"Juhuuu!" Die Begeisterung in Sebastian Vettels Boxenfunk ist groß. "Wir haben es geschafft, Jungs. Fantastisch. Danke, das ist unser Tag, das ist unser Tag." Zum vierten Mal in seiner Karriere, zum dritten Mal in dieser Saison darf Vettel nach der Zieldurchfahrt einen Siegesschrei in alle Welt entsenden. "Das kommt einfach raus, wenn du über die Linie fährst und weißt, alles ist geschafft", erklärt er den Emotionsausbruch. "Dann fällt der Druck ab und man lässt es raus."

Zwei Rennen vor dem Saisonende steht Vettel im WM-Kampf nicht mehr unter Druck. Als WM-Dritter mit 16 Punkten Rückstand sind seine Chancen eher theoretischer Natur. Er kann mit freiem Kopf attackieren. Jenson Button und Rubens Barrichello kämpfen mit 14 Punkten Abstand eher um den Titel, wobei auch hier der Brasilianer auf Probleme bei seinem Teamkollegen hoffen muss, was zuletzt allerdings an der Tagesordnung zu stehen schien. Entschieden ist die Formel 1 WM 2009 also noch nicht.

Vettel: Hoffen auf den Iceman-Tag

Als Kimi Räikkönen am Morgen des 21. Oktober 2007 aufwachte, erwartete er ein Rennen wie jedes andere. Einige Leute prophezeiten ihm einen Sieg, die Chance auf das Wunder, den Gewinn des WM-Titels, trotz sieben WM-Zählern Rückstand vor dem letzten Rennen, doch er nahm sie nicht ernst. Dafür mussten so viele Dinge passieren, so viele Dinge, die weder in seiner Hand, noch in der seines Teams lagen. "Aber dann geschah all das in der ersten Runde", sagte er damals.

In nur zwei Rennen holte Räikkönen 17 Punkte Rückstand auf und überflügelte die eigentlichen Titelfavoriten Fernando Alonso und Lewis Hamilton. Auf eine Wiederholung dieses Wunders hoffen Sebastian Vettel und Red Bull. "Es sind noch zwei Rennen, der Abstand ist geringer", sagt Vettel. "Wir haben das gesamte Jahr nicht aufgegeben, warum sollten wir es jetzt tun?"

Das Beispiel Räikkönen hat gezeigt, dass es unter gewissen Umständen möglich ist. "Wer Kimi kennt, weiß, dass er nicht viel nachdenkt und Gas gibt - genau das brauchen wir jetzt", gibt Vettel die Devise für die letzten Rennen vor: Volle Attacke. Die Strecken könnten Red Bull entgegen kommen. "Wenn man die letzten beiden Rennen ansieht, könnten die Strecken nicht unterschiedlicher sein. Trotzdem waren wir beide Male sehr konkurrenzfähig. Also sollte es auch in Brasilien passen."

Kimi Räikkönen schaffte 2007 das Wunder von Sao Paulo., Foto: Sutton
Kimi Räikkönen schaffte 2007 das Wunder von Sao Paulo., Foto: Sutton

Das bestätigt Christian Horner: "In diesem Jahr wechselt die Form von Rennen zu Rennen, aber in den letzten beiden Rennen waren wir sehr stark. Hoffentlich können wir das nach Brasilien mitnehmen." Red Bull Motorsportdirektor Helmut Marko fürchtet die Relevanz der Motorleistung in Brasilien. "Es gibt eine lange Gerade. Die Kurve davor ist nicht allzu schnell, wenn sie schneller wäre, hätten wir die Chance, mit unserem Auto da was herauszufahren. Da ist natürlich Motorleistung sehr gefragt." Bei den Motoren ist Brawn-Partner Mercedes aber Red Bull Partner Renault überlegen.

Dennoch gibt Marko den Titel noch nicht auf. "Wir geben nicht auf, so lange die theoretische Chance besteht. Und die haben wir noch", sagt er. Dabei ist ihm klar, dass 16 Punkte nicht ausreichen, Vettel muss 17 Punkte mehr holen, weil Button mehr Siege eingefahren hat. Ein Punktegleichstand würde den Briten als Weltmeister sehen. Marko hält es dennoch nicht für unmöglich: "So wie Button derzeit fährt..."

