Der erste Sieg von Porsche in der Formel E war nicht nur eine historische, sondern auch eine aus strategischer Sicht hochinteressante Angelegenheit. Dank der Überlegenheit von Debüt-Sieger Pascal Wehrlein und seinem zweitplatzierten Teamkollegen Andre Lotterer hätte der Mexiko-City ePrix 2022 für die Konkurrenz sogar zu einem Energie-Debakel ausarten können, das ein wenig an die Farce von Valencia 2021 erinnert hätte.

Nur ein Beispiel: Der erfahrene Jaguar-Pilot Mitch Evans benötigte ganze 1:55.766 Minuten für die 40. und letzte Rennrunde und war damit gut 45 Sekunden langsamer als Wehrlein (1:10.686) in seinem letzten Umlauf auf dem Autodromo Hermanos Rodriguez. Brutal knapp wurde es unter anderem auch bei Mahindra-Fahrer Oliver Rowland, der mit einer 1:28.939 über den Zielstich kroch.

Nur zwei Extrem-Beispiele, die bestens belegen, wie gut Porsche bei der Renn-Strategie lag - und wie andere Teams komplett danebengriffen und beinahe nicht die Zielflagge gesehen hätten. Im Rückspiegel ist der Clou einfach erklärt: Porsche war das einzige der Top-Teams, das von Beginn an eine Renndistanz von 40 Runden im Verlauf der 45 Minuten plus einer Runde antizipierte.

Formel E: Die Rennhighlights des Mexiko-City ePrix im Video (05:00 Min.)

Porsche-Konkurrenz schaltet zu spät

Teams wie Venturi mit Vize-Weltmeister Edoardo Mortara, der 20 Runden lang führte, oder auch DS Techeetah mit dem Drittplatzieren Jean-Eric Vergne ("Ein guter Call, meine Strategie von 39 auf 40 Runden zu ändern") erkannten zu spät, dass das Rennen eine Runde länger als von ihnen erwartet auf dem 2,606 Kilometer langen Kurs andauern würde.

"Als wir die Führung übernahmen (in Runde 8; d. Red.), war die Renndistanz grenzwertig", erklärte Mortara, der nach Platz fünf die WM-Tabelle weiter anführt. "Wegen der Pace fuhren wir eine Runde länger, deshalb geriet ich durch das Energie-Sparen unter Druck."

Porsche-Team bleibt trotz Rückfall cool

Bemerkenswert: Die Porsche-Mannschaft um den neuen Teamchef Florian Modlinger ließ sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als Wehrlein und Lotterer im ersten Renndrittel auf die Plätze drei und vier zurückfielen. Dabei hatten sich viele Zuschauer gewundert, dass die beiden Werkspiloten zu Beginn nicht gegen Mortara und Vergne ankämpften, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt ebenfalls im Attack-Mode mit 250 kW unterwegs waren.

Der Schlüssel zum Erfolg lag darin, konsequent ab der ersten Runde die Energie-Ziele so umzusetzen, damit die Distanz über 40 Runden führt. Angesichts der überlegenen Pace hätten Wehrlein und Lotterer wohl auch 39 Runden für den sicheren Doppelsieg gereicht, doch so brachten sie die Konkurrenz in arge Bedrängnis.

Und es war ultra-knapp: Wehrlein überquerte den Zielstrich ziemlich genau eine Sekunde vor dem Ablauf der Zeit. Wäre der frühere DTM-Champion und Formel-1-Fahrer nur wenige km/h langsamer gefahren, wäre das Rennen nach einer weiteren statt nach zwei zusätzlichen Runden abgewunken worden. Wehrlein: "Nachdem ich Mortara überholt hatte (in Runde 28; d. Red.), war das Ziel, die Pace zu erhöhen, damit wir an unsere 40-Runden-Strategie anknüpfen konnten."

Porsche siegt mit gigantischem Vorsprung

Wehrlein gelang es dank der klug eingeteilten Strategie, schon ab der 16. Runde Zeiten durchweg im 1:10er-Bereich zu fahren. Damit war der 27-Jährige sogar eine halbe Sekunde schneller pro Runde als in der Anfangsphase. Seine persönliche Bestzeit erzielte er erst im 35. Umlauf unter den Augen der knapp 30.000 Zuschauer im Foro-Sol-Stadion. Auch Lotterer fiel ab Runde 15 nicht mehr über die 1:10er-Rundenzeitmarke, während zahlreiche andere Piloten Gas rausnehmen mussten.

