Fragt man einen jungen Rennfahrer nach seinem ersten Formel-1-Test nach den Besonderheiten der Königsklasse, kommt fast immer dieselbe Antwort: Die Bremsen! Rund 1.000 Pferdestärken und Unmengen an Abtrieb sind ebenfalls beeindruckend, aber die Piloten werden über ihre Laufbahn hinweg langsam an diese Werte herangeführt. Bei den Bremsen kommt keine Nachwuchsserie der Welt auch nur ansatzweise an das heran, was die Piloten später in der Formel 1 erwartet. Dafür gibt es mehrere Gründe, Verzögerungswerte von bis zu 6 G sind die Summe vieler beeindruckender Faktoren.
Mit 798 Kilogramm sind die Autos heute schwerer denn je, aber verglichen mit anderen Boliden in ähnlichen Leistungsregionen noch immer superleicht. Dazu kommt der immense Abtrieb, den ein Formel-1-Auto generiert. Vor allem bei harten Bremsmanövern fühlt sich die initiale Verzögerung schlichtweg brutal an. Durch den Abtrieb können nicht nur irre Kurvengeschwindigkeiten in Highspeed-Passagen erreicht werden. "Beim Bremsen kann man dadurch extrem viel Drehmoment auf die Straße bringen", erklärt Andrea Algeri, der sich für den italienischen Bremsenhersteller Brembo um die ganz speziellen Kunden kümmert - die Formel-1-Teams. Hätte ein Formel-1-Auto nicht so viel Abtrieb, würde die beste Bremsanlage nichts nützen. Was in den Kurven rutschen bedeutet, bedeutet beim Anbremsen blockierende Räder.
Nur durch den aerodynamischen Anpressdruck kann der extreme Reibwert der Karbon-Karbon-Bremsanlage auch ausgenutzt werden. Zwischen Bremsscheibe und Bremsbelägen liegt dieser zwischen 0,7 und 0,9. Im Vergleich dazu: Bei normalen Straßen-PKWs beträgt der Reibwert zwischen Scheibe und Belägen rund 0,4. Daran hat sich auch durch die Regel-Revolution 2022 nichts geändert. An anderen Dingen hingegen sehr wohl. Durch die neue Aerodynamik hat sich der Abtrieb mehr auf die Hinterachse verlagert. Entsprechend hat sich auch die Bremsbalance nach hinten verschoben, weil dort nun mehr Drehmoment übertragen werden kann.
Das Reglement erlaubte an der Hinterachse auch in der Vergangenheit schon einen maximalen Durchmesser von 278 Millimeter für die Bremsscheiben. Durch die dynamische Radlastverteilung beim Bremsvorgang sind die Hinterradbremsen aber per se nicht so stark gefordert wie ihr Pendant an der Vorderachse. Zusätzlich wird an der Hinterachse Energie rekuperiert. Seit es 2014 die Turbo-Hybridmotoren gibt, dürfen pro Runde vier Megajoule von der MGU-K rekuperiert werden.
Zum Vergleich: Das entspricht in etwa der Energie, die beim Anbremsen aus über 350 Stundenkilometer auf die erste Schikane in Monza umgewandelt wird. Die MGU-K federt über die Runde verteilt so etwa einen kompletten Bremsvorgang ab. Energie, die nicht von den Bremsen aufgenommen werden muss. Deshalb nutzten die Teams die maximal zulässigen Dimensionen zuletzt gar nicht aus. "Sie hatten dadurch Vorteile beim Packaging und beim Gewicht", erklärt Algeri.
Technisch macht es deshalb Sinn, dass die hinteren Bremsscheiben 2022 gewachsen sind. Das Reglement spricht übrigens nicht mehr ausschließlich von einem maximalen Durchmesser, sondern auch von einem Minimum. Weil der Korridor nur 5 Millimeter beträgt, sind die Dimensionen praktisch vorgeschrieben. So auch an der Vorderachse. Dort hat sich mit der neuen Ära aber mehr geändert. Durch den Umstieg von 13- auf 18-Zoll-Felgen ist nun deutlich mehr Bauraum für die Bremsanlage vorhanden. Der ist auch nötig, weil das Gewicht um gut 50 Kilogramm anstieg. Die Bremsscheiben wuchsen deshalb von 278 Millimeter auf 325 bis 330 Millimeter. Die Karbon-Scheiben funktionieren zwar erst ab 350 Grad Celsius und behalten ihre Eigenschaften bis 1.000 Grad Celsius, trotzdem muss die Bremsanlage gekühlt werden.
Die Bremsen eines Formel-1-Autos zu kühlen, war nie ein triviales Unterfangen, weil die Aerodynamik möglichst wenig darunter leiden soll. 2022 ist es noch etwas komplizierter, weil die Teams die heiße Luft nicht mehr durch die Felge nach außen leiten dürfen. Die Radkappen machen es unmöglich, Luft nach außen zu schicken. "Die Luft kommt jetzt von innen und wird innen auch wieder abgeleitet. Die Innenseite zu kühlen, ist nicht das Problem, aber an der Außenseite ist es jetzt schwieriger", erklärt Algeri. "Der Pfad, den die Luft nehmen muss, ist komplizierter, die Effizienz der Bremsbelüftung schlechter."
