Die Formel E erlebt nach elf von 15 Saisonrennen die engste Meisterschaft ihrer bisherigen Geschichte. Ein passendes Beispiel für die völlige Unvorhersehbarkeit des Weltmeisterschaftsverlaufs 2021: Nach den nächsten beiden Rennen in London (24./25. Juli 2021) haben in der Theorie 18 der 24 Fahrer die Möglichkeit, die Führung in der Gesamtwertung zu übernehmen! Wirklich niemand glaubt daran, dass der Titelkampf vor dem allerletzten Saisonrennen in Berlin (14./15. August 2021) entschieden wird.

Nach dem vergangenen Rennwochenende in New York führt Formel-E-Pionier Sam Bird (Jaguar) die Tabelle mit gerade einmal 81 Punkten an - nie zuvor hatte der Spitzenreiter zu einem vergleichbaren Zeitpunkt in der Saison weniger Zähler auf dem Konto. Bird und den Gesamtzehnten Nyck de Vries (Mercedes, nur 2 Punkte aus den letzten sechs Rennen) trennen gerade einmal 22 Punkte und damit weniger als ein Rennsieg, der wie in der Formel 1 mit 25 Zählern dotiert ist.

Die marginalen Abstände liegen im zur Saison 5 (2018/19) veränderten Qualifying begründet, das stets die bestplatzierten Fahrer in der Meisterschaft benachteiligt. Zuvor wurden die Piloten per Lotterie in die einzelnen Gruppen aufgeteilt. Seit 2018/19 werden die Qualifying-Gruppen nach dem Meisterschaftsstand eingeteilt, wobei die Piloten in der Gruppe 1 häufig den geringsten Grip und damit die schlechtesten Streckenbedingungen auf den meist temporären Stadtkursen vorfinden.

Was ursprünglich der Spannung im Titelkampf dienen sollte, hat nun eine neue 'Lotterie' ausgelöst, da ein Großteil der Teams mit seinen Gen2-Autos mittlerweile auf einem sehr ähnlichen Niveau performt. Zwei Belege: In den bisherigen elf Saisonrennen gab es neun unterschiedliche Sieger aus sechs verschiedenen Teams und 19 Fahrer, die es mindestens einmal aufs Podium geschafft haben.

Formel E 2021: Alle bisherigen Sieger

FahrerTeamSiege
Nyck de VriesMercedes2
Sam BirdJaguar2
Jean-Eric VergneTecheetah1
Stoffel VandoorneMercedes1
Jake DennisBMW1
Antonio Felix da CostaTecheetah1
Lucas di GrassiAudi1
Edoardo MortaraVenturi1
Maximilian GüntherBMW1

Qualifying vor Änderung in der Formel E

Dass sich mehr als die Hälfte des Fahrerfeldes berechtigte Chancen auf die Weltmeisterschaft ausrechnen kann und das Qualifying zum Gesprächsthema Nummer 1 an fast jedem Wochenende avanciert ist, geht mittlerweile sogar Formel-E-Boss Alejandro Agag zu weit. Nach Informationen von Motorsport-Magazin.com genießt die Anpassung des Qualifying-Formats für die kommende Saison 2022 aus sportlicher Sicht eine sehr hohe Priorität.

"Es könnte ein Thema sein, das Qualifying für die nächste Saison zu verändern", bestätigte Formel-E-Gründer Agag beim Exklusiv-Interview mit Motorsport-Magazin.com in New York. "Aktuell ist es sehr unvorhersehbar. Das ist an sich gut, aber vielleicht müssen wir darüber nachdenken."

FIA-Präsident Todt: Manchmal nicht klar genug

Die Sorge der Verantwortlichen von Formel E und FIA besteht darin, dass der im Sport wichtige Spannungsbogen rund um einen Titelkampf verloren geht und die Rennen von Diskussionen und Fahrer-Ärger über das Qualifying überschattet werden. Diesen Punkt hat die erste Elektro-Rennserie der Geschichte nach Meinung von Szene-Kennern längst erreicht.

Auch für Jean Todt scheint es inzwischen etwas zu viel des Guten zu sein. "Es muss verständlich sein", sagte der scheidende FIA-Präsident in New York während einer kleinen Medienrunde, bei der auch Motorsport-Magazin.com am Tisch saß. "Manchmal ist es nicht klar genug, warum es vom einen zum anderen Rennen so große Unterschiede gibt, obwohl es die gleichen Fahrer, Strecken und Reifen sind."

