf Platz acht fahrenden Brasilianer in die Boxengasse - angeblich, um ein Problem mit dem Reifendruck zu überprüfen, was sich später als Notlüge herausstellen sollte. Während alle anderen Piloten hinter dem Safety Car auf der Strecke blieben, nutzte di Grassi den schnelleren Weg durch die Boxengasse, machte dadurch Positionen gut und lag völlig überraschend auf dem zweiten Platz hinter Nyck de Vries' Mercedes.

Absolut kein Regelverstoß: Das Überholen über die Boxengasse war erlaubt und obendrein stand im Regelbuch geschrieben, dass der Ausgang der Boxengasse auch während einer Neutralisationsphase durchgehend geöffnet bleibt. Die einzige Bedingung: Stoppt ein Fahrer am Boxenplatz seines Teams, müssen Auto und Räder zum kompletten Stillstand kommen. Diese Vorgabe erwischte di Grassi schließlich bitterböse.

Foto: LAT Images
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Die FIA konnte anhand der Telemetrie-Daten - die liegen den Teams in der Formel E nicht in Echtzeit vor - nachweisen, dass sich di Grassis Hinterräder beim vermeintlichen Boxenstopp (Pflicht-Reifenwechsel gibt es nicht in der Formel E) noch ganz leicht bewegten, bevor er wieder losfuhr. Wohl auch eine Folge der Grip-Verhältnisse auf dem speziell präparierten Hallenboden in London. "Es war meine Schuld", räumte di Grassi ein, fügte aber an: "Bei einer normalen Stop-And-Go-Strafe hätte die Rennleitung bestimmt niemals so eine Strafe vergeben."

Laut aussprechen würde es niemand, aber: Insgeheim dürfte die FIA damals heilfroh gewesen sein, di Grassi bestrafen zu können, weil sich sein Rad noch einen Tick am Boxenplatz bewegte. Man stelle sich nur einmal den Aufschrei in der Motorsport-Szene vor, wenn der Audi-Pilot mit einer Fahrt durch die Boxengasse das Rennen tatsächlich gewonnen hätte! Und Skandale gab es in der vergangenen Saison ohnehin genug, man denke nur an das Energie-Debakel von Valencia oder die Fanboost-Strafe für Pascal Wehrlein in Mexiko...

Den Vorwurf der Unsportlichkeit für die Boxen-Aktion seitens einiger Fans und Fahrer weist Abt-Geschäftsführer Thomas Biermaier noch heute ausdrücklich zurück. "Das war keine unerlaubte Aktion", sagte er am Rande der verkündeten Motoren-Partnerschaft der Äbte mit Mahindra für das Formel-E-Comeback 2023 zu Motorsport-Magazin.com. "Wer Profi-Sport betreibt, der weiß, dass man alles versuchen muss, solange es im Bereich des Legalen liegt."

Der Boxengassen-Trick war übrigens keine spontan erkorene Idee, sondern eine von langer Hand vorbereitete Strategie, die aber nur eingesetzt werden konnte, wenn alle Parameter passen. So wie in London, als die findigen Abt-Ingenieure um Florian Modlinger (heutiger Porsche-Teamchef) oder Markus Michelberger (damals di Grassis Renningenieur, kehrt 2023 mit Abt in die Formel E zurück) im Vorfeld ausgerechnet hatten, dass der Weg durch die Boxengasse bei einer Safety-Car-Phase einen Vorteil bringen kann.

Das allerdings nur, wenn das Safety Car mit dem langjährigen Fahrer Bruno Correia langsamer unterwegs ist als 50 km/h - die erlaubte Höchstgeschwindigkeit in der Boxengasse. Den Äbten war schon drei Rennen vor London, in Monaco, aufgefallen, dass das Safety Car auf Start/Ziel relativ langsam fuhr. In London bot sich dann die Chance, den Plan in die Tat umzusetzen. Und der war mit einem gewissen Risiko behaftet, denn niemand konnte wissen, ob das Safety Car nicht spontan das Tempo anziehen würde. Das hätte di Grassi - der auf P8 und damit in den Punkterängen lag - das komplette Rennen kosten können.

Foto: Audi Communications Motorsport
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"Wenn das Safety Car so langsam fährt, dann ist das ja deren Problem, nicht unseres", fand di Grassi rückblickend. Die Möglichkeit eines solchen Boxenstopp-Clous hätten eigentlich alle Teams auf dem Schirm haben müssen, weil bereits beim Saisonfinale 2020 in Berlin ähnliche Fälle zu beobachten waren, als das Mahindra-Duo Jerome D'Ambrosio und Alex Lynn auf ähnliche Weise abkürzte. Damals allerdings während einer Full-Course-Yellow-Phase. Im Anschluss wurde das Reglement dahingehend angepasst, dass Fahrer beim Boxengassen-Besuch unter FCY mindestens zehn Sekunden lang am Boxenplatz halten müssen.

Für den Fall einer Safety-Car-Phase galt das allerdings nicht, wie den Äbten im Regelbuch aufgefallen war! Wenig überraschend reagierte die FIA zügig und schon beim nächsten Rennen in Berlin wurde per Bulletin angekündigt, dass der Boxenausgang mit einer roten Ampel geschlossen wird, solange das Safety Car über Start/Ziel (zwischen Safety-Car-Linie 1 und 2) fährt. Wer dann durch die Box fährt, fällt automatisch ans Ende des Feldes zurück.

Nach dem Disqualifikations-Hammer schlug di Grassi beim anschließenden Saisonfinale in Berlin-Tempelhof auf seine Weise zurück, gewann das Samstagsrennen und bescherte Audi damit den vorerst letzten Sieg in der Formel E. Am Sonntag verpasste er die inzwischen nicht mehr existente Superpole-Runde um eine Zehntelsekunde, musste von P17 starten und kam nach einer Durchfahrtstrafe - diesmal trat er sie auch wirklich an - nicht über den 20. Rang hinaus. Zwar kein zweiter Titelgewinn nach 2017, aber ein Ereignis, das di Grassi wohl nie vergessen wird.