Brembo gibt seinen Kunden für jedes Bauteil spezifische Rahmenbedingungen. Der Bremssattel darf zum Beispiel nicht heißer als 210 Grad werden. Die Aufgabe der Teams ist es schließlich, die Bremskühlung sicherzustellen. Vor allem McLaren kämpfte zu Beginn der Saison mit den Neuerungen. Zwischenzeitlich musste man sich mit Metallschächten abmühen. Normalerweise sind die Bremsbelüftungen komplett aus Karbon. Weil die einzelnen Teile nicht perfekt sitzen, müssen sie sogar mit Metall-Tape abgedichtet werden. Die Luftführung innerhalb des Rades ist so komplex und wichtig wie die Aerodynamik von Flügel und Flaps.
Gleichzeitig wurde in dieser Saison der Bohrdurchmesser für die Löcher in der Bremsscheibe limitiert. Mindestens drei Millimeter muss der Durchmesser einer Bohrung betragen. In den letzten Jahren experimentierte Brembo schon mit Bohrdurchmessern von 1,8 Millimeter. Man stellte allerdings fest, dass diese extreme Form der Oberflächenvergrößerung nur noch bedingt Vorteile brachte. Die Luft hatte Schwierigkeiten, ihren Weg in die immer kleiner werdenden Öffnungen zu finden. Deshalb bohrte man in der Regel mit etwa 2,5 Millimetern in die Bremsscheibe. So kam man auf die stolze Zahl von rund 1.500 Löchern pro Bremsscheibe. Durch das neu eingeführte Limit gibt es nur noch zwischen 1.000 und 1.050 Löcher. Zwischen den einzelnen Mini-Bohrungen muss ein Mindestabstand gewahrt werden, um die strukturelle Integrität der Scheibe nicht zu beeinflussen.
Als wäre die technische Herausforderung noch nicht genug, kommt noch eine zusätzliche Dimension hinzu: Die Budgetobergrenze. "Die Teams haben nach einem Material gefragt, das mindestens zwei Events hält", verrät Algeri. Eigentlich hätten die Bremsen 2022 sogenannte Restricted Number Components, kurz RNC werden sollen. Dann hätte es für die gesamte Saison nur eine bestimmte Anzahl an Bremsbelägen und Bremsscheiben gegeben. Außerdem sollte Brembo Alleinausrüster für das Bremsmaterial werden. Beide Vorhaben scheiterten. Einerseits wollte man den technischen Fortschritt nicht bremsen, den ein Alleinausrüster mit sich bringen würde.
Andererseits hatte man Angst, dass Teams am Ende der Saison nur noch alte Bremsen haben würden. Bei sinnvollem Laufleistungs-Management wäre das aber kein Problem gewesen. Der Verschleiß der Karbonscheiben ist heute minimal. "Man kann heute ein ganzes 24-Stunden-Rennen ohne Wechsel fahren", weiß Algeri. Auf 100 Kilometer verliert eine Bremsscheibe nur 0,12 Millimeter ihrer Dicke. "Früher waren es Millimeter", so der Brembo-Mann über die Anfänger der Karbon-Bremsen. So bleibt das Bremsgefühl nicht nur konstant, sondern das Material hält zwei Rennwochenenden. Auch bei den Bremssätteln und beim Brake-by-Wire wurden die Laufleistungen erhöht. Lag die Lebenslaufleistung dort bislang bei rund 10.000 Kilometer, sind es heute etwa 15.000 Kilometer.
"Man verliert durch Extra-Gewicht etwas Performance, aber am Ende des Tages braucht man weniger Teile", so Algeri. 'Schwer' sind die Bremsen dadurch auch heute noch nicht. Eine Bremsscheibe wiegt zwischen 1,3 und 1,6 Kilogramm. Eine herkömmliche Guss-Bremsscheibe wiegt fast 15 Kilogramm. Selbst die Keramik-Bremsscheiben, die bei Supersportwagen zum Einsatz kommen, wiegen noch gut sechs Kilogramm. Beim Bremssattel ist die Gewichtsersparnis ebenfalls noch beeindruckend.
In der Serie geht man von mehr als sechs Kilogramm aus. In der Formel 1 reichen 2,0 bis 2,5 Kilogramm, um sogar sechs Kolben unterzubringen. In Zeiten der Budgetobergrenze ist das Extra-Gewicht nicht gleichbedeutend mit Performance-Verlust. Geld-Ersparnis ist ebenfalls Performance, weil anderswo mehr entwickelt werden kann. Und preiswert sind Bremsen nicht gerade. Für eine Karbon-Keramik-Anlage werden bei einem Supersportler schon mal 10.000 Euro extra fällig. Für die Produktion einer Keramik-Scheibe braucht Brembo drei Wochen. Eine Formel-1-Karbonscheibe benötigt zwischen sechs und acht Monaten. Ein Satz Scheiben allein kostet zwischen 20.000 und 30.000 Euro.
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