Formel E 2021: Samstag vorne, Sonntag hinten

Als Beispiele zog Todt Samstagssieger Maximilian Günther (BMW) und Podestfahrer Jean-Eric Vergne (Techeetah) heran, die am darauffolgenden Sonntag aus den letzten Reihen ins zweite Rennen des Wochenendes starten mussten. Zwar wurden beide Fahrer in New York durch Regen (Günther) oder die Technik (Vergne) benachteiligt, doch im Prinzip brachte Todt das Problem auf den Punkt.

So gelang es am Wochenende mit Mitch Evans (Jaguar) nur einem einzigen Fahrer aus Qualifying-Gruppe 1 das seltene Kunststück, ins Superpole-Shootout der Top-6 einzuziehen. Die vermeintlichen Titelfavoriten müssen diese Saison in der Regel im Nirgendwo des Mittelfeldes starten, sich möglichst aus den vielen Zwischenfällen heraushalten und im besten Fall ein paar Punkte mitnehmen.

Formel E: Meisterschaft nach 11/15 Rennen (Top-10)

Pos.FahrerTeamPunkte
1Sam BirdJaguar81
2Antonio Felix da CostaTecheetah76
3Robin FrijnsVirgin76
4Edoardo MortaraVenturi72
5Nick CassidyVirgin70
6Jean-Eric VergneTecheetah68
7Rene RastAudi61
8Mitch EvansJaguar60
9Pascal WehrleinPorsche60
10Nyck de VriesMercedes59

Rast: Quali-Gruppe 1 ist zum Brechen

Als ein "willkürliches Glücksspiel" bezeichnete jüngst Rene Rast das Qualifying-Format. Der Audi-Pilot belegt aktuell den siebten Platz in der Meisterschaft (dadurch Quali-Gruppe 2 in London) bei einem Rückstand von 20 Punkten auf Spitzenreiter Bird. Rast musste wegen seiner bisher guten Platzierungen in der Meisterschaft fünfmal in der gefürchteten Gruppe 1 antreten und startete danach nur einmal aus den Top-10 der Startaufstellung. Anderen Fahrern erging es ähnlich.

Rast stellvertretend für einige Fahrer-Kollegen: "Das ist frustrierend. Die Meisterschaft wird dadurch entschieden, wer in einer guten Quali-Gruppe ist. Die Gruppe 1 bedeutet immer einen Riesen-Nachteil und ist wirklich zum... Brechen."

Welches Format ab der kommenden Saison eine Verbesserung bedeuteten könnte, steht noch nicht fest. Aufgrund der meist kurzen Streckenlängen setzte die Formel E von Beginn auf ein aufgeteiltes Qualifying, um zu starkem Verkehr auf der Strecke vorzubeugen - nichts Neues im Motorsport. Die reine Gruppen-Lotterie aus der Vergangenheit soll jedenfalls nicht mehr reaktiviert werden.

Tabellenstand als Strategie-Tool

Audi-Werksfahrer Lucas di Grassi meinte, dass es aufgrund des aktuellen Formats schlichtweg unmöglich sei, wie in anderen Rennserien mehrfach hintereinander aufs Podest zu fahren. Das stimmt: Nur vier der bisherigen 19 Podestfahrer standen mehr als zweimal auf dem Podium (Evans, Mortara, Bird, Felix da Costa jeweils dreimal).

"Ich mag das Gruppen-Qualifying nicht", sagte der frühere Formel-E-Champion di Grassi. "Selbst wenn du eine Herangehensweise willst, bei der die Führenden schlechtere Streckenbedingungen haben, würde ich ein Runde-für-Runde-Qualifying statt der Gruppen bevorzugen. Oder ein Format mit Q1 bis Q3 oder auch ein Quali-Rennen. Die aktuelle Situation sorgt für einen unnötig großen Vorteil zwischen den Plätzen sieben und sechs sowie 13 und zwölf (P7 gleich Gruppe 2 statt 1, P13 gleich Gruppe 3 statt 2; d. Red.)."

Teams haben längst angefangen, den Stand in der Meisterschaft in ihren Renn-Strategien zu berücksichtigen. So tauschten in New York etwa die Nissan-Teamkollegen Sebastien Buemi und Oliver Rowland die Positionen, um eine bessere Ausgangssituation für das nächste Qualifying zu schaffen. Ein Plan, der wegen zahlreicher im Nachgang ausgesprochenen Strafen und daraus resultierenden Ergebnis-Verschiebungen in der Formel E allerdings auch schnell nach hinten losgehen kann...