Da wurden Erinnerungen an Michael Schumachers Boxenstopp-Sieg beim Großen Preis von Großbritannien 1998 wach, als nun Lucas di Grassi wie aus dem Nichts durch einen extrem cleveren Trick der Audi-Mannschaft beinahe das Formel-E-Rennen in London gewonnen hätte.
In der britischen Hauptstadt hatten die Rennkommissare allerdings 'Glück', dass der Coup um Hundertstelsekunden nicht aufging und di Grassi eine Durchfahrtsstrafe anstelle des unverblümten Sieges kassierte. Grund: Seine Hinterräder sollen sich beim Boxenstopp-Besuch noch ganz leicht bewegt haben, wodurch der frühere Formel-E-Champion am Boxenplatz nicht gänzlich zum Stillstand gelangte wie es das Reglement vorgibt.
Wer erinnert sich noch? Nach Schumis und Ferraris Silverstone-Trick, als die Formel-1-Legende eine verhängte 10-Sekunden-Stop-and-Go-Strafe einfach in der letzten Runde an der Box absaß, die sich faktisch hinter der Ziellinie befand, und damit das Rennen gewann, gaben die Rennkommissare anschließend kollektiv und blamiert ihre Lizenzen zurück!
Formel E muss wirre Regel anpassen
Außerdem wurden die F1-Regeln im Anschluss angepasst. Das blüht nun auch der Formel E, die sowieso einige Stellen in ihrem Sportlichen Reglement überarbeiten sollte. Seit London ist die Liste um einen Punkt länger geworden.
Wie kann es sein, dass laut Sportlichem Reglement im Falle einer Full-Course-Yellow-Phase (Artikel 39.2) die Boxengasse zwar geöffnet ist, ein Auto aber für mindestens 10 Sekunden am Boxenplatz anhalten muss, während bei einer Safety-Car-Phase (Artikel 38.11) wie in di Grassis konkretem Fall das Auto einfach nur ohne jegliche Zeitvorgabe stoppen muss?!
Moralisch verwerflich? Grauzone ausgenutzt!
Viele Zuschauer werfen Audi jetzt ein moralisches Vergehen vor, weil das Team eine Neutralisationsphase faktisch für einen Positionsgewinn - in diesem Fall sogar acht Plätze, zur Verwunderung der Audianer selbst - 'missbrauchte'. Als ob man mit "Moral" im Motorsport jemals auch nur einen Blumentopf gewonnen hätte. Die 'Grauzonen' sind in Wahrheit seit jeher Teil des Spiels.
Zahlreiche Motorsport-Experten argumentieren deshalb: ein genialer Trick, den Audi und auch andere Teams schon vor dem Rennen einkalkuliert hatten und der nur hätte aufgehen können, weil die Boxengasse auf dem neuen Kurs in London ziemlich kurz angelegt war und das Safety Car in diesem Fall langsamer über den Asphalt schlich als die in der Boxengasse vorgegebenen 50 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Die Möglichkeit des Boxenstopp-Clous hätten eigentlich alle Teams auf dem Schirm haben müssen, weil beim Saisonfinale 2020 in Berlin ähnliche Fälle zu beobachten waren. Damals allerdings unter Full Course Yellow, woraufhin der Passus im Reglement durch das besagte '10-Sekunden-Anhalten' ergänzt wurde. Jedoch, wie sich jetzt eindrucksvoll zeigte, wieder einmal nicht konsequent genug und eben nicht für Safety-Car-Phasen geltend.
Strafe nicht wegen Boxenstopp-Trick
Dass Audi diese Regellücke kannte und ausnutzte, kann ihnen doch nicht wirklich zum Vorwurf gemacht werden. Schließlich verstieß die Truppe nicht gegen das geltende Reglement. Die schwarze Flagge und später 50.000 Euro Strafe auf Bewährung hagelte es nur, weil das Team di Grassi nicht über die verhängte Durchfahrtstrafe informierte, weil sie zunächst auf ihre Meinung pochten, alles richtig gemacht zu haben. Das kostete neben Geld auch Platz acht für den nachträglich disqualifizierten Brasilianer.
Schlimmer ist es, wenn - da stach zuletzt ein anderer deutscher Hersteller besonders hervor - Teams oder Fahrer in einer FIA-Weltmeisterschaft das Reglement schlichtweg nicht kennen und deshalb Siege und Podestplätze wegwerfen...
Dass gerade die temporären Kurse der Formel E zu gewissen Regel-Kniffen einladen, hätte man schon seit Hongkong 2017 wissen können, als der heutige Jaguar-Pilot Sam Bird das Rennen trotz einer absolvierten Durchfahrtsstrafe gewann, weil die Boxengasse deutlich kürzer konstruiert war als die Strecke an dieser Stelle und er dadurch quasi kaum Zeit verlor.
Regel-Wirrwarr schadet Formel E
Das eigentliche Problem an der ganzen London-Chose und vielen weiteren Fällen in der laufenden Saison: Ohne Regelbuch im Anschlag kann der Zuschauer die Abläufe und von außen betrachtet teilweise kurios anmutenden - und leider viel zu häufig nachträglichen - Strafen überhaupt nicht nachvollziehen. Ob gerecht oder nicht, spielt dann kaum noch eine Rolle.
Beim derzeitigen Regel-Wirrwarr droht der in vielen Bereichen durchaus innovativen Formel E die Nachvollziehbarkeit verloren zu gehen. Und das kann sich eine vergleichsweise junge Rennserie überhaupt nicht leisten. Denn was der Zuschauer nicht versteht, will der Zuschauer nicht sehen.
diese Formel E Redaktion