"Auch als sie anfangs zurückfielen, sind alle im Team ruhig geblieben", sagte Porsche-Leiter Modlinger, der seit Mexiko auch die Einsatzleitung der Rennen von Amiel Lindesay übernommen hat. "In der Schlussphase konnten sie sich dann über den Energievorteil, den sie sich erarbeitet haben, wieder nach vorne kämpfen und mit einem sehr großen Vorsprung diesen Doppelsieg einfahren." Gigantische neun Sekunden Vorsprung hatten Wehrlein und Lotterer auf den Drittplatzierten Vergne, Mortara lag auf P5 gar 18 Sekunden zurück.

Modlingers Mexiko-Coups

Aus seinen Jahren bei Abt Sportsline als Einsatzteam von Audi wusste Modlinger genau, dass es auf kaum einer anderen Rennstrecke derart auf das Energie-Management ankommt wie auf dem einzigen permanenten Kurs im Rennkalender. Ähnliche Coups gelangen Modlinger und Co. schon in der Vergangenheit, etwa, als der damalige Audi-Pilot Lucas di Grassi 2017 das Mexiko-Rennen vom 15. Platz aus gewann. Insgesamt viermal fuhr di Grassi während seiner Audi-Jahre von einem Startplatz außerhalb der Top-10 auf das Podium.

"Mit Blick auf die Strategie war das Rennen sehr herausfordernd zu navigieren, weil die Distanz so wechselhaft war", räumte di Grassis aktueller Teamchef bei Venturi, Jerome D'Ambrosio, ein. "In der zweiten Rennhälfte wurde klar, dass wir bei der Energie zurücklagen." In einer Analyse nach dem Rennende lässt sich der Verlauf relativ einfach erklären, doch während des Rennens erhalten die Teams erst zu einem bestimmten Zeitpunkt einen genauen Einblick in die Energie-Level der Konkurrenten.

"Wir wussten zunächst nicht, ob die anderen Autos eine bessere Pace hatten oder mit einem anderen Energie-Ziel unterwegs waren", bestätigte Wehrlein. "Ich glaubte an Zweiteres, aber das kannst du nie wissen, bis du dann die Energie der anderen Autos siehst. Ich wollte es einfach clever lösen und mich aus allem Ärger raushalten."

Lotterer erklärt: Zu Beginn angreifbar

Das schloss den zuvor abgesprochenen Verzicht auf einen offenen Zweikampf mit Teamkollege Lotterer ein, der beim Zieleinlauf sogar noch ein wenig mehr Rest-Energie in der Batterie mit ihren reglementieren 52 kWh hatte als Wehrlein. Lotterer: "Wir hatten von Beginn an die richtige Energie. Deshalb waren wir auch am Anfang etwas angreifbar, aber wir sind unseren Zielen gefolgt."

Vor dem Rennen konnten sich die Team-Strategen bei ihren Berechnungen nur teilweise auf Erkenntnisse aus der Vergangenheit stützen. Das letzte Rennen in Mexiko-City ging nur über 36 Runden und wurde zwischenzeitlich durch eine Safety-Car-Phase neutralisiert. Waren die Fahrer im Renn-Trim damals noch mit 200 kW unterwegs, können sie seit dieser Saison 220 kW Leistung abrufen.

Mercedes steckt im Verkehr und in di Grassi

Auch das Weltmeister-Team Mercedes hatte die 40 Runden gut antizipiert, doch Champion Nyck de Vries fiel früh in den hektischen Verkehr zurück mit Fahrern, die mit einem anderen Energie-Ziel unterwegs waren. Ein verpasster Attack-Mode kostete zusätzliche Zeit. Erst spät wurde der Niederländer belohnt, als er sich im Verlauf der letzten drei Runden vom zwölften bis auf den sechsten Platz - seine Startposition - verbesserte und weitere Punkte sammelte.

Teamkollege Stoffel Vandoorne wurde auf dem Weg in die Punkteränge von di Grassi abgeräumt, der wegen einer nachträglichen 5-Sekunden-Strafe den achten Platz verlor. "Wenn man von Autos auf anderen Strategien umgeben ist, steigt dadurch auch das Risiko eines Zwischenfalls und genau das hat Stoffel einen möglichen fünften Platz gekostet, als er auf der vorletzten Runde umgedreht wurde", sagte Mercedes-Teamchef Ian James.