Teamchef Christian Horner hat eine etwas realistischere Herangehensweise. "Button muss sich anstrengen, um auch 17 Punkte zu verlieren", gesteht er. Ans Aufgeben denkt er trotzdem nicht. "Unser Fokus liegt darauf, 20 Punkte zu holen, also beide Rennen zu gewinnen. Brawn hat Druck, wir müssen allerdings einiges wettmachen, die Aussichten sind aber gut."

Das bestätigen auch Experten außerhalb des Teams. "In der WM ist immer noch alles möglich", meint BMW Sauber Technikchef Willy Rampf. Brawn sei schnell, aber nicht dominant. Kimi Räikkönen hält auch Red Bull für verdammt schnell. "Das haben sie über das Jahr bewiesen, während die Brawns zu Saisonbeginn stärker waren als jetzt. Sie dürfen sich jetzt keinen Fehler mehr erlauben, denn die Chance ist für Vettel immer noch vorhanden." Diese Situation kennt Räikkönen aus eigener Erfahrung.

Button & Barrichello: Kampf mit dem Teamkollegen

Jenson Button sah eigentlich schon wie der sichere Weltmeister aus. Nach sechs Siegen aus sieben Rennen schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis er den WM-Titel gewinnen würde. "Wir bringen uns selbst immer wieder in knifflige Situationen", räumt Button ein, "aber wir ziehen uns im Rennen auch wieder heraus." So geschehen bei den letzten zwei Rennen in Singapur und Suzuka, wo Button und Rubens Barrichello sich aus dem Mittelfeld nach vorne arbeiten mussten. "Hoffentlich müssen wir uns in Brasilien nicht von hinten nach vorne kämpfen, sondern können direkt an der Spitze starten."

Jenson Button hat den Titel noch nicht sicher., Foto: Sutton
Jenson Button hat den Titel noch nicht sicher., Foto: Sutton

Christian Danner hat daran so seine Zweifel. "Konstrukteursweltmeister sind sie quasi schon." Denn Brawn GP fehlt nur noch ein halber Punkt zum Titelgewinn. "Aber bei Button läuft es nicht mehr. Brawn hatte im ersten Saisondrittel das überlegene Auto, was er brutal ausgenutzt hat. Seitdem ist es eine Zitterpartie. Glanz und Gloria sieht anders aus." Einen überlegenen Titelgewinn wird er selbst mit zwei Siegen in den letzten Rennen nicht mehr feiern können. Dafür ist der Beigeschmack zwischen der Türkei und Suzuka zu fad.

Und dann besteht ja immer noch die Gefahr des Wunders von Sao Paulo: "Wir alle erinnern uns an die beiden Schreckrennen, wo Lewis Hamilton 17 Punkte Vorsprung verloren hat", spielt Alexander Wurz auf die Saison 2007 an. "Wir kommen jetzt nach Brasilien, das Heim-Rennen von Barrichello und vergleichbar mit einem kochenden Fußballstadion für Barrichello. Das beflügelt ihn mit Sicherheit." Entsprechend möchte Wurz nicht ausschließen, dass der Brasilianer vor dem Saisonfinale in Abu Dhabi noch einmal näher an Button herankommt. "Auch Vettel kommt übermotiviert aus Japan zurück. Der Druck liegt eindeutig auf Button."

Der wiegelt aber weiter ab. "Was auch immer in Brasilien geschieht, ich werde vier Punkte Vorsprung haben", versucht er vorzubeugen. "Jetzt muss mich Rubens um sieben statt um fünf Punkte pro Rennen schlagen. Das ist keine schlechte Position." Einfach wird es aber nicht, diese zu verteidigen, dessen ist sich Button bewusst: "Sebastian ist schnell und der Red Bull scheint sehr schnell zu sein. Sie sind schnell in Highspeed-Kurven und sie haben in Singapur gezeigt, dass sie auch in langsamen Kurven schnell sind. Sie werden schwer zu schlagen sein. Auch Rubens ist dort immer schnell - es wird eine Herausforderung, aber auch viel Spaß."

Das Räikkönen-Szenario ist natürlich auch Button bewusst. "Sie hatten damals ein sehr schnelles Auto und aus irgendeinem Grund konnten sie die Rennen nicht beenden", erinnert er sich. "Man muss die Rennen beenden und punkten. Wir möchten das bestmögliche Ergebnis holen, was der Sieg ist, aber es geht darum, keine Fehler zu machen. Das ist das Wichtigste." Erst danach wird sich zeigen, wer bei der Zieldurchfahrt in Abu Dhabi einen Jubelschrei loslassen darf.